Differenzierung ist vonnöten

Die eingangs zitierten Aussagen zum Rechtsextremismus als Folgeerscheinung der DDR-Sozialisation sind symptomatisch für viele häufig zu kurz greifende Zuordnungen und Interpretationen. Sie repräsentieren den Versuch, Ursachen von Rechtsextremismus und rassistischer Gewalt unter dem Vorsatz der Aufarbeitung zu historisieren bzw. die Verantwortung dafür einem überlebten Gesellschaftssystem zuzuschreiben. Welchen Erklärungswert hat die These vom kausalen Zusammenhang von DDR-Diktatur und Naziterror für die Genese des NSU, des modernen Rechtsextremismus und für die Beschaffenheit des gegenwärtigen Diskurses tatsächlich?

Differenzierung ist vonnöten. Wendeerfahrungen und -folgen, wie „politische Umwälzung“ und „Schulreform“, die unter anderen von der Mutter des NSU-Terroristen Böhnhardt als Ursachen für die Radikalisierung ihres Sprösslings verantwortlich gemacht werden (zitiert in: Debes, 2013), liegen nicht in der Beschaffenheit des diktatorischen Systems der DDR begründet. Vielmehr sind sie Ausdruck gesellschaftlicher Transformationsprozesse und der damit einhergehenden Verunsicherungen. Deren Auswirkungen auf die Gesellschaftsmitglieder hängen nicht primär mit der vorherigen Verfasstheit einer (Teil-)Gesellschaft zusammen, sondern mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen, der Steuerung, Moderation und Anerkennung des Wandels und des neuen Systems. Empirisch messbar verschob sich die übergroße Rechtsextremismusbelastung in den Mentalitäten der Bevölkerung erst dann in die neuen Länder, als klar wurde, dass die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ ausblieben. Wie Individuen Transformation wahrnehmen und bewerten, hängt dabei auch mit sozialisierten Deutungsund Verarbeitungsweisen zusammen.

Wird, wie mit dem Verweis auf die „DDR-Diktatur“ angedeutet, ein Kausalverhältnis behauptet zwischen persönlichen Erfahrungen („Töpfchen-These [1] “), politischen Einflüssen („verordneter Antifaschismus“, vgl. unter anderem Heitmann, 1997, S. 93) und den Ausprägungen politischer Einstellungen und Verhaltensweisen, werden systembedingte Sozialisationsein.ftüsse für die Bevölkerung der ehemaligen DDR bis 1989/1990 betont. Diese, so die Annahme, ließen sich auf die Prägung des Alltags durch die diktatorische Gesellschaftsordnung zurückführen und führten in der Nachwendegesellschaft dazu, dass Ostdeutsche häufiger Affinitäten zum Rechtsextremismus zeigten als Westdeutsche. Dem sozialisationstheoretischen Ansatz folgend habe die DDR-Sozialisation mentale Deformation zur Folge, welche sich in antidemokratischen Einstellungen, Fremdenfeindlichkeit, Autoritarismus und fehlender Eigeninitiative äußere. Bürger in den neuen Bundesländern seien demnach aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR deutlich autoritärer geprägt als im Westen Deutschlands (als Überblick: Bulmahn, 2000).

Empirisch ist diese Annahme bereits mehrfach widerlegt. So ist die Tendenz zu autoritären Orientierungen in den alten und neuen Bundesländern ähnlich (Sommer, 2010). Regionale Unterschiede in der Verbreitung rechtsextremer Einstellung resultieren nicht aus der Herkunft aus einem ostoder westdeutschen Bundesland, sondern sind unter anderem auf die aktuelle sozioökonomische Lage im nahen Wohnund Lebensumfeld zurückzuführen. Unter der Wohnbevölkerung wirtschaftlich abdriftender Regionen sind – unabhängig von den Ost-West-Variablen – rechtsextreme Einstellungen stärker ausgeprägt als in stabilen und prosperierenden Gegenden. Unterschiede in den politischen Mentalitäten können sich demzufolge erst dann auflösen, wenn sich die Lebensbedingungen in Westund Ostdeutschland angleichen (Quent, 2012a).

Wenn es nicht um mögliche Ursachen persönlicher Einstellungsund Verhaltensdispositionen in der Vergangenheit (also vor 1989) geht, sondern wie im von Brigitte Böhnhardt aufgeworfenen Beispiel um Folgen sozialer Wandlungsprozesse, die sich bei ihrem Auftreten unmittelbar auf die biografische Lage der Individuen auswirken, ist von situativen Effekten die Rede: Reaktionen, die in der gesellschaftlichen Lage begründet liegen – und nicht in der Sozialisation der Personen.

‚Gelernte' (oder eben auch nicht gelernte) Deutungsweisen und Mechanismen zur Verarbeitung von krisenhaften Situationen können beim Eintreten einer solchen ‚Krise' aktiviert oder neu adaptiert werden. ‚Verlierer' kapitalistischer Modernisierung weisen – nach individueller und milieuspezifischer Lage – unterschiedliche Verarbeitungsmuster der eigenen Desintegration auf. Dazu kann die Unterstützung autoritärer, abwertender und rechtsextremer Axiome der Politik zählen – im Osten und im Westen. Darauf hinzuweisen ist vor allem deswegen relevant, weil die Transformation der bundesdeutschen Gesellschaft keineswegs abgeschlossen, sondern eher ein Dauerprozess ist.

  • [1] Schochow (2013) fasst die Diskussion um die überspitzt als „Töpfchen-These“ bezeichnete Debatte zusamen. Zugrunde liegt eine These von Christian Pfeiffer: „Ostdeutsche, so der Kriminologe Christian Pfeiffer in einem viel beachteten Spiegel-Artikel zehn Jahre nach der friedlichen Revolution, wurden langfristig von einer DDR-spezifischen Erziehungslogik geprägt. Man sei nämlich in DDR-Krippen und –Kindergärten ‚nur wenig auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen und habe zu wenig Raum für deren Entfaltung gelassen.' Diese Kälte führe später zu Fremdenfeindlichkeit“ (ebd., S. 175). Kindergartenkinder in der DDR mussten nach Pfeiffer immer gemeinsam aufs Töpfchen gehen, woraus ihre autoritäre Prägung erwachsen sei.
 
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