Brückenkonzepte für die Verknüpfung von Mikro- und Makroebene
Eine besondere theoretische Herausforderung besteht nun darin, den Zusammenhang zwischen dem Entscheidungshandeln auf der Mikroebene, dessen biologischkörperlicher Rahmung, sowie den Makroebenen-Kontexten Lebenswelt und Lebenslage theoretisch zu erklären und in das Modell zu integrieren. Ausgangspunkt des hier vorgestellten Modells ist, dass diese beschriebenen Kontexte das Verhalten normalerweise nicht direkt beeinflussen oder gar determinieren. Vielmehr wird von einer Vorstrukturierung individuellen Handelns ausgegangen, die im Folgenden als „Brückenkonzept“ entfaltet werden soll. Diese damit beschriebene Realität ist durch die Kontexte geprägt, rahmt das individuelle Handeln auf unterschiedliche Weise und begründet theoretisch den Zusammenhang von Mikro- und Makroebene. Sie stellt einen wichtigen Baustein dar, der die Wert-Erwartungs-Theorie ergänzt und deren Schwäche überwindet, soziales Handeln ausschließlich eindimensional, als ein Entscheidungsverhalten rationaler Wahl nach Nutzenmaximierungsgesichtspunkten auffassen zu können (vgl. Giese und Runde 1999, S. 23 f.). Zwei Brückenkonzepte werden hierbei unterschieden. Beim Brückenkonzept I werden die Makroebenen, sowie der biologisch-körperliche Rahmen in sogenannte „Situationsdefinitionen“ übersetzt, die als eigenständige Komponenten in der schematisierten Handlungsabfolge den folgenden vorangestellt werden. Sie werden als Einflussfaktoren verstanden, die Handlungssituationen vordefinieren bzw. vorstrukturieren. Den so entstehenden „Situationsdefinitionen“ gehen weiteren Motivationsbildungs- und Denkprozessen voraus und legen fest, ob es in der jeweiligen Situation überhaupt zu einem Rational-Choice Verhalten kommen kann.
Beim Brückenkonzept II werden die Makro-Ebenen mit den zentralen Variablen des WET verbunden und deren Einflussnahme durch ein sogenanntes Framing beschrieben.
Brückenkonzept I: Situationsdefinitionen
Das hier konzeptionierte Brückenkonzept I unterscheidet fünf unterschiedlich strukturierte bzw. definierte Handlungssituationen, die den Ausgangspunkt weiteren Verhaltens darstellen, dies Verhalten entsprechend prägen und als Ergebnis einer direkten Einflussnahme der Kontexte verstanden werden können. Zu unterscheiden ist konkret:
a. Lebenslage legt fest. Hiermit ist ein Verhalten gemeint, dass durch die Handlungsrestriktionen der Lebenslage gänzlich vorbestimmt ist. Hier kommt es zu keiner rationalen Wahlentscheidung, weil der Restriktionskontext keine Wahlentscheidung ermöglicht und „nichts zur Wahl steht“. Diese Festlegung kann verstanden werden als Ergebnis fehlender Ausstattung mit handlungsnotwendigen Ressourcen oder aber als Erfahrung von sozialen Barrieren, die exkludierend wirken (vgl. Bruhn und Homann 2009).
b. Lebenswelt legt fest. Hiermit ist ein Verhalten gemeint, dass durch die Vorgaben der Lebenswelt gänzlich festgelegt ist. Hier kommt es zu keiner rationalen Wahlentscheidung, weil das Handeln in den Bahnen fragloser Routinen verläuft. Die Unterscheidung zwischen Kultur, Normen und Persönlichkeit zeigt sich in der Entwicklung von ideologischen, normativen oder personalen Vorgaben: Ideologie, unbedingt geltende normative Regeln und sozialisierte sozialpsychische Dispositionen, einschließlich von Gefühlen und Affekten (i.S. von Webers Typus affektualem Handeln). Sie legen die Routinen eines Verhaltens fest und verhindern einen rationalen Wahlentscheidungsvorgang.
c. Körper legt fest. Hierzu gehört ein affektuales Verhalten, also impulsive Reaktionen auf unelastische „körperliche“ Bedürfnisse. Eine rationale Wahlentscheidung findet nicht statt, weil die biologische Ausstattung des Körpers das Verhalten gänzlich festlegt (Augenlider schließen, Gesichtsmimik, Tränenfluss…). Hierzu gehört die Festlegung durch Restriktionen: mangelnde körperliche, geistige und seelische Fähig- und Fertigkeiten können Wahlentscheidungen ausschließen.
d. Rational-Choice-Verhalten. Hiermit ist ein Verhalten gemeint, dass „pur“ eigenen Nützlichkeitserwägungen folgt, somit über Motivationsbildung und Alternativenbewertung entlang persönlicher Nutzenmaximierung Handlungsalternativen auswählt und hierbei Handlungsrestriktionen mit berücksichtigt. Der lebensweltliche Kontext ist weitgehend unbedeutend.
e. Frame bestimmtes Rational-Choice-Verhalten. Hiermit ist ein Verhalten gemeint, dass durch ein Ordnungsmuster vorstrukturiert ist, ohne festgelegt zu sein. Dieser Vorgang der Herstellung einer Ordnung (framing, das zu einem Frame führt) erfolgt unter Einfluss aller drei Kontexte unter analysierbaren Bedingungen.
Diesen fünf Handlungsmodi lassen sich auch die vier Handlungstypen von Max Weber zuordnen. Der Situationsdefinition, die das individuelle Entscheidungshandeln durch lebensweltliche Vorgaben der Komponenten Kultur und Gesellschaft habituell festlegt a) entspricht der Weber-Typus des traditional Handelnden: die dumpfe, an Konventionen gebundene Reaktion auf gewohnte Reize. Die durch die Komponente Persönlichkeit lebensweltlich vordefinierte Situation b) entspricht dem Weber Typus des affektual Handelnden, ebenso wie die durch körperlich-affektuales Handeln vordefinierte Situation c). Der Situationsdefinition die als Rational-Choice Verhalten beschrieben werden kann d), entspricht der Weber-Typus des zweckrationalen Handelns, das Mittel, Zwecke und Nebenfolgen nutzenmaximierend abwägt. Bei Habermas ist dies die vorherrschende Praxis im Vollzug der Systemintegration. Hier unterscheidet er die Handlungslogiken teleologisch, normativ, dramaturgisch, die er alle „weitgehend“ zweckrational geprägt beschreibt (wobei dieser Begriff deutlich macht, dass er diese Sphäre nicht gänzlich von verständigungsorientiertem Handeln gereinigt sieht) (vgl. Habermas 1981 II, S. 230). Der Situationsdefinition, die als framebestimmt beschrieben wird e), entspricht schließlich der Weber-Typus des wertrationalen Handelns (vgl. Weber 2003,
S. 32 f.). Restriktiv vordefinierte Handlungssituationen der Lebenslage (entspr. a.) sind in der Weber-Typologie nicht mit bedacht.