„du siehst was, was ich nicht seh“ – die Methode der urbanen Erkundung
Die empirische Erfassung unterschiedlicher Perspektiven von Bewohnern und Bewohnerinnen und damit deren Wahrnehmungen urbaner Räume bedarf zunächst einer methodologischen Annäherung. Für die Untersuchung der Wechselwirkungen von Materialität und Leiblichkeit einerseits und der gelebten Praxis anderseits, bildet das Spektrum ethnographischer Methoden, das in jüngster Zeit vor dem Hintergrund phänomenologisch-orientierter und performativaffektiver Forschungsansätze verstärkt Aufmerksamkeit in den humangeographischen Forschungskonzeptionen erfährt[1], einen geeigneten Ansatz. Die Erfassung und Interpretation sozialer Praktiken und gelebter Erfahrung ist ein Hauptaugenmerk ethnographischer Forschung und zeichnet sich durch die Reflexion der eigenen Forschungsposition, Offenheit im Forschungsprozess und einer narrativen Auswertung des erhobenen Datenmaterials aus. Diese Merkmale bilden die methodologischen Rahmenbedingungen bei der Konzeption einer Methode, die Wahrnehmungen und Bedeutungen von Bewohnern und Bewohnerinnen erfassen soll.
Das Gehen durch die Stadt oder das Quartier ist eine Möglichkeit, die Körperlichkeit und Raumerfahrung zueinander in Bezug setzt und wird deshalb als methodisches Vorgehen gewählt. Der wahrnehmbare Raum – im Sinne Lefebvres – lässt sich durch das Begehen empirisch rekonstruieren. Es gibt verschiedene Ansätze, die sich mit dem Gehen als Methode beschäftigen. Wesentliche Unterscheidungsmerkmale sind die Art der Konzeption des Weges – offen oder (ab)geschlossen, die Vertrautheit mit der Umgebung und ob man alleine oder in Gemeinschaft geht (vgl. Legnaro 2010, Evans/Jones 2011). Der in der Ethnologie verankerte Ansatz der Go-Alongs ist eine hybride Methode aus einer bewegten Interviewsituation und teilnehmender Beobachtung und ermöglicht die Erforschung mehrerer Aspekte. Margarethe Kusenbach betont die phänomenologische Wirkungsfähigkeit der Go-Along Methode und konstatiert, dass damit verdeckte und unbewusste habituelle Zusammenhänge, die mit Orten und Umgebungen verknüpft sind, erfasst werden können. Neben Wahrnehmungsprozessen, biographischen Orten, räumlichen Praktiken und der Verortung im Netz sozialer Beziehungen können auch Interaktionen im sozialen und alltäglichen Umfeld einer Person untersucht werden (2003: 466 ff.).
Um verschiedene Wahrnehmungen von Bewohnern und Bewohnerinnen zu erforschen, bilden die Go-Alongs einen geeigneten Anknüpfungspunkt für die Methode der urbanen Erkundung, die im Rahmen eines laufenden Dissertationsprojektes[2] entwickelt wird. Dabei werden die Erkundungen jeweils zusammen mit einer Person durchgeführt, und die Route wird von ihr vorgegeben, um die (vertraute) Umgebung, in der sie sich bewegt, zu erfassen.
Die Erweiterung der Methode der urbanen Erkundung erfolgt durch die eingesetzten Dokumentationsmittel. Während das bewegte Interview mittels eines Ansteckmikrophons und einem Aufnahmegerät aufgezeichnet wird, dokumentiert die Person zusätzlich durch Fotografieren die für sie bedeutenden Situationen. Der Einsatz von Bildern als sozialwissenschaftliche Daten und deren reflexive Verwendung bietet eine weitere Dimension, die den Bezug des wahrnehmenden Subjektes zu seiner Umgebung aufdecken kann (Dirksmeier 2007: 8). Des Weiteren werden die Routen per GPS dokumentiert, um zu erfassen, nicht nur was, sondern auch wo die Aussagen getroffen wurden. Das explorative Vorgehen wird im Sinne der grounded theory während des Forschungsprozesses reflektiert und modifiziert und ermöglicht eine Offenheit gegenüber Wahrnehmungen, Vorstellungen und Situationen, die durch eine Festlegung von Kategorien im Vorfeld nicht erbracht werden kann. Der eigene Reflexionsprozess der Forscherin wird durch Notizen der Erfahrungen und Beobachtungen im Anschluss an die Erkundung gewährleistet, und die Theorie und Praxis stehen in einem ständig sich austauschenden Dialog zueinander.
Der Aufruf „du siehst was, was ich nicht seh“ diente für die Auswahl des Samplings. Dazu wurden Flyer und Plakate im Innenstadtbereich und den angrenzenden Stadtteilen verteilt und eine Projektseite[3] eingerichtet sowie die lokalen Printmedien informiert. Dadurch wurden Bewohner und Bewohnerinnen angesprochen und zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Den Interessierten wurde im Rahmen der Informationsveranstaltung das Anliegen erläutert, ohne dabei das gesamte Forschungsvorhaben offenzulegen. Der potentielle Kontext der Stadtentwicklung wurde bewusst ausgeklammert, um die Wahrnehmungen und Orte nicht darauf zu reduzieren. Die Beurteilung der städtebaulichen oder planerischen Massnahmen sollte nicht im Vordergrund stehen, sondern die persönlichen und alltäglichen Empfindungen.
Durch einen kurzen Fragebogen wurden Informationen zur Wohndauer in der Stadt und dem vorherigen Wohnort sowie sozio-demographische Daten erhoben, die einerseits als Gesprächseinstieg dienen können und andererseits für die analytische Kontextualisierung hilfreich sind. In der ersten Erprobungsphase haben 12 Erkundungen stattgefunden, die zwischen einer und drei Stunden dauerten. Reaktionen und Besonderheiten, Uhrzeit und Wetter, sowie die eigene Wahrnehmung wurden im Anschluss an die Erkundungen jeweils von der Forscherin notiert.
Der Auswertungsprozess ist noch nicht abgeschlossen, aber es lassen sich erste Tendenzen skizzieren, die die Analyse des Materials weiter strukturieren. Geleitet von einer wechselseitigen Verknüpfung der gesammelten Daten und der Theorie, erfolgt die Auswahl der Aussagen nach den Prinzipien der grounded theory. Zum einen findet eine Verbindung der individuellen Biographie mit verschiedenen Orten statt, die durch Erinnerungen an Ereignisse oder Erfahrungen beschrieben werden. Dabei spielen emotionale Äusserungen eine grosse Rolle. Zudem lassen sich aus den Daten verschiedene Orte erkennen, die im sozialen Gefüge der Personen eine Bedeutung haben. Ebenso wird die physischmaterielle Umgebung erläutert und auf die Veränderungen eingegangen. Teilweise existieren diese Umgebungen heute nicht mehr und werden erst durch die Erinnerungen und Beschreibungen (wieder) sichtbar. Ein weiterer Aspekt sind die unterschiedlichen Bezugsebenen der Personen, die sich aufzeigen lassen und damit Schichten des Empfindens aufdecken.
Für die Darstellung der multidimensionalen Daten ergeben sich einige Herausforderungen, da eine rein sprachliche Aufbereitung des Datenmaterials der Komplexität von Wahrnehmungen nicht gerecht wird. Deshalb wird eine Möglichkeit aufgezeigt, die die erhobenen Daten miteinander verbindet und damit einen performativen Ansatz darstellt. Dabei werden nur die Daten, die während der Erkundung erhoben wurden, verwendet und die Audiodateien mit den Fotografien zusammengebracht und zu kleinen (Film)Sequenzen zusammengeschnitten. Zudem wird eine Teiltranskription der Aussagen und Zuschreibungen aus den Interviews vorgenommen. Die Auswahl der Aussagen ist geleitet von dem beschriebenen Auswertungsprozess und bildet eine weitere Ebene, die über die audiovisuellen Sequenzen gelegt wird. Dies ermöglicht zum einen, Bilder als sozialwissenschaftliche Daten im Herstellungskontext zu betrachten, und bietet gleichzeitig die Option sprachliche Zuschreibungen, die dazu gemacht wurden, (nach) zu hören.
Die Aufbereitung erhebt nicht den Anspruch, eine vermeintliche Wirklichkeit abzubilden, sondern stellt einen Beitrag dar, die individuellen Wahrnehmungen nachzuvollziehen und sichtbar zu machen. Es ist geplant, im Anschluss an die Aufbereitung Nachgespräche zu führen, um die Bedeutungen zu rekonstruieren und die Interpretation zu validieren.
Eine erste konkrete Anwendung der Methode ist ein interaktiver Stadtteilführer, der mit Studierenden der TU Chemnitz im Frühjahr 2013 entwickelt wurde. Die Erkundungen mit sechs Bewohnern und Bewohnerinnen eines von aussen negativ wahrgenommenen innerstädtischen Stadtteils bilden die Grundlage. Die Dokumentation wurde in der beschriebenen Form audiovisuell aufgearbeitet und mit den GPS-Daten verknüpft. Für ein GPS-fähiges Tablet ist in Zusammenarbeit mit einer Interaction-Designerin ein Programm erstellt worden, das an dem Ort, der mit einer Wahrnehmung der Bewohner und Bewohnerinnen verknüpft ist, reagiert. Dort können Informationen – Bilder, Audiodateien und/oder kleine Filmsequenzen sowie Angaben zur Person – abgerufen werden. Die Perspektive der Bewohner und Bewohnerinnen wird dadurch nachvollziehbar und kann mit den eigenen Empfindungen abgeglichen warden[4].
- [1] Vgl. Themenheft Geographica Helvetica (2012), 67(4).
- [2] Die Entwicklung der Methode wird am Fallbeispiel der Stadt Chemnitz untersucht und befindet sich momentan noch im Entstehen. Deshalb wird hier das Augenmerk auf der Konzeption und nicht auf konkreten Ergebnissen liegen, da darüber noch keine konkreten Aussagen getroffen werden können.
- [3] urbane-erkundungen.de
- [4] weitere Informationen: sonnenberg.urbane-erkundungen.de