Ansatzpunkte für die Schaffung von Handlungsfähigkeit
Insbesondere in den Interviews wurde deutlich, dass die Schüler vielfältige Vorstellungen von den Lebensund Arbeitsbedingungen von Menschen im Globalen Süden haben, die von Armut betroffen sind (s. Kapitel Internationale Arbeitsteilung 5.2.1). Viele Schüler zeigen sich sehr empathisch und einige äußern explizit ihre Unzufriedenheit mit den sozialen Folgen der globalen Ungleichheit. Hier kann die Politische Bildung anknüpfen, da diese Bilder in den subjektiven Vorstellungen der Schüler Interesse und Emotionalität hervorrufen. Didaktische Ansätze müssen sich aber dem Problem stellen, dass die festgestellten subjektiven Voraussetzungen der Schüler in der Regel nicht zu einer grundsätzlichen Kritik des Verhältnisses zwischen Globalem Norden und Globalem Süden führen. Viele Schüler, insbesondere Gymnasiasten, stellen zwar den eigenen Konsum in einen Zusammenhang mit der internationalen Arbeitsteilung und diskutieren die eigene Verantwortung beim Einkaufen. Nur in Ausnahmefällen geht die Auseinandersetzung aber über die moralische Frage des individuellen Konsums hinaus. Als weitere Optionen der Gestaltbarkeit des Globalisierungsprozesses wird die Hilfe durch NROs genannt – wiederum von einer Mehrheit der Gymnasiasten. Auf Protest als Mittel der Einflussnahme verweisen nur sehr wenige Schüler. Aber auch die geäußerten Vorstellungen über den Protest zielen ganz überwiegend nicht auf die Infragestellung grundlegender Machtstrukturen, sondern vor allem auf die Einsicht der Machthabenden. Diese sollen durch Protest auf Missstände aufmerksam gemacht werden und von der Notwendigkeit einer humaneren Gestaltung des Globalisierungsprozesses überzeugt werden. Meist wird von den Schülern jedoch die eigene Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit benannt (s. Kapitel Partizipation 5.2.3).
Diese sehr eingeschränkten Perspektiven auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Globalisierung haben gravierende Konsequenzen für die Haltung der Schüler. Die Vorstellungen von der Unausweichlichkeit der Logik der Marktwirtschaft werden so verstärkt. Im Wesentlichen wird die Perspektive auf die beiden Akteure Staat und Markt verengt, wobei ersterer meist darauf reduziert wird, die wirtschaftlichen Kreisläufe – den Markt – zu ermöglichen und unter Umständen leichte Schönheitskorrekturen vorzunehmen (s. Kapitel Politik und Wirtschaft 5.2.2). Der Ansatz des Globalen Lernens setzt hier an und zielt darauf, Lernende in die Lage zu versetzen, die globalen und lokalen Zusammenhänge aus mehreren Perspektiven in den Blick zu nehmen und Gestaltungsmöglichkeiten von Globalisierung zu identifizieren. Riß und Overwien (2010) fordern beispielsweise, politische Bildung müsste versuchen, die „Akzeptanz von vermeintlichen ökonomischen Sachzwängen im Rahmen der Globalisierung durch die Zurückgewinnung des Politischen zu durchbrechen“ (Riß und Overwien 2010, S. 210). Dies gilt allerdings keinesfalls nur für die politische Bildung. Die Ergebnisse dieser Studie legen fächerübergreifende Konzeptionen nahe, die auch im Ansatz des Globalen Lernens favorisiert werden (vgl. Overwien und Rathenow 2009b).
Um der festgestellten Perspektivverengung in den Vorstellungen der Schüler entgegenzuwirken, müssen die Befähigung zur Entwicklung von politischen Urteilen und die Anregung zu politischem Handeln angestrebt werden. Ausgehend von der festgestellten Empathie und dem vorhandenen Gefühl für (Un-)Gerechtigkeit sollten didaktische Konzepte im Sinne des Globalen Lernens einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, das heißt, nicht nur kognitive, sondern auch emotionale und soziale Kompetenzen im Blick haben. Dies beinhaltet die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, und gesellschaftliche Probleme sowie das eigene Handeln in einem globalen Wirkungszusammenhang zu erkennen und möglicherweise Wege zu finden, im lokalen oder globalen Rahmen Formen von Solidarität zu entwickeln (vgl. Riß und Overwien 2010, S. 210). Ohne Handlungsoptionen werden die Vorstellungen der Schüler von Globalisierung – entsprechend der gesellschaftlich und insbesondere medial herrschenden Vorstellungen – in einer verengten und entpolitisierten Perspektive verbleiben.
Es stellt sich die Frage, wie dem Fehlen von eigenen Handlungsoptionen – abgesehen von der individuell-konsumptiven Ebene, die die Schüler ausschließlich als Teilnehmende im Rahmen der Marktwirtschaft ermächtigt – didaktisch begegnet werden sollte. In den letzten Jahren wurden mehrere Studien zum Thema Globales Lernen durchgeführt, wobei bisher kaum bildungswissenschaftliche Forschung in diesem Feld zu verzeichnen ist (vgl. Asbrand 2009, S. 25). Die durchgeführten Studien legen einen Fokus auf die Handlungsfähigkeit der Lernenden. Wir werden im Folgenden kurz darauf eingehen, um die Ergebnisse mit den Befunden dieser Studie in Beziehung zu setzen.
In der Studie von Asbrand (2009) wurden Gruppendiskussionen mit Jugendlichen zu globalen Fragen durchgeführt und dokumentarisch interpretiert. Die Studie von Wolfensberger (2008) wertet Unterrichtsgespräche zu ‚socio-scientific issues' inhaltsanalytisch aus. Anhand von videound audiographierten Unterrichtseinheiten befasst sich die Studie von Wettstädt (2013) mit Themen des Lernbereichs Globale Entwicklung. Alle drei Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Schüler – im Zuge der appellierenden Interventionen der Lehrkräfte – die Leitbilder ‚Nachhaltigkeit' und ‚Globale Gerechtigkeit' zwar reproduzieren, dabei jedoch nicht in die Lage versetzt werden, diese handlungsleitend umzusetzen.
Asbrand (2009) sieht drei Modi der Schüler, das eigene Nicht-Handeln zu legitimieren. 1) Moralische Appelle werden mit Hilfe von Entschuldigungen zurückgewiesen – „ich kaufe nicht selbst ein“. 2) Die Schüler schätzen die Risiken eigenen Handelns zu hoch ein. Der Erfolg des Handelns und die Nebenfolgen seien nicht abschätzbar. 3) Die eigene Verantwortung wird an (vermeintlich) mächtige Akteure wie beispielsweise Politiker delegiert. Als zentralen Lösungsweg für die Entwicklung von Handlungsfähigkeit sieht Asbrand vor allem Strategien der Komplexitätsreduzierung und die Schaffung von Kompetenzen im Umgang mit Ungewissheit (Asbrand 2009) Dies wird auch im Orientierungsrahmen 2007 als Kernkompetenz formuliert (BMZ und KMK 2007, S. 78) Wettstädt (2013) geht der Frage nach, wie Schüler mit Handlungsaufforderungen umgehen. Sie kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass Lehrende Schüler nicht durch moralische Appelle handlungsfähig machen können, da nur die leere Hülle des normativen Leitbilds reproduziert würde. Sie warnt auch vor der Gefahr der Überwältigung und schlägt vor, nicht konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, sondern den Umgang mit Ungewissheit einüben, Chancen und Grenzen von Handlungsoptionen zum Thema machen und die Frage danach zu stellen, warum ethisch verantwortungsvolles Handeln angesichts globaler Probleme so schwierig zu realisieren ist. Inhalte und Positionen sollten kontrovers und vielfältig thematisiert werden – und zwar in Ko-Konstruktionsprozessen zur Aneignung von Wissen, in denen die Schüler zur Entwicklung eigener Ideen und zur Reflexion über eigene Fragestellung angeregt werden. Handeln würde so nicht delegiert, sondern könnte von den Schülern konkretisiert, erprobt und bewertet werden (vgl. Wettstädt und Asbrand 2014).
Die Befunde der dargestellten Studien geben wichtige didaktische Hinweise in Bezug auf die Entwicklung von gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit. Obwohl ein entscheidender Unterschied zu unserer Studie darin besteht, dass der analytische Blick auf Unterrichtsumsetzung und nicht auf Vorstellungsforschung als Lernvoraussetzung zielt, sind viele Befunde für diesen Aspekt deckungsgleich. Insbesondere der Fokus auf Lehr-Lern-Situationen, die Raum für eigene Ideenentwicklung und das Ausprobieren eigener Handlungsoptionen bieten, erscheint für die didaktische Form relevant, die auf die Entwicklung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit abzielt. Allerdings liefern diese Studien wenig inhaltliche Ansatzpunkte, an der sich didaktische Konzeptionen orientieren können. Asbrand (2009) hat eine Didaktik des Globalen Lernens im Blick, die „ethisches und politisches Lernen ermöglicht, ohne bestimmte ethisch-moralische oder politische Positionen zu vermitteln“ (Asbrand 2009, S. 25). Dafür fordert sie eine „theoretische Präzisierung der Kompetenzen Globalen Lernens“ (Asbrand 2009, S. 25). Der Versuch, gesellschaftspolitische Ambivalenzen durch die Fokussierung auf den Kompetenzbegriff für die Didaktik zu neutralisieren, erscheint allerdings problematisch. Wenn die „Zurückgewinnung des Politischen“ (Riß und Overwien 2010, S. 210) ein zentrales Ziel von Ansätzen Globalen Lernens sein soll, ist die inhaltliche Auseinandersetzung und Positionierung von entscheidender Bedeutung. Beispielsweise richtet sich eine von den Lehrkräften in der Studie von Wettstädt (2013) oft angeführte Handlungsaufforderung an die Schüler als Konsumierende. Dieser auch in den von uns festgestellten Vorstellungen der Schüler dominante Akteurstyp rückt dabei die Frage nach alternativen Entscheidungsund Vergesellschaftungsmöglichkeiten aus dem Blick und unterstützt die sowieso vorhandenen Tendenz, den Markt als Orientierungsrahmen gesellschaftlichen Handelns zu zementieren. Eine Fokussierung des didaktischen Problems auf Komplexitätsreduktion und Kompetenzen im Umgang mit Unsicherheit (vgl. Asbrand 2009) birgt so die Gefahr einer inhaltlichen Reduktion. Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, dass die Didaktik sich grundlegend mit der Frage des Politischen in der Gesellschaft (s. Kap. 6.1) und mit den konkreten ideologischen Formen – beispielsweise in den Schülervorstellungen zu globaler Ungleichheit – auseinandersetzt.
Vorstellungen zum Verhältnis vom Globalen Süden und Globalen Norden Für didaktische Konzeptionen, die Fragen des Globalen Lernens in den Blick nehmen, bieten die empirischen Befunde dieser Studie zahlreiche Hinweise in Bezug auf Vorstellungen über die Beziehung zwischen Globalem Süden und Globalem Norden. In den Interviews konnten zahlreiche Argumentationen identifiziert werden, mit denen die Schüler sich die globale Ungleichheit erklären (s. Kapitel Internationale Arbeitsteilung 5.2.1). Die vielfältigen Erklärungsansätze wurden in der Analyse in entwicklungstheoretische und dependenztheoretische differenziert. Unter dependenztheoretischen Ansätzen haben wir alle Erklärungsansätze globaler Ungleichheit gefasst, die entweder die Geschichte der Ausbeutung durch Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus als Ursache berücksichtigen oder gegenwärtige ökonomische Hierarchien, Abhängigkeiten und strukturelle Benachteiligungen auf dem Weltmarkt zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden benennen. Unter entwicklungstheoretischen Erklärungsansätzen verstehen wir alle Argumente, die diese Dimension nicht beinhalten und stattdessen die Ursache globaler Ungleichheiten in endogenen Entwicklungsdefiziten bzw. –rückständigkeiten sehen. Eine entscheidende Rolle für das mangelnde Wissen über Machtund Ausbeutungsstrukturen in globalen Zusammenhängen spielt die Dominanz der entwicklungstheoretischen Ansätze, die in 36 von 44 Interviews vorzufinden waren. Drei Hauptschüler und vier Gymnasiasten können sich die globale Ungleichheit nicht erklären. Sechs Gymnasiasten und drei Hauptschüler führen dependenztheoretische Erklärungsansätze an, die aber bis auf eine Ausnahme mit entwicklungstheoretischen Ansätzen vermengt werden. Es findet sich im Sample also nur ein Schüler, der Erklärungsansätze für die globale Ungleichheit formuliert, ohne dabei entwicklungstheoretisch ausgerichtete Momente zu verwenden.
Innerhalb der entwicklungstheoretischen Erklärungsansätze für die globale Ungleichheit ist der staatsdefizitäre Ansatz am häufigsten anzutreffen. Es wird davon ausgegangen, dass die Ursache globaler Ungleichheit im politischen System der Länder des Globalen Südens zu finden sei. Ein Aspekt stellt hier beispielsweise das Bild der vermeintlich ‚immer noch' herrschenden Despotie in den Ländern des Globalen Südens dar. Neben dem staatsdefizitären Erklärungsansatz für globale Ungleichheit konnten bei den Schülern evolutionistische, biopolitische, kulturalistische, klimatheoretische, entwicklungspolitische und tautologische Ansätze festgestellt werden. Tautotologische und entwicklungspolitische Ansätze sind zwar nicht im engeren Sinne entwicklungstheoretisch. Der Grund für die Zuordnung der tautologischen und entwicklungspolitischen Ansätze zu den entwicklungstheoretischen ist, dass hier ebenfalls Machtdimensionen systematisch ausgeblendet werden. Als tautologisch verstehen wir Erklärungsansätze, die beispielsweise die Armut damit begründen, dass die Menschen im Globalen Süden zu wenig Arbeit hätten und anders herum das Fehlen von Arbeit mit der dort herrschenden Armut begründen. Auch entwicklungspolitische Ansätze liefern zwar nicht explizit eine Erklärung für die globale Ungleichheit. Stattdessen verorten sie aber die Lösung eindeutig in einer tendenziell paternalistisch gedachten Hilfe des Globalen Nordens.
Diese sieben Erklärungsansätze für globale Ungleichheit tauchen selten isoliert auf. Vielmehr werden diese Erklärungsansätze von den Schülern in verschiedener Weise kombiniert. Diese Fragmente werden so in verschiedenen Varianten zu entwicklungstheoretischen Erklärungsansätzen globaler Ungleichheit zusammengefügt. Das analytische Gesamtbild der dominanten entwicklungstheoretischen Erklärungsansätze wird dadurch verstärkt, dass die Aussagen der Schüler durch Ausdrücke wie „noch nicht so weit“, „rückständig“, „Entwicklung“, „die da unten“ etc. durchzogen sind.
Der Dominanz entwicklungstheoretischer Ansätze steht nur eine Minderheit von dependenztheoretischen gegenüber. In diesen verweisen die Schüler auf die Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus, sowie gegenwärtige strukturelle Benachteiligungen des Globalen Südens auf dem Weltmarkt. Diese Erklärungsansätze für globale Ungleichheit gilt es als Anknüpfungspunkte für didaktische Konzeptionen ernst zu nehmen. Die festgestellte Dominanz der entwicklungstheoretischen Erklärungsansätze macht es einerseits notwendig, diese mit den Lernenden zu problematisieren, andererseits sollten die bereits bei einzelnen Schülern vorhandenen alternativen Deutungsmuster insgesamt zugänglich gemacht werden.