Das klassische Konzept der Lebensweltorientierung nach Thiersch

Wenn in der Sozialen Arbeit vom Paradigma der „Lebensweltorientierung“ die Rede ist, ist es in der Regel ein auf Husserl fußender Begriff in der Erweiterung von Schütz, Luckmann und Thiersch. Die Rezeption von Habermas Theorie des kommunikativen Handelns erfolgte eher im Hinblick auf seine Gesellschaftstheorie, die darin enthaltene Krisenanalyse, sowie die Kolonialisierungsthese. Hiermit verbunden war eine theoretische Selbstverortung Sozialer Arbeit als Instanz, die als Teil einer staatlichen Steuerungsstrategie auf die symbolische Reproduktion von Lebenswelten Einfluss nimmt und zugleich als kritisch-reflektierte Profession Kolonialisierungen systematisch zu unterlassen trachtet (vgl. Müller und Otto 1986; May 2009, S. 52).

Der Ausgangspunkt von Thierschs Konzept einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit besteht in einer Verbindung des phänomenologisch-interaktionistischen Ansatzes mit der hermeneutisch pragmatischen Traditionslinie der Erziehungswissenschaft. Es beansprucht diese Tradition jedoch „im Kontext der kritischen Alltagstheorie“ zu reformulieren „und auf heutige sozialpädagogische Fragestellungen“ zu beziehen (Thiersch et al. 2002, S. 168). Dadurch wird Soziale Arbeit, über die Hilfe in sozialen Notlagen hinaus, zu einem “Strang innerhalb der modernen Sozialisations- und Therapiegesellschaft”, die “ihre Funktion und Bedeutung neben anderen Formen moderner Lebensbewältigung gewinnt.” (Thiersch 1992,

S. 18). Sie weitet sich, über ihre ursprüngliche Randgruppenklientel, aus zu einer lebensweltorientierten Hilfe zur Lebensbewältigung. Eine solche Orientierung grenzt sich grundsätzlich ab von traditionell paternalistischen Handlungskonzepten. Sie hält Distanz zu professionellen Problemdeutungsmustern, zu Pathologisierungen, Hierarchisierungen und Defizitorientierungen, indem sie die Deutungs- und Handlungsmuster der AdressatInnen zum Ausgangspunkt professionellen Handelns erklärt und darauf abzielt, deren autonome Lebenspraxis durch unterschiedlichste Formen von Hilfearrangements zu ermöglichen. Hiermit verbunden sind eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen innerhalb seiner Verhältnisse und ein starker Sozialraumbezug.

Laut Thiersch und Grundwald ergeben sich hieraus, zusammengefasst, folgende Aufgaben und Strukturen einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Ihre Leitorientierung ist Respekt und Destruktion: Respekt vor dem Eigensinn von Lebenswelten, aber auch die Bereitschaft zu deren Destruktion im Namen ihrer anderen Möglichkeiten und der darin angelegten Optionen. Beschrieben ist somit eine Pendelbewegung zwischen der Fähigkeit, sich auf die vorgegebenen Realität engagiert einzulassen, sie in ihrer Eigengesetzlichkeit zu akzeptieren und dem Vermögen zu kritischer Reflexion, um aus einer gewissen Distanz weitere Verstehensmöglichkeiten der Situation unter Bezug auf unterschiedlichste wissenschaftliche Konzepte in Betracht zu ziehen. Der Respekt muss hierbei gegen die schwer wiegende Tradition sozialer Arbeit (fürsorgliche Belagerung) durchgesetzt werden. Destruktionsbzw. Dekonstruktionsbereitschaft muss gegen die Versuchung durchgesetzt werden, das Gegebene als unabänderlich zu sehen. Dies ist konkretisiert in den Strukturmaximen: Prävention, Alltagsnähe, Integration, Partizipation, Dezentralisierung, Vernetzung. Jegliche Diagnose und Indikationsstellung muss verstanden werden als Verstehen der Situation des Menschen in Verhältnissen und den darin enthaltenen Ressourcen. Das Gefüge der sozialarbeiterischen Institutionen muss bestimmt sein vom Bedarf der Adressatinnen und Adressaten der Hilfen. Als professionelles Handlungsmuster der Fachkräfte gilt die strukturierte Offenheit, verbunden mit „Verhandlung“ als dem Medium pädagogischen Handelns, so dass die AdressatInnen der Hilfe „vorkommen“, ernst genommen und akzeptiert werden. Das heißt verdichtet: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist als kritisches und normatives Konzept zu verstehen, das die Reflexion gesellschaftlicher, institutioneller und professioneller Strukturen und die professionelle Selbstreflexion der eigenen Person verbindet, mit der Achtung vor dem gelebten Alltag der Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit, dem Respekt vor ihrem Leben mit seiner unmittelbaren, alltagsweltlichen Erfahrung. So formuliert verfolgt es damit auch kein anderes Ziel als das Konzept der Lebensbewältigung. „Im disziplinären Diskurs weisen die sozialpädagogischen Paradigmen vom gegebenen und gelingenderen Alltag (Thiersch) und von regressiven und offenen Milieus der Lebensbewältigung (Böhnisch) in eine ähnliche Richtung“ (Böhnisch et al. 2005, S. 18).

Zusammenfassung

Der Eigensinn Sozialer Arbeit besteht in einem multiperspektivischen Zugang zur Realität. In Wissenschaft und professioneller Praxis integriert sie in eigener Weise verschiedene Perspektiven auf die Realität von Menschen zu ihrer eigenen Forschungs- und Praxisperspektive. Mit den in der Sozialen Arbeit inzwischen ausgearbeiteten Begriffen Lebenswelt, Alltag und Lebenslage hat sich diese Abkehr von der expertokratischen Monoperspektive konzeptionell verankert und etabliert, mit weiter gehenden Auswirkungen. Nachdem in der Geschichte der Sozialen Arbeit zunächst der „gesunde Menschenverstand des Bürgers“ und später der „Experte“ das Monopol auf die Problemdeutung und die Entscheidung für die Intervention innehatte, geht dies nun an „Kooperationsverfahren“ über, unter Einbezug der Hilfsadressatinnen (vgl. Uhlendorf 2005, S. 524 ff). Die Problemdeutung liegt nicht mehr beim Vorwegurteil des Professionellen, wohl aber die Verantwortung für einen Verstehensprozess, der von sich weg zum Anderen führen muss und so die Frage klärt, wer welches Problem hat und was aus fachlicher Sicht zu tun ist.

 
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