Der handelnde Mensch als Bezugspunkt sozialpädagogischer Verstehensbemühungen
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass sich Soziale Arbeit auf Menschen als Handelnde bezieht. Nach Hannah Arendt sind Sprechen und Handeln, die sie analytisch trennt, „die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. …Kein Mensch kann des Sprechens und des Handelns ganz und gar entraten…. Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden und die Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen“ (Arendt 2007, S. 214 f.). Wenn man nun Sprechen, als „kommunikatives Handeln“ ebenfalls dem Handeln zuordnet, ließe sich formulieren: der Mensch konstituiert sich als Handelnder und ist nur als ein in die Welt hinein Handelnder denkbar. In seinem Streben nach Wohlbefinden und Zufriedenheit hat er zugleich als Handelnder permanent „Situationen zu bewältigen“ (vgl. Habermas 1981; II, S. 204). Professionelle Soziale Arbeit reagiert auf einen hierbei entstehenden Hilfe- und Unterstützungsbedarf. Dieser ergibt sich aus einer Diskrepanz zwischen dem Handlungsziel der Menschen und real erzielten (oder absehbaren) Handlungseffekten, bzw. aus fortgesetzten Bedürfnisspannungen (vgl. Obrecht 2011). Nahezu alle Arten der sozialarbeiterischen Erziehungs-, Bildungs-, Eingliederungs- und Notlagenhilfe lassen sich hierunter subsumieren. Das Verständnis von Sozialer Arbeit als „Bewältigungshilfe“ kann als ein zentrales Paradigma der modernen Sozialen Arbeit verstanden werden (vgl. Böhnisch 2002, S. 199 ff.).
In Bezug auf diese Menschen, deren Handeln auf eigensinnige Ziele gerichtet ist und die zu Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit werden, benötigen die Fachkräfte ein ausreichend komplexes Handlungsentstehungsbzw. Handlungsereignungsverstehen. Notwendig sind daher ein Begriff vom Handeln, sowie eine Klarheit über Bedingungen des Zustandekommens konkreten menschlichen Handelns, unter Einschluss des theoretischen Wissens, dass in der Sozialen Arbeit hierzu vorgehalten wird. Dieses theoretische Handlungsverständnis sollte aber ausreichend komplex sein und, ausgearbeitet als Handlungsmodell, die verschiedenen Ebenen integrieren, deren Zusammenhang für die praktische Soziale Arbeit von großer Bedeutung ist: die gesellschaftliche Strukturoder auch Makroebene, sowie die individuelle Handlungs- und Erlebnisebene oder auch Mikroebene. Mit deren Zusammenführung würde nicht nur dem in der Sozialen Arbeit weit verbreiteten und konzeptionell ausgearbeiteten Verständnis von „Person-in-Umwelt-Modellen“ entsprochen, die die Situation des Menschen grundlegend als die Auseinandersetzung eines Subjekts mit seinen Lebensumständen beschreiben. Dieter Röh schlägt zudem vor, mit deren Verbindung zugleich den Zusammenhang von Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu klären, über einen solchen Zusammenhang also zu einer allgemeinen Theoriebasis der Sozialen Arbeit zu gelangen.[1]
Gleichwohl erheben die folgenden Ausführungen nicht den Anspruch der Grundlegung einer allgemeinen Theorie der Sozialen Arbeit. Vielmehr geht es ihnen um eine sozialwissenschaftliche Modellierung menschlichen Handelns, die in die Perspektive der sozialpädagogischen Anwendung eingerückt wird und dem Zweck dient, über den Gegenstand sozialarbeiterischer Verstehensbemühungen genauer aufzuklären. Diese erfolgt mit Bezug auf klassisch soziologische Vorarbeiten und unter Einschluss von Termini, die in der wissenschaftlichen Sozialen Arbeit verbreitet sind.
- [1] Er bestimmt die Makroebene als „Existenz“ und die Mikroebene als „Essenz“. Beide könnten „als zusammengehörige Teile der Wirklichkeit gleichermaßen als Gegenstandsbereiche der Sozialen Arbeit verstanden werden. In einem ersten Zugriff wäre daher die „Existenz“ des Lebens sozialarbeiterisch und die „Essenz“ des Lebens sozialpädagogisch zu bearbeiten“ (Röh 2009, S. 202). Sowohl die sozioökonomische und sozioökologische Intervention (Sozialarbeit) als auch Interventionen, die über Bildung, Erziehung und Therapie auf individuelle Handlungsmuster der Menschen gerichtet sind (Sozialpädagogik) ließen sich hierdurch vereinen – und dadurch auch professionelle Selbstbeschreibungen entwickeln, die ihren Fokus gerade auf die Verbindungen zwischen beiden Ebenen legen, statt sich über die Fixierung auf die jeweiligen Pole „Subjekt“ und „Gesellschaft“ fortgesetzt auseinander zu dividieren (vgl. Röh 2009, hier auch Kessl 2008).