Fortschritt und komplementäre Rückständigkeit
Viele Schüler identifizierten sich unhinterfragt mit einer als fortschrittlich empfundenen westlichen Kultur und schilderten zudem häufig eine komplementäre Vorstellung von Kulturen der Rückständigkeit. Im Folgenden werden zwei Varianten dieser Vorstellung gegenübergestellt, welche sich zentral hinsichtlich der Bewertung von „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ unterscheiden. Der zunächst dargestellte Jannik sieht Rückständigkeit nicht per se als etwas zu Überwindendes, während Tung es unter Umständen als notwendig erachtet, dem Fortschritt mit militärischen Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen.
Jannik (Gym01) sieht eine global von statten gehende kulturelle Veränderung, wobei er sich in der Bewertung dieser Veränderung recht unsicher ist: „Ein paar Dinge sind halt schon schön. Und wenn die sich verändern wäre das doof. Aber ein paar Dinge kann man auch sich verändern lassen. Hätte ich nichts gegen. Also das ist wieder…/ Da gibt es Vorund Nachteile. So, deswegen. Also ich weiß nicht, was ich da genau von halten kann. Ich sehe es so und so.“ (S. 697 ff.) Bestimmend für seine Vorstellungen von westlicher, insbesondere deutscher Kultur ist nichtsdestotrotz der Begriff „Freiheit“: „Aber auf jeden Fall ist das eine relativ freie Sache gewesen, wenn man das jetzt mit anderen Kulturen vergleicht wo die sich bedecken müssen oder ihre Reize verdecken müssen. Oder wollen. Sagen wir mal wollen, nicht müssen. Dass die Deutschen da eigentlich immer schon relativ frei waren. Und ich denke, dass jetzt auch dieser Trieb zum Freiheitsdenken auch immer weiter kommt. Das heißt die deutsche Kultur verändert sich vielleicht gar nicht so stark.“ Aber andere Kulturen eventuell schon, die jetzt auch denken: „Mhm. Ich kann jetzt mein Ding durchziehen und nicht irgendwie andere Sachen.“ (S. 753 ff.) Diese Vorstellung spiegelt Jannik (er hat eine türkischstämmige Mutter) gedanklich mit der Situation in islamischen Ländern, welche stärker religiös geprägt seien, und überträgt seinen Gedanken des „Triebes zum Freiheitsdenken“ speziell auf die Türkei: „Weil die einfach ganz andere Grundgedanken haben und eine ganz andere Mentalität. Also, ähm, die haben ja auch ganz…/ Also die islamischen Länder, die sehnen sich ja alle ziemlich noch nach den nahöstlichen Ländern. Die halten sich ja so ziemlich daran. Und die westliche Welt…/ Das kann man jetzt auch wieder sagen: Westliche Welt/ Östliche Welt/ Globalisierung und so weiter. Mhm. Ähm, Türkei ist jetzt zum Beispiel ein Beispiel, die wollen sich ja immer weiter an die westliche Welt annähern. ABER man merkt halt immer noch total, dass das ein islamisches Land ist. Also da bin halt auch öfter jetzt mal, ähm, gewesen. Man merkt halt an der Kultur, die sind schon freier als andere islamische Länder, aber halt trotzdem immer noch so ein bisschen… nicht so frei. (…)“ (S. 769 ff.)
Insgesamt stellt er der vorgeblich rückständigen Kultur der Türkei ein Bild des säkularen, vernunftgeleiteten „Westens“ entgegen: „Wir haben halt Gesetze nach Grundgesetzen, würde ich jetzt man sagen, den Human Rights, ich weiß jetzt nicht den Menschenrechten oder halt nach Menschenverstand. Wir haben jetzt keine christlichen Gesetze, wie zum Beispiel…/ Na gut, okay „Du sollst nicht töten“ gibt es im Islam auch. Aber wir haben jetzt…/ Aber da wird das ja auch viel durch den Koran eigentlich, glaube ich schon, als Gesetz auch gegeben. Dementsprechend kann sich das da anders verändern als hier, wenn da andere Grundgedanken in der kompletten Lebensweise sind.“ (S. 777 ff.) Jannik sieht also eine westlich inspirierte Bewegung zu einer freiheitlichen Kultur, die gehemmt wird durch religiöse Prägung, sowie erhaltenswerte Bestandteile ursprünglicher Kulturen, die unter Veränderungsdruck geraten. Seine Bewertung scheint nicht eindeutig zu sein, einerseits beschreibt er sie als Bewegung, als „Trieb zum Freiheitsdenken“, andererseits spricht er von Dingen, die sich nicht ändern sollten, also Erhaltenswertes, das von Veränderung bedroht wird. Seine Vorstellung von Modernität und Rückständigkeit ist wesentlich undeutlicher und widersprüchlicher als die nun folgende von Tung. Tung (Gym17) sieht als Fortschrittshemmnis neben einer starken religiösen Prägung eine grundsätzlich konservative, sich vor Neuerungen fürchtende Neigung der Menschen. Diese führe dazu, dass sich in bestimmten Ländern gewisse Rechte, wie etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter, die er insbesondere in der westlichen Kultur verwirklicht sieht, nur zögerlich etablierten: „Dass sie halt immer sozusagen auf ihren Traditionen oder sonstiges beruhen. Also ich finde, das hilft ja eigentlich nicht. Das stoppt ja mehr. Die ganze menschliche Geschichte beruht erstmal so auf Konservativität und dann jedoch so auf einem liberalen Denken. Also jetzt denken wir grad so über diese ganze Genforschung drüber nach:
„Ja. Das ist irgendwie total unmoralisch.“ Oder so. Und vielleicht später, in 100 Jahren, da braucht jeder so etwas. Das hat man auch früher so gedacht…/ Früher hat man so gedacht: „Tja. Menschenrechte und so?“ Und jetzt ist jeder sozusagen für diese Rechte. Das ist halt immer so, dass man sozusagen erstmal halt konservativ drüber nachdenkt, erstmal auf dem Alten behaart. Und halt mit der Zeit sozusagen kommt der Fortschritt. Und halt in den Ländern, wo halt noch so eine Diktatur herrscht oder so. Die sind, ähm…/ Die nehmen das halt noch nicht an.“ (S. 471 ff.) Hierbei denkt er an die aktuellen Geschehnisse in Nordafrika, bei denen die Bevölkerung sich gegen Rückständigkeit und Unfreiheit zur Wehr setze: „Also die brauchen jetzt halt noch ein wenig länger, bis halt sozusagen die Menschen demonstrieren, eine Revolte starten und dann halt so etwas machen können. Halt wie jetzt halt zum Beispiel schon ein wenig länger in Ägypten oder Syrien. Dass die da halt ihre Diktatoren gestürzt haben. Das hatte ja auch schon, weiß nicht, Frankreich schon vor 300 Jahren oder so gemacht. Französische Revolution und so.“ (S. 488 ff.)
Auf die Frage, ob die Industrieländer die entsprechenden Bevölkerungen bei ihren Revolten unterstützen sollten, antwortet Tung: „Also natürlich sollten sie das machen. Weil man hat ja schon gesehen, dass halt insgesamt für die Allgemeinheit, für die Menschen sozusagen, eine Demokratie besser ist. Und das können natürlich die, die das ja schon wissen – also halt die ganzen Industrienationen – die können das ja vermitteln. Einige ziehen das natürlich auch halt mit Gewalt durch, dass sie halt sozusagen Demonstranten unterstützen. Das finde ich eigentlich auch ganz gut, dass halt zum Beispiel irgendwie die NATO halt in Syrien oder so Ägypten schon irgendwie geholfen hat. Das ist ja…/ Also ich finde, das ist ja auch eine Art von Globalisierung dann halt.“ (S. 515 ff.) Tung stattet die Repräsentanten der Industrieländer mit einer großen Legitimität aus. Diese hätten im Entwicklungswettstreit zwischen konservativen und liberalen Kräften die größere Erfahrung und seien berechtigt, diese auch mit Hilfe von Gewalt auf andere Länder zu übertragen. Auch militärische Interventionen scheinen für ihn in diesem Rahmen gerechtfertigt zu sein. Der Westen, die Industriestaaten, die Länder, die bereits weitgehende Menschenrechte etabliert haben, stehen in seiner Vorstellung Ländern gegenüber, die er als diktatorisch, konservativ oder übertrieben religiös ausgerichtet begreift. Bezüglich der Demokratie in den Industrieländern ist keinerlei Kritik oder Einschränkung ihrer Vorbildfunktion erkennbar. Auch ein erneutes Nachfragen, ob es für die Aktivitäten der NATO andere Beweggründe gebe als die Befreiung von Menschen, oder ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, führt nicht zu einer Relativierung dieser Annahme: „Also, ähm, also hat man ja eigentlich auch schon gesagt, dass glaube ich die NATO sozusagen die Rebellen sozusagen bei ihren Vorhaben unterstützt sozusagen, also die Regierung zu stürzen. Ich weiß nicht. Ich sehe da auch keinen anderen Grund.“ (S. 544 ff.)
Neben dem allgemeinen Merkmal einer dualistischen Sicht auf eine globale Kultur des Fortschritts einerseits und die rückständigen lokalen, traditionsoder religionszentrierten Kulturen andererseits ist auffällig, dass Tung sogar eine militärische Einflussnahme für gerechtfertigt hält. Zwar erwähnt er auch den Effekt des Niederganges lokal gewachsener Kulturen durch die kulturelle Globalisierung, doch im Gegensatz zu vielen anderen, die dies bedauern oder überkommene kulturelle Eigenarten für erhaltungswürdig ansehen, zeigt er sich wenig emphatisch mit der Tatsache ihres Niederganges. Er sieht die Aufgabe der „eigenen Kultur“ als eine bewusste und rationale Entscheidung: „ Außerdem die entscheiden ja selber, ob halt in den Ländern sozusagen die sich verwestlichen. Oder halt sozusagen ihre Kultur ablegen oder halt auch nicht. Das ist halt ihre Entscheidung. Und wenn es halt die Entscheidung ist, dass halt die Mehrheit, keine Ahnung, ihre alte Kultur sozusagen aufgeben, dann ist es halt so. Das sollte…/ Das kann ja jeder alleine entscheiden“ (S. 718 ff.)
Persönlich zeigt er ein ausgeprägtes Verständnis dafür, was kulturelle Veränderungen bedeuten: „Also ich meine ich lebe hier auch und ich muss auch schon sagen, ich bin sozusagen mehr deutsch als vietnamesisch. (…) Das ist so. Ich kann nicht mal meine eigene Sprache [lacht]. Auch ein Teil der Kultur. Und das geht sozusagen praktisch bei mir verloren.“ (S. 739 ff.)