Gemeinsam sind wir stark!?
Die Theorie der sozialen Identität
Die Studien, die in diesem Buch dargestellt werden, basieren auf dem sog. Social Identity Approach – ein Ansatz, der zwei wichtige sozialpsychologische Theorien, nämlich die Theorie der sozialen Identität (Tajfel und Turner 1979) und die Selbstkategorisierungstheorie (Turner et al. 1987), miteinander verknüpft. Der Social Identity Approach (s. Haslam 2004, für eine sehr gute Übersicht) besagt, dass ein qualitativer Unterschied existiert zwischen einem Verhalten, das auf unserer personalen Identität, unserem „Ich“, beruht, und einem Verhalten, das auf unserer gemeinsamen, sozialen Identität, dem „Wir“ aufbaut. Dies ist ein qualitativer Unterschied, d. h. nicht nur ein leichter gradueller Unterschied, sondern ein fundamentaler Unterschied. Wir verhalten uns, wenn wir uns als einzelnes „Ich“ definieren, (zumindest meistens) komplett anders als wir uns verhalten, wenn wir uns als Gruppenmitglieder begreifen.
Schauen wir uns z. B. eine Ansammlung von Menschen am Mainufer in Frankfurt an. Stellen Sie sich sieben oder acht Menschen vor, die gerade am Main entlanglaufen und sich als Individuen ansehen. Jeder von ihnen ist eine einzelne Person mit ganz persönlichen Stärken und Schwächen und jeder von ihnen begreift sich als „Ich“ im Unterschied zu den anderen Menschen, die da am Main umherlaufen
– hier sind dann besonders die Unterschiede wichtig und man achtet vielleicht darauf, wer jung ist und wer alt, wer moderner oder altmodischer gekleidet ist, wer Mann ist und wer Frau usw. Sobald jetzt aber eine bestimmte soziale Identität, z. B. „wir Frankfurter“ im Unterschied zu „die Offenbacher “ oder „wir Deutsche“ gegenüber „die Ausländer“ salient, d. h. im Moment wichtig und bedeutsam wird, wirkt sich diese Identität auf eine Reihe von sozialen und vor allem organisationalen Verhaltensweisen und Einstellungen aus. Nun werden auf einmal die Unterschiede innerhalb der Gruppen subjektiv kleiner und die Unterschiede zwischen den Gruppen werden besonders deutlich, manchmal auch übertrieben. Und das Verhalten orientiert sich an den Normen und Zielen der Gruppe.
Das ist der qualitative Unterschied – sobald diese Identität aktiviert ist, wirkt sich das auf unser Erleben und Verhalten aus. Eine Gruppe von Studierenden auf dem Weg zu einer Lehrveranstaltung ist zunächst eine Ansammlung einzelner Menschen mit individuellen Eigenschaften, wie Größe, Geschlecht, Studienschwerpunkt, Unterschieden im Fachwissen usw. Im Hörsaal angekommen wird die Gruppe vom Dozenten, der einer anderen Gruppe angehört, nämlich der Gruppe der Lehrenden, sofort eher homogener wahrgenommen, z. B. verschwinden die Unterschiede im Alter, weil aus Sicht des 50-jährigen Dozenten Unterschiede zwischen einem 20- und einem 27-jährigen Studierenden völlig belanglos sind – was aus der subjektiven Sicht der Betroffenen natürlich ganz und gar nicht der Fall ist. Die Angehörigen beider Gruppen – also der Dozent und die Studierenden – verhalten sich in der Situation auch jeweils entsprechend der Regeln, die für sie gelten. Der Dozent wird sich kaum im Rapperoutfit in den Hörsaal stellen und anfangen, Musik zu machen, die Studierenden kommen in der Regel nicht in Schlips und Anzug in die Uni, aber auch nicht in dem knappen Kleid, das die Studentin vielleicht am Abend vorher auf der Party noch völlig angemessen fand usw.
Jeder verhält sich also sehr häufig als Gruppenmitglied, auch wenn dies den Beteiligten gar nicht immer bewusst ist. Stellen Sie sich vor, dass es zu Beginn der Vorlesung um Fragen zur anstehenden Klausur geht: Nun treten die unterschiedlichen Interessen der beiden Gruppen besonders deutlich hervor und damit werden die Unterschiede zwischen den Gruppen weiter betont und innerhalb der Gruppen reduziert (jeder Student will eine leichte Klausur; alle Dozenten wollen möglichst streng bewerten), auch wenn dies in der Wirklichkeit gar nicht unbedingt der Fall ist. Bislang spielte in unserem Beispiel das Geschlecht von Dozent und Studierenden keinerlei Rolle. Nehmen Sie nun an, der Dozent würde beginnen, einen sexistischen Witz zu erzählen. Sofort würden sich die Frauen unter den Studierenden verbünden und „Buh“ rufen – vielleicht würden sich die männlichen Studierenden dann aber sogar mit dem Dozenten solidarisch zeigen. Sobald also die Identität Geschlecht salient wird, wirkt sich diese auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der Beteiligten aus, d. h., die Frauen fühlen und handeln wie Frauen und die Männer wie Männer – mehr oder weniger unabhängig davon, ob der Witz lustig oder politisch inkorrekt ist.
Allgemeiner gesagt: Wenn Menschen eine gemeinsame Identität teilen und diese Identität bedeutsam wird, dann fangen wir an, uns als relativ austauschbare Mitglieder dieser Kategorie oder Gruppe zu sehen. Wir haben eine gemeinsame Perspektive und gleiche Überzeugungen, wir koordinieren unser Verhalten so, dass es im Einklang mit den Gruppennormen steht, und wir arbeiten gemeinsam in Hinblick auf die Ziele und Interessen der Gruppe.