The Laughing Club of India (2000)
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Eines Tages im Sommer 1999 steckte Mira Nair in einem Verkehrsstau in Mumbai. Da bemerkte sie eine Menschenmasse, die sich geschlossen über die Straße bewegte. Einige von ihnen trugen Plakate mit der Aufschrift „World Laughter Day“. Doch das Auffälligste war: Sie alle lachten laut. Es sei eine Situation wie aus einem Film von Federico Fellini gewesen, berichtete die Regisseurin von diesem Erlebnis. Ihre Neugierde war geweckt und sie begann zu
recherchieren. Diese lachenden Menschen, so entdeckte sie, gehörten zu einem der 600 sogenannten Lachclubs Indiens. Die Idee zu einem neuen Film war geboren; es sollte der erste Dokumentarfilm Nairs nach fünfzehn Jahren werden. Gedreht wurde The Laughing Club of India im August 1999 in Mumbai, im August 2000 hatte der Film auf dem Kabelsender Cinemax Premiere. Im selben Jahr wurde er auf dem „Festival International des Programmes Audiovisuels“ in Biarritz gezeigt, wo er den Special Jury Prize gewann. Sabrina Dhawan, der kurze Zeit später mit Monsoon Wedding der Durchbruch als Drehbuchautorin
gelang, fungierte als Regieassistentin. Die Kamera wurde von Adam Bartos geführt, der den Film außerdem gemeinsam mit Mira Nair produzierte. Er war bereits bei Kama Sutra und bei Mississippi Masala dabei, damals als Berater, vor allem was den Soundtrack betraf. Barry Alexander Brown war erneut Cutter. Mira Nair kehrte mit The Laughing Club of India sowohl zum Dokumentarischen als auch wieder nach Indien zurück.
Ein poetischer Blick auf Mumbai
The Laughing Club of India beginnt mit einem Establishing Shot auf Mumbai. In einem langsamen Schwenk zeigt der Blick der Kamera die Stadt im Morgengrauen. Noch ist alles still, doch dann kommt das Erwachen. In einer schnellen Montage folgen Bilder von großer Betriebsamkeit: Kinder, die die indische Flagge schwenken, Arbeiter, die schweres Gut auf Transporter heben, Schulmädchen, die auf den Bus warten, Männer, die sich öffentlich frisieren, ein Kricketmatch, Kartenspieler auf einer Baustelle, riesige Abwasserrohre und massenhafter Verkehr. Anschließend folgt die Kamera einer Gruppe von Männern in eine Fabrikhalle, wo sie sich umziehen und ihren Arbeitstag beginnen. Aus einem Topshot wechselt der Blick in die Untersicht, dann mischt sie sich mitten unter die Männer, die nun merkwürdig anmutende Körperübungen ausführen: Gemeinsam dehnen und strecken sie sich, um kurz darauf in brüllendes Gelächter auszubrechen. Sie reißen ihre Münder und Augen auf, fauchen und formen ihre Hände zu Krallen. Wieder folgt ausgelassenes Lachen, bevor sie sich geordnet zu ihren Arbeitsplätzen begeben. Nair zeigt schließlich noch eine Reihe weiterer Situationen, in denen Menschen gemeinsam das Lachen praktizieren, meist auf öffentlichen Plätzen, aber auch im Klassenzimmer einer Grundschule und in einer Schule für Sehbehinderte. Bald wird deutlich, hier handelt es sich um Institutionen, um organisiertes, bewusstes Lachen in Lachclubs. Besonders, wenn sie die Clubs in den Parks oder Hinterhöfen aufnimmt, wechselt die Kameraperspektive immer wieder zwischen Aufsichten und Aufnahmen aus der unmittelbaren Nähe, wobei der Eindruck entsteht, sich inmitten der Lachenden zu befinden. Hier wurde eine Handkamera verwendet, was die hohe Beweglichkeit und Spontaneität sichtbar ermöglicht. Neben den Szenen, in denen die Menschen beobachtet und begleitet werden, gibt es eine Reihe von Interviewausschnitten. Nair führte sowohl mit den Teilnehmern der Lachclubs als auch mit einem ihrer Pioniere, dem sogenannten Lachdoktor Dr. Madam Kataria, ausführliche Gespräche. Ihre Interviewpartner traf sie fast ausschließlich in deren Wohnungen und Häusern, in ihren Wohn- und Schlafzimmern. Sie ließen sich, ihre Kinder und Enkelkinder in intimen Momenten wie beim Beten, Meditieren oder Schlafen und immer wieder beim Lachen filmen. In ihre Erzählungen über die Lachclubs mischen sich ihre persönlichen Geschichten, die zum Beispiel von Eheschließungen im Kindesalter, heimlichen Berufswünschen und Träumen, tiefen Freundschaften oder von dem Verlust eines Sohns handeln.
Ähnlich wie in ihren frühen Dokumentarfilmen zeigt Mira Nair in The Laughing Club of India eine Orientierung an den Methoden des Cinéma Vérité beziehungsweise des Direct Cinema. Dazu gehören die Unmittelbarkeit in der Bildsprache sowie eine intensive Art, sich den Protagonistinnen und Protagonisten sowohl räumlich als auch emotional zu nähern. Doch es bestehen auch deutliche Unterschiede. Zunächst ist festzustellen, dass Nair ihre eigene Person wesentlich weniger involviert, als sie es noch zu Beginn ihrer Karriere tat. Zwar erscheint sie dreimal im Bildkader, zweimal offenbar zufällig und in der Schlussszene bewusst. Hier tritt sie gemeinsam mit einer Protagonistin ins Bild, umarmt sie und lacht mit ihr in die Kamera. Anders als in den frühen Filmen ist sie jedoch insgesamt wesentlich zurückhaltender und es wird deutlich, dass es nicht um einen Effekt geht, den sie als Person auf das Geschehen ausüben will. Sie bleibt weitgehend anonym, ihre persönliche Anwesenheit soll offensichtlich nicht der vertieften Wahrheitsfindung dienen. Ein weiterer Unterschied zu ihren früheren Dokumentarfilmen besteht in einer geringeren formalen Strenge. Vornehmlich hat dies mit der Montage, aber auch mit dem Einsatz der Musik zu tun. So geht Nair in The Laughing Club of India zwar nach eigenem Bekunden dem Phänomen auf den Grund, dass Menschen Lachclubs gründen und besuchen. Doch der Blick der Kamera erscheint entgegen ihren frühen Dokumentarfilmen weniger beobachtend und weniger erforschend. Anders als vor allem in So far from India oder India Cabaret ist die Perspektive der Filmemacherin nicht auf eine bestimmte Gruppe oder eine Familie gerichtet, deren besondere Lebenswelt filmisch durchdrungen werden soll. Vielmehr entsteht durch die Kombination aus einem hohen Montagerhythmus und eindrücklichen Farbarrange-ments sowie besonders durch die mit Musik unterlegten Passagen der Eindruck, als ginge es eigentlich um die Vermittlung der Energie und der Lebendigkeit der Stadt Mumbai – mehrfach entsteht gar der Eindruck eines Videoclips. Während der Kamerablick in ihren frühen Dokumentarfilmen schweifend war, um gemäß den Doktrinen des Cinéma Vérité spontan reagieren und eine Lebenswelt möglichst in ihrer ganzen Fülle erfassen zu können, dominiert in diesem Film der Blick auf Details, die die Stadt als traditionell und modern zugleich zeigen. Die Kamera richtet sich etwa auf Handywerbungen oder Werbeplakate, die titeln: „What's the Mantra for easy internet access?“ oder „INDIA Feel the pain? Act on it“. Diese Bildsprache und die Gestaltung des Films lassen auf das Vorhandensein einer dezidierten künstlerischen Vision, eines Konzepts zur Atmosphäre und Botschaft des Films schließen. So macht sich ein poetischer Stil bemerkbar, den Mira Nair erst nach ihren Dokumentarfilmen So far from India und India Cabaret entwickelt hat.