Traditionelle Rollenverteilungen

Eine arrangierte Ehe ist nach wie vor nichts Ungewöhnliches in Indien. Tatsächlich stellt auch Nairs Film nicht in erster Linie dieses Phänomen in den Mittelpunkt, sondern die besondere Beziehung von Hansa und Ashoke. Dennoch ist ihre Beziehung eben dadurch geprägt, dass sie sich kaum kennen und dass ihre Ehe im Interesse von ganzen Familienclans gestiftet wurde. Diese Ehe dient Nair in ihrem Film, um ein gesamtes System zu erläutern: Am Beispiel der beiden jungen Menschen wird deutlich, was eingangs in dem Exkurs zur populären Filmkunst Indiens beschrieben wurde, das heißt wie wenig eine individuelle Entscheidung innerhalb einer Familie zählt, wie beinahe unmöglich es ist, als Einzelperson für sich selbst zu bestimmen. In ihrer Beobachtung des Paars lenkt Nair den Blick auch auf die Selbstverständlichkeit der Rollenverteilungen. In einer Szene, die in großer Tiefenschärfe aufgenommen wurde, sitzt Ashoke, wie schon einmal beschrieben, im Hintergrund auf den Treppen des Hauses und gibt sich offensichtlich dem Müßiggang hin. Er trägt Schlafbekleidung, in der einen Hand eine Zahnbürste und in der anderen eine Zeitung, in die er sich vertieft hat. Im Vordergrund füllt Hansa schwere Wasserkrüge an einem Hahn, die sie bald darauf eilig ins Haus schleppt. Obwohl sie sich in unmittelbarer Nähe befinden, reagieren sie in keiner Weise aufeinander. Hier wird auch noch einmal ihre Fremdheit offensichtlich. In der folgenden Szene bedient Hansa Ashoke, der alleine in einem Zimmer auf dem Boden sitzt und isst. Er kaut genüsslich und kümmert sich nicht um ihre Anoder Abwesenheit, sie bringt immer neue Speisen herbei, je nach Gefallen nickt er stumm oder winkt ab. Auch in vielen anderen Szenen wird deutlich, dass die Männer im Haushalt keine Rolle spielen. Diese Tatsache ist ebenso wenig ungewöhnlich oder eine Neuigkeit, wie es das Arrangement der Ehe ist. Besonders ist jedoch die Art, wie sich Nair diesen Umständen widmet. Sie dokumentiert sie beinahe nebenbei. Doch durch die Art der Aufzeichnung, etwa die genannte Tiefenschärfe, oder durch die Montage, kontrastiert sie die Personen und ihre Handlungen und lenkt so schließlich die Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung.

Dass traditionelle Rollenmuster in Ehen und Familien als Motive für die Regisseurin von Interesse sind, zeigt der Fortgang ihres filmischen Werks. Besonders die Beschäftigung mit dem Phänomen arranged marriage wird auch viele Jahre später als zentrales Thema in ihren Spielfilmen Monsoon Wedding und The Namesake auftauchen. In diesen Filmen, wie auch schon in So far from India, ist ihr Blick dabei kein strenger, kein urteilender. Sie betrachtet die arrangierte Ehe hier wie dort wertfrei, dennoch aber in ihren Auswirkungen. Ebenfalls auffallend ist, dass sie sie in allen Fällen mit dem Thema der Migration verbindet. So ist die Beziehung zwischen Hansa und Ashoke vor allem durch seine Abwesenheit geprägt, das heißt durch seine Migration in die USA. So wie in dem Exkurs beschrieben, kommt der Frau in diesem Szenario die traditionelle Rolle zu, den Mann an sein Heimatland, an die Kultur und an die Familie zu binden. Dass die Rolle der Frauen als „Kulturträgerinnen“ insbesondere im Zusammenhang mit der Diaspora von Bedeutung ist, beschreibt auch Michaela Maywald in ihrer Diplomarbeit zum Thema „Indische Frauen in der Diaspora und ihre Darstellung im Diaspora Kino“. Ihm hingegen kommt die Rolle zu, das gemeinsame Leben in verschiedener Hinsicht zu erweitern. Er bringt eine gewisse Weltläufigkeit in die dörfliche Gemeinschaft, was zum Beispiel anhand seiner modernen Geschenke sichtbar wird: Einen Walkman und andere technische Geräte, aber auch neue Musik, die vor allem seinen Vater glücklich macht. Dessen Interesse an Musik, aber auch an Filmen, wird mehrfach deutlich. In einer Szene blättert er in einem alten Buch, in dem Filmtitel aufgelistet sind. Er erklärt Nair, was sein Lieblingsfilm ist (Crime and Punishment) und fragt sie, ob sie Bicycle Thieves (Vittorio de Sica, I 1948) kenne. Dann singt er Filmmusiken nach. Dieses Gespräch muss der Regisseurin eine besondere Freude gewesen sein; es gibt einen Hinweis darauf, was ebenfalls bereits im Exkurs angerissen wurde und was auch in vielen weiteren Filmen Nairs noch zum Tragen kommen wird: Die tiefe und selbstverständliche, in den Alltag integrierte Liebe der Inder zum Film.

 
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