Wunsch nach Freiheit und Wunsch nach Zugehörigkeit
Schon in den ersten Szenen des Films macht Mira Nair deutlich, dass Maya ein äußerst freiheitsliebendes Mädchen ist und sich voller Trotz der gesellschaftlichen Hierarchie verweigert. So weist sie den aufdringlichen Prinzen Biki mit Entschiedenheit zurück. Auch seine Ankündigung, wenn er erst einmal König sei, werde er sie sich zu seiner Frau und Sklavin machen, kann sie nicht einschüchtern. Als sie von der Unterrichtsklasse des Kamasutras ausgeschlossen wird, weil nur höhere Töchter daran teilnehmen dürfen, setzt sie sich ebenso entschlossen darüber hinweg und beobachtet den Unterricht heimlich und voller Neugierde. Maya möchte sich nicht einschränken lassen, sie will sich frei entwickeln können. Es ist auch der Wunsch nach Zugehörigkeit, der das Mädchen antreibt. Dabei ist zu bedenken, dass Maya ein Weisenkind ist und ohne den festen Rahmen einer eigenen Familie aufwächst. Über ihren Vater ist nichts bekannt, über ihre Mutter weiß man, dass sie schon in Mayas früher Kindheit gestorben ist. Zwar hat sie eine liebevolle Ziehmutter, doch die Verbindung zu ihr wirkt eher lose; Maya scheint mindestens genauso viel Zeit mit der königlichen Familie zu verbringen, wie mit ihr. Als Maya den Tabubruch begeht, mit dem zukünftigen Ehemann der Prinzessin zu schlafen, wird sie vom Königspalast verbannt und verliert damit ihr scheinbares Zuhause. Hier wird deutlich, dass sie an diesem Ort lediglich geduldet wurde; sie hat nie wirklich dazugehört. Als Maya anschließend alleine durch die Felder wandelt, sich am Flussufer niederlässt und schließlich die Nacht auf einem Stein liegend verbringt, wirkt sie nicht befreit, sondern einsam und verloren.
„Wo wohnst du? Komm ich bring dich nach Hause“, fragt Jai, kurz nachdem er Maya kennengelernt hat. Als er sich gewahr wird, dass sie gar kein Zuhause hat, kündigt er an, er nehme sie mit zu einem Ort, an dem sie bleiben könne. Er bringe sie zu einer wunderbaren Frau, die das Kamasutra lehre. Als sie kurz darauf bei Rasa Devi eintreffen, unterrichtet diese gerade eine Tanzklasse. Sie brauche einen Platz zum Wohnen, erklärt Jai. Rasa Devi lädt Maya ein, sich den Tanzschülerinnen anzuschließen und sie erlaubt ihr darüber hinaus, bei ihr zu bleiben. „Du kannst dich hier wie eine Tochter fühlen“, sagt sie zu ihr. Rasa Devi wird zu Mayas zweiter Ziehmutter. Parallel zu dieser Entwicklung findet Maya eine neue Zugehörigkeit in dem Zusammensein mit Jai, wie es bereits beschrieben wurde. Rasa Devis Einladung zum gemeinsamen Tanz ist als Ausdruck ihrer Offenheit zu verstehen, aber auch als mütterliche Fürsorge und erinnert in diesem Sinn an Salaam Bombay!. Als Rekha den heimatlosen Krishna zum gemeinsamen Tanzen einlädt, während es draußen in Strömen regnet, ist dies auch eine Geste der Führsorge und eine Einladung, sich für diesen Moment wie Zuhause zu fühlen. In beiden Szenen kommt dem Tanz für die Verlorenen und Heimatlosen die weitere Bedeutung hinzu, ihnen auch auf einer übergeordneten Ebene das Gefühl von Heimat zu vermitteln: So wie sich Krishna mit der Filmwelt des populären Hindi-Films und seinen Tänzen identifiziert, so findet Maya im Tanz ein Gefühl umfassender Zugehörigkeit. Schon am Königspalast waren die Momente des Tanzes mit Tara die einzigen egalitären Momente. Nun führt der Tanz mit Rasa Devi und den anderen Schülerinnen dazu, dass sich ihr eine neue Welt eröffnet, in der sie sich beheimatet fühlen kann. Dass Tanz für Maya mit einem tiefen Gefühl der Vertrautheit und Zugehörigkeit verbunden sein muss, wird schon zu einem viel früheren Zeitpunkt im Film angedeutet, als sie noch ein junges Mädchen ist. Ihre damalige Ziehmutter reibt ihr hier den Rücken ein und spricht davon, wie ihre leibliche Mutter einst so wunderschön und anmutig getanzt hätte. Sie schließt ihre Erzählung mit den Worten: „Die Tanzglöckchen passen zu dir, die deine Mutter dir vermacht hat.“
Durch Rasa Devi und ihre Lehren des Kamasutra gelingt es Maya schließlich, wieder Zugang zu der luxuriösen Welt des Königs zu bekommen und, anders als in ihrer Kindheit, darin eine mächtige Position zu besetzen. Doch es wird deutlich, dass sie nicht die Zufriedenheit erlangen kann, die sie sich erhofft hatte. Dass sie voller Sehnsucht nach Freiheit und der Welt außerhalb der unmittelbaren Herrschaft Rajs erfüllt ist, zeigt eine Szene besonders prägnant, in der eine ausschweifende und dekadente Feier an Rajs Palast stattfindet. Raj berauscht sich mit Opium, lässt Tänzerinnen in feinsten Saris um sich herum tanzen und wird von einer Kurtisane mit purem Gold eingerieben. Am Rand des Saals stehen Maya und Tara und beobachten das Geschehen. Doch zwischen ihnen ist ein Vorhang gespannt, der zwar durchsichtig ist, aber als klare Trennlinie fungiert. Maya befindet sich innerhalb des Raums, Tara steht außerhalb. Beide drehen sich um und kehren dem Treiben den Rücken zu, beide sind offensichtlich davon abgestoßen. Verbittert erkundigt sich Tara bei Maya, ob sie nun glücklich sei, dass der König sie begehre. Maya verneint. Dann beginnt sie von ihrer Sehnsucht zu sprechen. Sie spricht davon, dass sie manchmal, wenn sie einen Blick auf die Welt außerhalb werfe und die Bäume und den Himmel betrachtet, wünschte, sie wären wieder frei wie die Kinder, so wie sie es damals gewesen seien.
Der Schluss des Films zeigt Maya, wie sie zwischen eben diesen Elementen hindurch wandert: Große Bäume säumen ihren Weg und über ihr öffnet sich ein weiter Himmel. Sie entfernt sich von dem königlichen Palast, von Raj und seinen Leuten, auch von Tara, die als aufrechte, neue Herrscherin erscheint und in Zukunft wohl die Macht mit ihrem Bruder Biki teilen wird. Maya hat zum Schluss des Films endlich vollkommene Freiheit gefunden und doch ist es der traurigste Moment in der Geschichte, denn sie hat ihre große Liebe verloren. Ihr kurzer Monolog, der aus dem Off über das Schlussbild gesprochen wurde, macht jedoch auch deutlich, dass sie die Zugehörigkeit, die sie mit Jai an ihrer Seite gewonnen hat, in ihrem Inneren bewahren wird. So löst sich der Widerspruch zwischen ihrem Bedürfnis nach Freiheit und ihrem Bedürfnis nach Zugehörigkeit am Ende auf. Der Schatz, den sie in sich trägt, und mit dem sie trotz ihres schweren Verlusts mutig in die Welt hinaustritt, ist ihr Wissen um die Prinzipien des Kamasutras.
Auch Nairs nächster Film, der für das Fernsehen produzierte Spielfilm My Own Country, dreht sich um schmerzliche Verluste und Abschiede, um den Tod nahestehender Menschen. Ebenso ist es die Geschichte eines Mannes, der aufbricht, um keine Randfigur mehr zu sein, nicht mehr der Spielball Anderer zu sein und der neben Selbstbestimmung auch nach Zugehörigkeit sucht.