Unschärfen, Befunde und Perspektiven

„Die Mehrheit der Menschen, die rechtsextremen Aussagen zustimmt, wählt übrigens klassische Parteien und nicht die NPD. Ausländerfeindlichkeit ist die Einstiegsdroge zum Rechtsextremismus“(Elmar Brähler, Chismon 9/2005, S. 7).

Sonderfall Ost – Normalfall West?

Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus zu verschleiern

Matthias Quent

Ist der sich nach der deutschen Vereinigung konjunkturell vor allem durch brutale Gewalttaten in das öffentliche Bewusstsein drängende Rechtsextremismus eine Spätfolge der Sozialisation und der politischen Kultur in der ehemaligen DDR? Rostock-Lichtenhagen, Wahlerfolge der NPD, NSU und „PEGDIA“: So zuverlässig, wie der innovationsfähige Rechtsextremismus (zum Innovationsbegriff: Kollmorgen & Quent, 2014) Wege findet, sich als Bewegung am Leben zu erhalten, seine Feinde einzuschüchtern und zu provozieren, so zuverlässig wird auch versucht, seine Ursachen im Vergangenen zu verorten. Am Beispiel der Debatte um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) werden in diesem Beitrag öffentliche Argumentationsweisen der diskursiven Darstellung des Rechtsextremismus als eine Folgeerscheinung der DDR diskutiert und diesen Diskussionssträngen einige Befunde der empirischen Forschung gegenübergestellt.

In der autobiografischen Erzählung „Eisenkinder“ thematisiert Sabine Rennefanz (2013) das Narrativ des „braunen Ostens“:

„Verwahrlosung, höhere Gewaltbereitschaft und fremdenfeindliche Einstellungen waren im Kern schon vor 1989 in der DDR stärker ausgeprägt als in der Bundesrepublik', schreibt Klaus Schroeder im Tagesspiegel. Auch er führt das NeonaziPotenzial auf die Vollerwerbstätigkeit der Mütter und die Einbindung in ‚staatliche Institutionen' zurück. Staatliche Institutionen, das klingt, als wären inderkrippen Gefängnisse gewesen. Ausbildungslager für kleine Neonazis. Das Tora-Bora des Ostens.“ (Rennefanz, 2013, S. 6) „Die DDR sei schuld, die autoritäre Erziehung, sagten die Kollegen, außerdem wisse man ja, dass im Osten der Rechtsextremismus Mainstream sei, eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit habe nie stattgefunden. Mich machte das wütend.“ (Ebd., S. 7)

„Aus dem Osten kamen nur Nazis, Stasi-Leute und Arbeitslose.“ (Ebd.)

„Dönermorde, so wurden die Verbrechen verniedlichend genannt. Türken untereinander meucheln sich, so klang das. Jetzt war es ein Problem der Ostdeutschen. Wieder hatte es nichts mit den Westdeutschen zu tun. In den folgenden Tagen achtete ich darauf, und mir fiel ein Muster auf. Es gab immer wieder den gleichen Reflex: Taucht ein Problem in Ostdeutschland auf, wird es gleich zum ‚typisch ostdeutschen' Thema. Gibt es in Westdeutschland ein Problem, ist es gesamtdeutsch.“ (Ebd.)

Anhand dieser (und weiterer) Beispiele drückt die in der ehemaligen DDR geborene Autorin ihr Unbehagen mit der Etikettierung der neuen Bundesländer als Hort des Rechtsextremismus aus – ohne die brutale Virulenz zu verharmlosen, mit der der Rechtsextremismus dort sichtbar wurde. Nicht in der DDR-Sozialisation, sondern in der Entsicherung, Orientierungsund Kontrolllosigkeit der Wendejahre sieht die Autorin die ausschlaggebenden Gründe für Wut und abweichendes Verhalten der „verlorenen Generation“ (DER SPIEGEL, 46/1991) der Wendejugend. Rennefanz, ein Jahr nach dem NSU-Terroristen Uwe Mundlos geboren, wendet sich nach der Vereinigung einer christlichen Sekte zu; zufällig, wie sie rückblickend sagt – also eine Frage der Gelegenheit:

„Nicht nur die anderen, die sich den Schädel rasierten und die Deutschlandkarte in den Grenzen von 1939 aufhängten, waren empfänglich für einfache Wahrheiten. Auch ich sehnte mich nach Übersichtlichkeit, nach Einfachheit, nach einer Heimat. Ich hätte wahrscheinlich auch Islamistin, Scientologin oder vielleicht, unter besonderen Umständen, Neonazi werden können. Es war nur eine Frage, wer mich zuerst ansprach.“ (Rennefanz, 2013, S. 121)

Es spricht in der Tat einiges dafür, dass für Individuen systematische Zufälle ausschlaggebend dafür sein können, sich einer rechten Clique anzuschließen. Denn welche Gelegenheitsstrukturen und Sozialisationsinstanzen sich dem Einzelnen anbieten, ist für ihn zunächst kaum zu beeinflussen: In welchem Ort oder Stadtteil mit Kontakt zu welchen Cliquen wächst man auf, welcher wohnortnahe Jugendtreffpunkt wird genutzt, wer ist einflussreich in der Peergroup? Dennoch sind diese Gelegenheitsund Sozialisationsstrukturen politisch erzeugt, schließlich sind die Wohnund Versorgungsqualität sowie Infrastruktur und Ausrichtung der Jugendarbeit das Resultat sozioökonomischer Entwicklungen und politischer Entscheidungen. Bereits Birgit Rommelspacher (2006) identifiziert Zufälligkeit als einen Faktor für das Verständnis von Einstiegsprozessen in rechtsextreme Gruppierungen und resümiert:

„Wie ‚zufällig' auch immer die Einzelnen in die Szene hineingerutscht sein mögen, je mehr sie sich involvieren lassen und sich selbst engagieren, desto mehr stellt sich die Frage, warum sie in dieser Szene bleiben und was das Spezifische am Rechtsextremismus ist, das ihn für die Jugendlichen so attraktiv macht“ (Rommelspacher, 2006, S. 570).

Eng damit verknüpft sind die Fragen, wie Akteure der rechtsextremen Szene sich radikalisieren oder deradikalisieren; welche Faktoren eine Eskalation politischer Gewaltbereitschaft begünstigen und was dazu führt, dass aus dem gleichen Aktivistenstamm NPD-Politiker, Rechtsterroristen, politisch Inaktive oder Aussteiger hervorgehen. Die Bedeutung der Prägung von Einstellungen und Werten durch familiäre Einflüsse und sozialpsychologische Variablen (vor allem Autoritarismus) darf dabei nicht vernachlässigt werden. Denn: „Dem Individuum obliegt ein politischer Entscheidungsund Handlungsspielraum darüber, wie Erfahrungen, Wahrnehmungen, die eigene Sozialisation und spezifische Situationen verarbeitet werden“ (Quent, 2012a, S. 72).

Mit der Aufdeckung des – medial häufig wahlweise als Jenaer oder Zwickauer Terrorzelle bezeichneten – NSU hat die Debatte um das „braune Erbe“ der DDR wieder an Fahrt gewonnen. Die Thüringer Allgemeine (Debes, 2013) titelte zum Beispiel: „War die Revolution 1989 für die NSU-Morde mitverantwortlich?“ und die Süddeutsche Zeitung meinte zu wissen: „Die Spurensuche führt zu Tugenden, die schon die erste deutsche Diktatur zusammenhielten: Überhöhung der Gemeinschaft, Einordnung in autoritäre Denkmuster […]“ (von Bullion, 2011).

Diese Beispiele stehen symptomatisch für zahlreiche und notwendige Versuche, die komplexen Ursprünge des NSU in seinem zeitlichen Entstehungskontext zu betrachten. In der Debatte um das Trio hat sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit jedoch vor allem in ihren Vorurteilen vom „braunen Osten“ bestätigt gesehen, meint der Soziologe Stephan Lessenich (2013) und beobachtet, dass sich das Deutungsangebot, nach dem die „neuen Nazis die mentale Saat des untergegangenen Arbeiterund Bauernstaats aufgehen lassen“ (Lessenich, 2013, S.141), wieder wachsender Beliebtheit erfreur. Gesellschaftspolitisch ist dieser Diskurs hochproblematisch, weil die Betonung des Sonderfalls Ost die Abgrenzung gegenüber dem vermeintlichen Normalfall West impliziert, in dem keine spezifischen begünstigenden Faktoren des Rechtsextremismus zu finden seien – zumindest keine, die der Erwähnung wert wären, und die folglich auch nicht genannt, diskutiert oder gar aufgearbeitet werden müssten. Dann dürfte allerdings beispielsweise die westdeutsche Stadt Dortmund heute keine „Hochburg der autonomen Nationalisten“ (Luzar & Sundermeyer, 2010) sein. Mit besonderem Nachdruck wiederlegt auch die Existenz von Rechtsterrorismus in der BRD vor 1989 das Bild.

 
< Zurück   INHALT   Weiter >