Der wohnungspolitische Beitrag zur Verletzung des Menschenrechts auf Wohnen und die (Selbst-) Beschränkung Sozialer Arbeit

Deutschland und die Schweiz zählen zu den reichsten Ländern der Welt. Auch hier gilt: nicht jede/ jeder kann sich Wohnen leisten, schon gar nicht unter menschenwürdigen Bedingungen. Hier wie dort wird das Menschenrecht auf Wohnen für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung tagtäglich verletzt: Verzweifelte Versuche, steigende Mietkosten decken zu können, haben entwürdigende Lebenssituationen und oftmals physische wie seelische Erkrankungen bei Menschen aller Altersgruppen und Lebenslagen zur Folge. Viele Menschen leben (notgedrungen) in Wohnungen, die von den Eigentümern vernachlässigt werden: Sie leiden unter (bauseitig bedingtem) Schimmelbefall, an undichten Dächern und Wänden, zugigen Fenstern, maroder Elektrik oder Wasserversorgung. Menschen werden – teilweise gewaltförmig und unrechtmässig (vgl. Holm 2014a) – aus Wohnungen und Quartieren verdrängt. So werden, um nur ein Beispiel herauszugreifen, Rentner und Rentnerinnen, die jahrzehntelang in ihren Wohnungen gelebt haben, „entwurzelt“ und „verpflanzt“: Sie können die exorbitanten Mietsteigerungen nicht mehr bezahlen (nahezu die Hälfte aller Rentner und Rentnerinnen in Deutschland muss mit weniger als 700 € Rente im Monat überleben; bei den Frauen sind es sogar 70 Prozent). Da scheint selbst die Botanik weiser: Alte Bäume versetzt man nicht.

Die Zahl der von Wohnungsnot Bedrohten und Betroffenen steigt kontinuierlich an, wie die BAG Wohnungslosenhilfe bilanziert: „In 2012 zählten (...) ca.

414.000 Menschen zu den sog. Wohnungsnotfällen, also akut Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit Bedrohte, in 2008 waren es noch 354.000.“[1]

Dass die Wohnungsfrage ebenso schnell wie unerwartet für einen wachsenden Teil der Bevölkerung Existenz bedrohend werden kann, lässt sich auf den warenförmigen Charakter zurückführen, der Wohnraum gegenwärtig zugeschrieben wird. So wird die Versorgung mit Wohnraum, von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. zur Historie Holm 2014a), der Logik einer kapitalistischen Ökonomie untergeordnet: „Wie andere Waren unterliegen der Wohnungsbau und die Wohnungsbewirtschaftung (...) vor allem ökonomischen Rationalitäten“ (Holm 2013: 3). Damit wird die Wohnraumversorgung (und damit: städtische Wohnungspolitik) dem „freien Spiel der Kräfte“ überlassen, getreu dem Motto: der Markt wird's schon richten.

Wohnen ist zu einem Geschäftsmodell geworden (vgl. Holm 2014b), das in vielen Ländern den Leitzielen einer unternehmerischen, an Haushaltskonsolidierung ausgerichteten Stadtpolitik folgt (vgl. Harvey 2012). Bedient werden Akteursgruppen, die ein entsprechendes Geschäftsinteresse verbindet: Banken, Eigentümer, Anleger/Anlegerinnen und Investoren/Investorinnen, aber auch Stadtplaner und Stadtplanerinnen, Architekten und Architektinnen, Bauwirtschaft und, nicht zu vergessen, Stadt(entwicklungs-)Politiker/-politikerinnen (vgl. Holm 2013: 6, auch Hollenstein/Kollmann 2010). Spätestens hier sollte eine sich kritisch verstehende Soziale Arbeit (vgl. Stender/Kröger 2013) aufhorchen: Wenn innerhalb eines solchen „Verwertungsregimes“ (Holm 2013: 6) überhaupt etwas ‚gerichtet' wird, dann vermutlich dies: mit Wohnungen eine möglichst hohe Rendite zu erzielen und zugleich mittels 'aufwertender' Standortpolitik und Image-Kampagnen die Attraktivität primär für Steuerkräftige zu erhöhen (vgl. ebd.). Die Frage nach dem Menschenrecht auf Wohnen ist hier nicht nur sekundär, sondern für sie ist gar keine 'Rolle' (mehr) vorgesehen.

Aus diesen kurzen Ausführungen ziehen wir folgende Schlüsse:

1. Gegenwärtig trägt (soziale) Stadtpolitik – wenngleich nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich – die ‚Handschrift' aktivierender, unternehmerisch orientierter Politik (vgl. Heeg/Rosol 2007, Schreier 2014: 133 f.). Entsprechend setzen sich die Interessenkoalitionen zusammen, die über die Ausgestaltung von Stadtpolitik entscheiden (vgl. Holm 2013: 6). Es verwundert daher wenig, dass hier weder die von Wohnungsnot Betroffenen noch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen an den Verhandlungstisch gebeten werden.

2. Sozialer Arbeit, zumeist staatlich beauftragt, kommt – ungeachtet der jeweils vorherrschenden politischen Leitziele und Interessenkonstellationen – eine Funktion im stadtpolitischen Gefüge zu. Entscheidend ist, inwiefern diese Funktion reflektiert oder unreflektiert, affirmativ oder kritisch ausgefüllt wird. Hierzu liegen bereits zahlreiche kritische Analysen vor (vgl. exemplarisch Dahme; Wohlfahrt 2005, Hohenstatt 2013, StaubBernasconi 2013), die verdeutlichen, dass Soziale Arbeit ihr Selbstverständnis in stadt- und wohnungspolitischen Zusammenhängen ebenso wie ihre Funktion in diesen Kontexten dringend zu klären hat.

3. Wenn Soziale Arbeit verhindern will, zur „Vollstreckerin“ (vgl. StaubBernasconi 2013: 63) einer Stadtpolitik zu werden, die Wohnungsnot ignoriert (vgl. Kap. 3.2) oder verschärft, reicht es nicht aus, hier lediglich 'Symptome zu behandeln', karitative Nothilfe oder (häufig bereits im Vorfeld begrenzte) Beteiligungsstrukturen (vgl. Guentner/Fritsche 2012) bereit zu stellen. Vielmehr ist ein pro-aktives Einmischen in stadt- und wohnungspolitische Zusammenhänge unerlässlich; dies gelingt unseren Praxiserfahrungen zufolge vor allem gemeinsam mit weiteren Verbündeten.

4. Sozialer Arbeit käme damit die Aufgabe zu, träger- und arbeitsfeldübergreifende, solidarische und selbstorganisierte Bündnisse zu initiieren oder sich in diesen zu organisieren. Bereits bestehende Bündnisse sind beispielsweise die lokalen Arbeitskreise kritischer Sozialer Arbeit und Bündnisse Sozialer Arbeit,[2] aber auch professionsübergreifende, an Menschenrecht und sozialer Gerechtigkeit orientierte Soziale Bewegungen,

z.B. die „Recht auf Stadt“ –Bewegungen, Mieter- und Mieterinneninitiativen u.v.m. (vgl. Kap. 3.2).

  • [1] URL: bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen [Zugriffsdatum: 04.03.14]
  • [2] vgl. kritischesozialearbeit.de; kriso.ch; kriso.at; einmischen.com
 
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