Verfassungsentwicklung und -prinzipien

Die malaysische Verfassungsgeschichte ist geprägt durch den Einfluss des britischen Westminster-Systems. Nachdem sich im Februar 1956 eine handverlesene malaysische Delegation, bestehend aus jeweils vier Repräsentanten der „Alliance“Regierungskoalition und der malaiischen Herrscher, mit den Briten über die Einrichtung einer Verfassungskommission geeinigt hatte (Means 1970, S. 171), bereiste im Sommer des Jahres die sogenannte „Reid Commission“ das Land und sammelte Vorschläge zum Verfassungsentwurf von politischen Organisationen und den Parteien, allen voran den Allianzparteien. Hierbei kam der Kommission zugute, dass viele Streitfragen innerhalb der Allianz im Konsens gelöst werden konnten und ihre Arbeit in der Regierungskoalition hohe Legitimität besaß (Hussain 1986, S. 19). Als ersten Schritt im Ratifizierungsprozess stimmte die Versammlung der malaiischen Herrscher im Juni 1957 einer überarbeiteten Version des Verfassungsentwurfs der „Reid Commission“ zu. Anschließend überarbeiteten die Parteiführer der Allianz den Entwurf und reichten ihn im Parlament ein, das am

15. August 1957 die Unabhängigkeitsverfassung („Merdeka Constitution“) einstimmig annahm (Andaya und Andaya 2001, S. 277; Abdul Aziz Bari 2003, S. 28).

Im internationalen Vergleich ist die malaysische Verfassung umfangreich. Sie gliedert sich in 183 Artikel und 15 Abschnitte und umfasst 13 „Schedules“, die die Bestimmungen der Verfassungsartikel näher erläutern bzw. ergänzen und als Anhang gekennzeichnet sind. Die Verfassung räumt den Grundrechten den Vorrang in der Verfassungsordnung ein (Means 1970, S. 186). Ihnen ist der zweite Abschnitt der Verfassung gewidmet. Nach Abschnitt elf der Verfassung können die in Artikel 5, 9, 10 und 13 verbrieften Grundrechte (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie Freiheit der Person; Freizügigkeit; Rede-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Eigentum) jedoch mit Hilfe der Artikel 149, 150 und 151 massiv eingeschränkt werden (Abdul Aziz Bari 2003, S. 30). Obgleich die Verfassung den Islam als Religion der Föderation bestimmt (Art. 3), garantieren Artikel 11 die Religionsfreiheit und Artikel 4 eine säkulare Staatsordnung.

Besonders detailliert im internationalen Vergleich sind die Ausführungen zur Frage der Staatsbürgerschaft in Abschn. 3 der Verfassungsurkunde, die während der Ausarbeitung des Verfassungstextes umstritten waren. Ebenso kontrovers diskutiert wird bis heute Artikel 153. Er schreibt die Privilegien der Malaien und der indigenen Bevölkerung Sabahs und Sarawaks vor, die diese bei der Besetzung von Positionen im öffentlichen Dienst oder bei der Vergabe von Stipendien genießen und verpflichtet die traditionellen Herrscher und die Gouverneure dazu, diese zu schützen. Weiterhin liefert Artikel 153 die Rechtfertigung für die wirtschaftliche Förderung der Bumiputeras. Daneben legt die Verfassung fest, dass alle ethnischen Malaien von Geburt an automatisch Muslime sind (Art. 160(2)).

Darüber hinaus finden sich in der malaysischen Verfassung Bestimmungen zum wirtschaftlichen Entwicklungsplan des Landes und Regelungen, die das Verhältnis von Bund und Gliedstaaten betreffen. Obwohl Malaysia einen föderalen Staatsaufbau aufweist, liegt das Machtzentrum bei der Zentralregierung. Die Verfassung beschränkt die Gesetzgebungskompetenz der Gliedstaaten auf die Bereiche Landwirtschaft, Bergbau, Forstwirtschaft, Grundund Bodenbesitz sowie das islamische Recht. Die beiden Bundesstaaten Sabah und Sarawak besitzen darüber hinausgehende Kompetenzen in Visaund Bildungsfragen, jedoch sind die Vorgaben des Bundes maßgeblich (Funston 2001, S. 171).

Die Verfassung nennt vier unterschiedliche Verfahren der Verfassungsänderung (Artikel 159, 161E). Im ersten Verfahren bedarf es lediglich einer einfachen Mehrheit im Unterhaus (Dewan Rakyat) und Oberhaus (Dewan Negara) des Parlaments. Diese niedrigen Hürden gelten lediglich für Veränderungen gemäß Artikel 159 Absatz 4. Hierzu zählen Verfassungsänderungen, die beispielsweise die Wahl der Senatoren im Oberhaus oder ergänzende Bestimmungen zum Staatsbürgerrecht betreffen.

Die übrigen drei Verfahren erfordern jeweils im Unterund Oberhaus des malaysischen Parlaments eine Zweidrittelmehrheit. Auf dem zweiten Verfahrensweg bedürfen Verfassungsänderungen, die die Befugnisse der neun malaysischen Herrscher und die Verfassungen der Bundesstaaten, die Rolle des Islams, die herausgehobene Stellung der Malaien und der indigenen Bewohner Sabahs und Sarawaks sowie den Status der malaiischen Sprache als offizieller Landessprache berühren, zusätzlich der Zustimmung der Konferenz der Herrscher (Majlis Raja-Raja, s. u.). Diese setzt sich aus den neun malaysischen Herrschern und den Gouverneuren der vier Bundesstaaten Penang, Malakka, Sabah und Sarawak zusammen. Sollte die Konferenz Verfassungsänderungen, die unmittelbar die Privilegien der traditionellen Herrscher berühren, die Zustimmung verweigern, kann das Parlament jedoch seit 1984 mit einer erneuten Zweidrittelmehrheit die angestrebte Verfassungsänderung in Kraft treten lassen (Lee 1995, S. 33 f.).

Gemäß der dritten Variante ist das Einverständnis der Gouverneure von Sabah und Sarawak bei Verfassungsänderungen einzuholen, die u. a. das Obergericht in Borneo, die Gesetzgebung in beiden Bundesstaaten oder die Rechte der indigenen Bevölkerung Borneos betreffen (Artikel 161E). Das vierte und am häufigsten angewendete Verfahren kommt bei allen anderen Verfassungsänderungen zur Anwendung. Hier bedarf es lediglich der Zweidrittelmehrheit beider Häuser des malaysischen Parlaments. Tatsächlich war dies in der Vergangenheit keine allzu große Hürde, da die Regierungskoalition zwischen 1957 und 2008 fast durchgängig über diese Mehrheit verfügte. Entsprechend groß ist die Zahl der Änderungen: Bis 2007 wurden insgesamt 51 „Amendment Acts“ verabschiedet, die über 675 Einzelbestimmungen betrafen (The Malaysian Bar 2007).

Dies sagt jedoch noch nichts darüber aus, inwieweit der Grundgehalt der Verfassungsurkunde von der Unabhängigkeit bis heute modifiziert wurde, zumal knapp ein Drittel aller Änderungen auf Territorialbestimmungen entfallen, die bei der Einbzw. Ausgliederung Singapurs notwendig waren. Einschneidende Verfassungsänderungen wurden erstmals 1971 vorgenommen. Als Reaktion auf die Unruhen vom Mai 1969 wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung massiv eingeschränkt, indem die öffentliche Diskussion von Fragen der Staatsbürgerschaft, der verfassungsmäßigen Sonderrechte der Malaien und der indigenen Bewohner Borneos, der Landessprache sowie der traditionellen Rechte der malaiischen Herrscher untersagt wurde. Des Weiteren wurde 1988 die Scharia in der Verfassung verankert und die Scharia-Gerichte wurden mit einem eigenen Zuständigkeitsbereich neben den ordentlichen Gerichten ausgestattet. Bestrebungen der chinesischen und indischen Volksgruppen sowie zivilgesellschaftlicher Akteure, jene Bestimmungen zu reformieren, welche die privilegierte Stellung der Malaien festschreiben und schützen, liefen hingegen bislang ins Leere und wurden mit Hilfe der Bestimmungen in Abschn. 11 der Verfassung unterdrückt.

 
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