Aneignung urbaner Räume durch Wahrnehmung(en) und Bedeutung(en): eine konzeptionelle Skizze
Die Neuausrichtung der sozial- und kulturgeographischen Forschungsrichtung in der letzten Dekade hat verschiedene theoretisch-konzeptionelle Herangehensweisen hervorgebracht, die sich mit der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit und der praxeologischen Konstitution von Raum auseinandersetzen[1]. Die Bedeutung von raumbezogenen Semantiken für die Wahrnehmung von Städten wurde u. a. durch die (bild)sprachliche Analyse von Images untersucht und hat strukturelle Merkmale von Diskursen, durch die sie produziert und reproduziert werden, aufgedeckt (vgl. Meyer zu Schwabedissen/Miggelbrink 2005, Mattissek 2010)[2].
Die Herstellung von positiven Images – sowohl nach aussen als auch innerstädtisch auf Quartiersebene – ist ein Merkmal des unternehmerischen Stadtkonzeptes, das auch die Wahrnehmungen der Bewohner und Bewohnerinnen beeinflusst. Die Bedeutung der physisch-materiellen Dimension für die Wahrnehmung der Umgebung und subjektive Empfindungen sind weitere Aspekte, die für die Betrachtung der Innenperspektive, also die Sicht der Bewohner und Bewohnerinnen, bedeutsam sind.
Ansätze, die sich im Zuge der Re-Materialisierung der Humangeographie (Jackson 2000) entwickelt haben, umfassen performative, emotionale und
„mehr-als-repräsentationale Geographien“ (Lorimer 2005, Kazig/Weichhart 2009) und stellen Zugänge dar, die das unmittelbare Erleben der Umgebung erfassen können. Jürgen Hasse, der die „Vergessenheit der menschlichen Gefühle“ bemängelt und damit die sinnlich-leibliche Betroffenheit in den Fokus des Forschungsinteresses stellt, hat den aus der Philosophie stammenden Begriff der Atmosphäre in die humangeographische Diskussion eingeführt und die Bedeutung von Emotionen für die Stadtforschung betont (1999, 2002a,b). Der konzeptionelle Ansatz der Atmosphäre, der die physisch-materielle Dimension und das leibliche Empfinden als kleinräumige Mensch-Umwelt-Relation betrachtet, wurde von Rainer Kazig (2007) mit dem Handlungsbegriff verknüpft und damit für die sozialgeographische (Stadt-)Forschung anschlussfähig gemacht. Anknüpfend an Jean Paul Thibaud werden Atmosphären dabei als Medium verstanden, welche die Rahmenbedingungen des Wahrnehmens bilden. Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Empfindung ist wesentlich für das Verständnis von Atmosphären (Kazig 2007: 169). Mit Rückbezug auf den phänomenologischen Begriff des Leibes wird der subjektive Zugang zu Atmosphären erläutert und für die empirische Verwendung weiter differenziert. Neben den Gefühlen werden zwei weitere (leibliche) Aspekte – Modi der Aufmerksamkeit und Gestik – ergänzt, die die Grundlage für die Verknüpfung mit dem Handlungsbegriff bilden. Aufmerksamkeit wird als Zusammenspiel von Sinnen, Geist und Körper in einer Situation verstanden und kann sich auf verschiedene Arten ausbilden. Der Zusammenhang von Empfindung und sich Bewegen wird mit dem Begriff der Gestik über die Dimension der Befindlichkeit als motorischer Ausdruck von Atmosphären hergeleitet (ebd.: 171 ff.). Daraus ergibt sich der zweite Zugang zu Atmosphären – die materielle Ebene – als konstituierende Umgebung, die das Ausführen von Handlungen beeinflusst und aus dem leiblich-sinnlichen Empfinden hervorgeht. Damit wird Wahrnehmung nicht, wie in traditionellen Ansätzen üblich, als ein rein kognitiver Prozess verstanden, sondern als Praxis, die in spezifischer Form abhängig vom sinnlich-erfahrbaren Kontext angewandt wird.
Bedeutungen konstituieren sich aus individuellen Deutungsmustern der Bewohner und Bewohnerinnen und werden nicht nur von leiblich-sinnlichen Komponenten der Wahrnehmung und externen symbolisch-semantischen Zuschreibungen geprägt, sondern sind auch durch kulturell-soziale Voraussetzungen bedingt. Jede Erfahrung einer Situation ist an Vor-Erfahrungen gebunden und wird durch die eigene Sozialisation und kulturelle Zugehörigkeit unterschiedlich ausgelegt. Diese Aspekte bewirken verschiedene Handlungsmuster, die für Aneignungsprozesse städtischer Räume relevant sind. Durch eine ReKontextualisierung der Bedeutungen, die sich aus dem individuellen Wahrnehmen ergeben, lassen sich unterschiedliche Prozesse der Aneignung identifizieren.
Werden urbane Räume nun als Produkt der wechselseitigen Beziehungen sozial-kultureller, leiblich-sinnlicher und semiotisch-symbolischer Dimensionen betrachtet, stellt sich die Frage nach einer geeigneten raumtheoretischen Konzeption. Das in der Stadtforschung wieder verstärkt rezipierte Werk von Henri Lefebvre la production de l´éspace entwirft ein triadisches Modell der dialektisch miteinander verbundenen Dimensionen: räumliche Praxis oder der wahrgenommene Raum (l'espace perçu), Repräsentationen des Raums oder der konzipierte Raum (l'espace conçu) und Räume der Repräsentation oder der erlebte Raum (l'espace vécu) (Lefebvre 1974: 42 f.) Die doppelte Benennung der Begriffe ermöglicht sowohl einen phänomenologischen als auch semiotischen Zugang zum Raum (Schmid 2005, 2008).
Für die analytische Betrachtung von Wahrnehmungen und Bedeutungen sind der wahrgenommene Raum, also die materiellen Bedingungen in dem sich räumliche Praktiken entfalten, und der erlebte Raum, in dem die Produktion von Bedeutungen stattfindet, von Interesse. Der konzipierte Raum bildet dabei den bestimmenden Kontext – sowohl wenn es um die Herstellung von Images oder die Entstehung von Planungsprozessen geht als auch die Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Praxis.
Nach Auffassung der neueren sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Humangeographie sollte die soziale Wirklichkeit durch Methoden erschlossen werden, die sowohl den Sinn von Äusserungen und die Bedeutung von Objekten oder Praktiken erfasst (Lossau et al.: 8).