Denken in Zusammenhängen vs. wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteter Monismus
Zwar stellt der Markt einen sehr dominanten Denkrahmen dar, die Denkweisen der Schüler umfassen allerdings sehr wohl auch andere Facetten. Einen produktiven Ansatzpunkt für die politische und die ökonomische Didaktik kann das weit verbreitete Wissen von und die Empathie mit Arbeitern im Globalen Süden darstellen (vgl. Kap. 5.2.2). Der Markt auf der einen und die Situation dieser Arbeiter auf der anderen Seite stehen in den Denkweisen der Schüler unvermittelt nebeneinander. Statt sie als in Beziehung zueinander stehend und als politisches Problem zu sehen, werden niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen als humanitäres Problem behandelt, dem durch Hilfe, Spenden oder einer an das Gewissen der Unternehmerinnen appellierenden Überzeugungsarbeit begegnet werden sollte. Es wird deutlich, dass Wissen über soziale Missstände und Empathie mit von Ausbeutung Betroffenen nicht automatisch dazu führt, dass Schüler ein Verständnis für übergreifende gesellschaftliche Zusammenhänge und grundlegende gesellschaftliche Interessenskonflikte erlangen.
Die Fähigkeit, in komplexen sozioökonomischen Zusammenhängen zu denken, stellt aber eine Voraussetzung für eine partizipative Perspektive dar. Eine Didaktik, die Schülern ermöglichen will, sich in der komplexen globalisierten Welt zurechtzufinden und daran als Subjekt teilzuhaben, muss hier ansetzen. Eine marktaffine Bildung kann nicht einfach durch Hinweise auf humanitäre Missstände ergänzt werden. Vielmehr muss den Schülern ermöglicht werden, eine über den Markt und seine Gesetze hinausgehende, plurale Perspektive einzunehmen, um einen tragfähigen Begriff von sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln.
Dabei reicht es nicht, diese Begriffe allgemein einzuführen, wie es auch die unternehmernahen Didaktiken tun. Soziale, politische und ökologische Problembereiche müssen aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden – eine ausschließlich ökonomische bzw. betriebswirtschaftliche Sicht reicht hier nicht aus. Ziel von Bildung müsste vielmehr sein, die Schüler in die Lage zu versetzen, die Pluralität der Deutungsmuster nachzuvollziehen und diese in Beziehung zueinander zu setzen. Ihnen eine multiperspektivische Sicht auf das Verhältnis von Wirtschaft und Politik in einer globalisierten Welt zu ermöglichen, ist dabei nicht in erster Linie ein Problem der Komplexität.
In den Interviews wurde deutlich, dass der vorherrschende Bias genau darauf basiert, dass die Gesetze der Marktwirtschaft als absolut und unumstößlich gedacht werden. Obwohl die Aussagen der Schüler sehr facettenreich sind und soziale und ökologische Problembereiche thematisiert werden, bringt sie die Engführung des Ökonomischen dazu, eine von den Menschen und ihrer Entscheidungsmöglichkeiten unabhängige Sphäre anzunehmen: Der Markt – und nicht die Menschen – erscheint als Subjekt der Gesellschaft.
Dabei ist es keineswegs so, dass das Bild des homo oeconomicus im Zentrum des Denkens stehen würde – schließlich sprechen die Schüler viele andere gesellschaftlichen Bereiche mit anderen Handlungslogiken an. Vielmehr erscheint die Isolation des Ökonomischen von anderen gesellschaftlichen Fragen ein zentrales Problem zu sein. Einige Ansätze ökonomischer Didaktik wollen allerdings explizit (Loerwald und Zörner 2007) oder implizit (Kaminski und Eggert 2008) das Bild des homo oeconomicus zum Ausgangspunkt ökonomischer Bildung machen. Die Setzung des homo oeconomicus als Ausgangspunkt ökonomischer Didaktik zielt in seiner Konsequenz gewissermaßen auf eine Verabsolutierung der in den Denkweisen festgestellten Dominanz des Marktes.
Die Analyse der Interviews hat gezeigt, welche Gefahren ein solches vereinseitigendes Denken birgt. Viele Schüler konnten die mehrdimensionalen Aspekte ihrer Sicht auf Prozesse der Globalisierung nicht miteinander in Beziehung setzen. Die als ‚rein' ökonomisch verstandene Ebene wurde von diesen Schülern isoliert gedacht. Fragen nach Teilhabe und gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums werden im Zuge dieser Herangehensweise entkontextualisiert und dabei entpolitisiert, da die als problematisch verstandenen Ungleichheiten nicht auch als Folge von gesellschaftlichen Machtstrukturen wahrgenommen werden.
Statt diese Tendenzen mit einer marktzentrierten Bildung zu verabsolutieren, muss eine demokratisch ausgerichtete Didaktik alternative Denkrahmen anbieten.
Die Isolation des Ökonomischen entspricht auch dem Bild, das im vorherrschenden medialen Diskurs und großen Teilen der Wirtschaftswissenschaften vertreten wird. Hier wird die Wirtschaft als etwas dargestellt, das nach eigenen Gesetzen und „nicht als das Ergebnis des freien und selbstverantwortlichen sozialen Handelns von Menschen“ (Haarmann 2014, S. 190) funktioniert. Mit dem monodisziplinären Verweis auf die Wirtschaftswissenschaften fordern die Befürworter eines isolationistischen Faches Wirtschaft eine Fokussierung auf den „Erwerb ökonomischer Kompetenzen“ (Loerwald und Schröder 2011, S. 9). Vor diesem Hintergrund werden Lernende als kompetent angesehen, wenn sie den „Anforderungssituationen“ entsprechen, „mit denen sie in ökonomischen Kontexten konfrontiert werden (z. B. in ihren Rollen als Konsumenten, Geldanleger, Schuldner, Praktikanten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Wirtschaftsbürger, Wähler)“ (Loerwald und Schröder 2011, S. 9). In diesen Kontexten sollen die Schüler die entsprechenden funktionalen Rollen erfüllen, zu denen diese Strömung der Wirtschaftsdidaktik Erwartungshorizonte formuliert (vgl. Kaminski und Eggert 2008). Der Bildungsbeitrag des Unterrichtsfaches „Politik-Wirtschaft“ würde sich bei einer starren Anwendung weitgehend auf die Weitergabe einiger klar definierter Rollenmuster an die Schülerinnen und Schüler erschöpfen. Diese vereinseitigende Perspektive widerspricht grundsätzlich den normativen Ansprüchen einer an dem Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot orientierten Bildung.
Die Schüler argumentieren wesentlich differenzierter als entsprechend mechanistisch-volkswirtschaftlich ausgerichtete Ansätze, da sie eben auch andere gesellschaftliche Bereiche und normative Bezüge thematisieren. Eine Aufgabe von ökonomischer Didaktik wäre es, genau an dieser Vielschichtigkeit anzuknüpfen und Zusammenhänge herzustellen statt die Verengung ökonomischer Zusammenhänge auf eine rein marktwirtschaftliche Logik zu forcieren.