Die Lebenslage

Als zweiter gesellschaftlicher Handlungskontext werden sodann sozial-materielle Kräfte thematisiert, die das Handeln von Akteurinnen von außen ermöglichen bzw. begrenzen und kontrollieren. Sie sollen im hier reflektierten Zusammenhang als

„Lebenslagen“ verstanden werden und sind mit ihren Restriktions- und Ermöglichungseffekten bedeutsam. Die Lebenslage ist ein, von der Lebenswelt analytisch unterschiedener, zweiter Sozialraum, den Menschen „bewohnen“, ebenfalls zu verorten auf der Makroebene. zu verorten auf der Makroebene. Während der Raum der Lebenswelt das Ergebnis von kommunikativem Handeln ist, sich in kommunikativem Handeln konstituiert, so ist die Lebenslage das Ergebnis von materiellem Handeln (bzw. von Arbeit im Sinne von Marx bzw. von Herstellung und – eingeschränkt – Handeln im Sinne von Arendt). Die Ausstattungen der Lebenslage sind somit als Restriktions- und Möglichkeitenkontext von Bedeutung.

Der Begriff Lebenslage ist in der Soziologie sehr alt. Mit Friedrich Engels und Max Weber beschäftigten sich zwei Klassiker der Soziologie bereits im 19. Jahrhundert mit der Analyse von Lebenslagen: Engels mit seinem Werk zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“, erschienen 1845 (Engels 1972), sowie Weber mit seinem Werk „Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter“, erschienen 1894 (Weber 1988). Gleichwohl ist der Begriff als eigenständiger Fachbegriff wenig entwickelt und in klassischen Wörterbüchern der Soziologie und Sozialen Arbeit nicht selbstverständlich enthalten (vgl. Hillman 1994; Kreft und Mielenz 2005). Im Sinne eines Ansatzes wurde Lebenslage zunächst von Otto Neurath entwickelt, dann von Kurt Grelling und Gerhard Weisser aufgenommen und schließlich von Ingeborg Nahnsen rekonzeptualisiert (vgl. zusammenfassend Voges et al. 2003). Im bekannteren Ansatz von Weisser wird Lebenslage als Handlungsspielraum begriffen, den die äußeren Umstände für die Befriedigung der menschlichen Interessen bereitstellen (Weisser 1956). Nahnsen erweitert sodann diesen Ansatz, um die Thematisierung der Möglichkeitsbedingungen für die Entfaltung entsprechender Grundanliegen. Ihr Lebenslagenansatz thematisiert daher zusätzlich die sozial strukturierten Bedingungen der Bewusstwerdung von Interessen und damit die „Lebensgesamtchancen“ (Nahnsen 1992). Ihre Unterscheidung der Dimensionen „Versorgung und Einkommen“, „Kontakt und Kommunikation“,

„Lern- und Erfahrungsräume“, „Dispositionsspielräume“ sind von großer Bedeutung für die Präzisierung des Begriffs (vgl. Nahnsen 1975). Neben verschiedenen grundsätzlichen Beiträgen zum Lebenslagenbegriff (z. B. Hradil 2001; Döring et al. 1990) gibt es verschiedene konzeptionelle Anwendungen, insbesondere auch im Bereich der Sozialen Arbeit. Prominent ist der, zu einem komplexen Handlungskonzept entwickelte, Lebenslageansatz von Lothar Böhnisch, der mit Lebenslage die „Handlungsspielräume individueller Lebensgestaltung“ thematisiert, die im Zusammenhang mit den sozialökonomischen Vergesellschaftungsbedingungen betrachtet werden und mit der Subjektperspektive immer auch eine Mikroperspektive enthalten (vgl. Böhnisch 1982). Die verschiedenen soziologischen Ansätze resümierend, kommen Wolfgang Voges und weitere zu dem Schluss, dass letztendlich sozialstrukturelle Tatbestände bedeutsam sind, „die für die einengende und erweiternde Ausprägung individueller Interessen und deren Umsetzung von zentraler Bedeutung sind“ (Voges et al. 2003, S. 43). Durch die Integration des Strukturmodells von Esser entwerfen die Autoren schließlich ein Modell für die Analyse von Lebenslage, dass sowohl auf der Makroebene zu verortende Dimensionen, wie strukturelle Opportunitäten und Constrains, Sozialpolitik, Arbeitsmarkt und Milieu, integriert, als auch individuelle Ressourcen und Kapitalien i.S.v. Bourdieu auf der Mikroebene. Sie überwinden damit die Differenzierung zwischen den Dimensionen objektiv/subjektiv, sowie zwischen materiell/immateriell, sowie zwischen den Kategorien Ursache/Wirkung. In Anlehnung an das bekannte Badewannenmodell von Colemann entfalten sie so ein „dynamisches Modell der Wechselwirkungen zwischen strukturellen Bedingungen und individuellem Handeln“ (Voges et al. 2003, S. 53).

Die analytischen Kategorien, des hier verwendeten Lebenslagebegriffes, beharren auf der Differenzierung der Ebenen und operationalisieren Lebenslage als Teil eines Mehr-Ebenen-Handlungsmodells. Lebenslage ist somit auf der Makroebene verortet und für die Akteurinnen ein Kontext, der ihr Handeln rahmt und ihre Handlungsspielräume beschreibbar macht. Durch diese Differenzierung der Ebenen und ihrer Verknüpfung über ein Framekonzept zu einem Gesamtmodell, erscheint ein größeres Maß an Klarheit im Hinblick auf Wirkungszusammenhänge möglich. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Modellansätze werden als Komponenten der Lebenslagen Sozialstruktur und Infrastruktur unterschieden.

Als Sozialstruktur werden Restriktionen/Möglichkeiten betrachtet, die als ökonomisches und kulturelles Kapital wirksam werden, entsprechend den Ausarbeitungen von Bourdieu (vgl. 1985, 1982), sowie Recht. Ökonomisches Kapital ist jenes, das unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar ist und in dieser Warenform wiederum im Tauschvorgang zum Äquivalent aller Waren werden kann. Sein Vorhandensein bzw. seine Abwesenheit wird als Handlungsspielraum erfahrbar, der makrosoziologisch als Sozialstruktur zu verstehen ist. Kulturelles Kapital ist, in seiner inkorporierten Form, Resultat kommunikativen Handelns und daher im Kontext der Lebenswelt verortet. Als objektiviertes, sowie institutionalisiertes Kapital ist es aber als Sozialstruktur zu verstehen: die Ausstattung mit vergegenständlichter Kultur (wie Bücher, Instrumente, Kunstgegenständen, Maschinen), sowie mit institutionalisierter Kultur (wie Bildungstiteln) sind Ressourcen, die in ihrer Entstehung und Erhaltung auf der Makroebene verortet werden müssen und als (nicht) zur Verfügung stehende Ressourcen Restriktionen darstellen bzw. Möglichkeiten eröffnen. Mit Recht werden hier gesellschaftlich vorhandene Regeln erfasst, die durch Rechtssetzung allgemeinverbindlich gemacht worden sind (vgl. Honneth 2003, S. 165). Sie sind sowohl im Sinne von „Ermöglichungen“ erfahrbar, insofern sie den Zugang zu Ressourcen absichern und damit Handlungsspielräume eröffnen. Sie sind zudem als Restriktionen beschreibbar, insofern sie restriktiv Handlungsentscheidungen normieren und ihre Einhaltung durch Sanktionsdrohungen abzusichern versuchen.

Als Infrastruktur werden sozialräumliche Gegebenheiten und zur Verfügung stehende Unterstützungen analysiert, die als Ressourcen wirksam werden, zugleich jene Gegebenheiten, die als soziale Barrieren die Teilhabe von Menschen behindern (vgl. zu Barrieren: Bruhn und Homann 2009). Hierzu gehören als Ressourcen jene sozialökonomischen Voraussetzungen für die berufliche Betätigung und die damit verbundene Absicherung des eigenen Lebensunterhaltes, ebenso die Ausstattung mit Waren zur Befriedigung des persönlichen Bedarfs an materiellen Gütern, zudem alle Arten professionell erbrachter Dienstleistungen, auf die Zugriff besteht, insbesondere Erziehungs-, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsdienste, Kultur- und Freizeitangebote, sowie alle Arten von Informations- und Beratungsangeboten. Hierzu gehören alle Arten von Hilfestellungen, Unterstützungen und Assistenzleistungen, die im jeweiligen Sozialraum durch andere Menschen informell bereitgestellt werden (soziales Kapital). Hierzu gehören schließlich die baulichen und technischen Ausstattungen und Instrumente, die wirksam sind im Hinblick auf erfahrbare Lebensqualität, insbesondere die Wohnqualität, Mobilitätsmöglichkeiten und Zugriff auf Informationstechnologie. Hierzu gehören schließlich die Möglichkeiten der Mitbestimmung an der Gestaltung des eigenen Sozialraumes durch politisches, soziales und kulturelles Engagement. Die Abwesenheit dieser Ressourcen wird als Restriktion beschreibbar, ebenso aber das Vorhandensein solcher Gegebenheiten, die – entsprechend der Forschungsperspektive der Disability Studies – als Barrieren bzw. Behinderungen die Teilhabe von Menschen systematisch behindern (vgl. Waldschmidt und Schneider 2007).

Exkurs zum Faktor Natur: Als ein Teilaspekt der Infrastruktur soll an dieser Stelle auf „Natur“ verwiesen werden, die in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, wie auch in der Theorie der Sozialen Arbeit, nur am Rande Beachtung findet und wenig ausgearbeitet ist. Zugleich hat sie aber in der praktischen Sozialen Arbeit eine Bedeutung (z. B. als Raum und Medium für Lernprozesse allgemein im Kindesalter) (vgl. Kahn und Kellert 2002; Gebhard 2009; Weber 2011), sowie speziell in Konzepten der Erlebnispädagogik und der medizinischen Rehabilitation. Natur wird hierbei klassisch verstanden als organische und anorganische Erscheinungen, die zwar vom Menschen kultiviert werden, aber auch ohne sein Zutun bestehen. Entsprechend der Vorstellung, mit der Lebenslage im sozialpädagogischen Zusammenhang auch Lern-, Erfahrungs- und Dispositionsspielräume zu erfassen, bedarf es einer Integration der menschlichen Naturerfahrung in die Analyse von wirksam werdenden Handlungskontexten. Denn die Art der Erfahrung von Natur nimmt Einfluss auf menschliche Handlungsrationalitäten, auf Lernerfahrungen, bio-psychische Befindlichkeiten und sie ist ein bekannter Faktor für Genesungs- und Erkrankungsprozesse. Der Zugang zur Natur und die sich sodann vollziehende Erfahrung von Natur machen einen Unterschied. Dieser erfolgt über die Sinne, über Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten und ist wirksam, nachweislich in seiner unmittelbaren Auswirkung auf körperliche und seelische Befindlichkeiten und für die Entwicklung von aufwachsenden Kindern und Jugendlichen (vgl. Beyersdorf et al. 1998; Kahn und Kellert 2002). Insbesondere Landschaften, deren Natursubstanz nur wenig technisch verändert wurde (frische Luft und Ruhe) und die frei sind von Bauwerken, also eine visuelle Erfahrung von organischem Leben und Naturfarben ermöglichen, werden entlastende und regenerative Wirkung zugesprochen. Erholung von der Last des Arbeitsalltags verbindet sich seit Beginn der Industrialisierung mit dem Zugriff auf solche naturnahen Räume der Erholung und war im großstädtischen Zusammenhang immer auch ein umkämpftes Privileg des Bürgertums, sowohl im Hinblick auf das alltägliche Wohnumfeld, wie auch auf die Urlaubsmöglichkeiten. Die Schrebergartenbewegung und vielerlei gewerkschaftliche Kämpfe zielten darauf, den unterprivilegierten Schichten den Zugang zu naturnahen Erfahrungsräumen zu ermöglichen, im Wissen um deren Bedeutung für individuelles Wohlbefinden und Regeneration (vgl. z. B. Stein 2000). Naturerfahrung ist zwar in diesem Sinne von Kultur- und Sozialerfahrung analytisch zu unterscheiden, zugleich jedoch nur als ein sozialer Faktor zu verstehen. Zum einen, weil sie in unserer rationalisierten und technisierten Gesellschaft immer schon geformt und hergerichtet, bestellt und belassen ist, dem einzelnen Menschen also in der Regel als Ergebnis der kalkulierten Gestaltung durch die Gesellschaft widerfährt. Stadtpark und Staatsforst, das Naturschutzgebiet in den Alpen, wie auch die belassenen Flussauen und Marschlandschaften sind in unserer Gesellschaft das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen und entsprechender Gestaltungen, sowohl in ihrer konkreten Formung, als auch in ihrem organisierten Verzicht auf Formung. Zudem ist der vorhandene oder fehlende Zugang zu diesen Räumen, die Naturerfahrungen ermöglichen, sozial gestaltet. Das Vorhandensein von z. B. öffentlichen Parks, Stränden und Wäldern, die Finanzierbarkeit von Kuren und Rehabilitationsangeboten, sowie der Anfahrt und des Aufenthalts „im Grünen“ sind soziale Fragen der Infrastruktur, der Ressourcen, der Ausstattung oder Barrieren.

Die mit den Begriffen Sozialstruktur und Infrastruktur gekennzeichneten Ressourcen der Lebenslage nehmen sehr bedeutungsvolle gesellschaftlichen Bedingungen auf, die einer gerade auch politisch ambitionierten Sozialen Arbeit sehr wichtig sind, um individuellen Hilfebedarf zu verstehen. Diese Ressourcen sind objektiv beschreibbar, ebenso wie die mit ihnen verbundenen objektiven Handlungsoptionen- und beschränkungen. Die sich aus ihnen ergebenden Handlungs-

Abb. 5.4 WET, Körperkontext, Lebenswelt und Lebenslage. (Quelle: ©Eigene Darstellung)

möglichkeiten, für bestimmte Handlungssituationen, Zielbestimmungen und Wahlentscheidungen, stellen den spezifischen Effekt des Lebenslagenkontextes dar. Im Gegensatz dazu kann von einer Restriktion gesprochen werden, wenn durch die Bedingungen der Lebenslage bestimmte Handlungsmöglichkeiten nicht gegeben sind, bestimmte Handlungsoptionen also aus dem Alternativenraum eines Akteurs ausgeschlossen sind. Diese sind in etwa identisch mit dem, was Silvia Staub-Bernasconi im Rahmen ihrer Analyse von sozialen Problemen als soziale Barrieren beschreibt, die individuelles Wohlergehen beeinträchtigen, weil sie der Befriedigung von Bedürfnissen durch eigene Anstrengung im Wege stehen (vgl. Staub-Bernasconi 2007, S. 183). Aus makrosoziologischer Perspektive handelt es sich hierbei um das Ergebnis einer (unzureichenden) Verteilung sozialstrukturellen und/oder infrastrukturellen Ressourcen sowie Naturressourcen (vgl. Runde et al. 1998, S. 22).

Gleichwohl können die konkreten Ermöglichungsoder Restriktionseffekte von Ressourcen, im Hinblick auf konkretes Verhalten von Menschen, jeweils nur im Verhältnis zum subjektiven Bedarf bzw. zur Handlungsabsicht analysiert werden. Nur auf sie bezogen, wirken Ressourcen restriktiv oder fördernd und kann ein Zusammenhang zwischen Lebenslage und Wohlbefinden hergestellt werden (vgl. Stierle 2006, S. 98) (vgl. Abb. 5.4).

 
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