Freiheit gegen Familie

In keinem ihrer Filme hat Nair die Antagonie von Familie und Freiheit so explizit dargestellt, wie in How Can It Be. Nie stand eine Protagonistin direkter vor der Entscheidung zwischen den beiden Polen und nie schien die Entscheidung radikaler auszufallen: Die Wahl für die persönliche Freiheit geht für Zainab mit dem vollkommenen Verlust der Familie einher. Und doch erzählt die Bildsprache des Films auch etwas über eine Ambivalenz, eine innere Zerrissenheit, die Zainab zwischenzeitlich geprägt haben muss; die Bilder legen Nuancen offen, die auch von dem Glück und der Geborgenheit in der Familie und in ihrem Haus zeugen. Die Eingangssequenz des Films besteht aus einer Abfolge von kurzen Einstellungen, die Zainabs Sicht auf ihr Familienleben zu skizzieren scheinen und deren Präsentation wie das Blättern in einem Photobuch wirkt: Nach einem

Schuss auf einen Koffer in einem dunklen Hausflur folgen Bilder von zwei Teetassen und einem Stück Ingwer, dann eine Einstellung auf ein Bett mit weichen Decken und Kissen. Anschließend folgt eine extrem dunkel gehaltene Einstellung des leeren Treppenhauses, schließlich die Außenfront des Wohnhauses bei Nacht und die kahlen Äste eines Baumes in dessen Vordergrund. Während letztere Bilder, ebenso wie das Bild des einzelnen Koffers, eine düsterere, auch melancholische Atmosphäre wiedergeben, sind die übrigen Bilder in ausgesprochen warmes Licht getaucht und strahlen eine einladende Gemütlichkeit aus. Auch die Musik, die über die Bilder gelegt ist, birgt beides: Die Klänge eines Klaviers und eines orientalischen Streichinstruments haben eine sanfte und gleichzeitig beunruhigende Wirkung, als kündige sich etwas Trauriges an. Gerade in der Starrheit der Bilder, ihrem photoähnlichen Charakter liegt eine gewisse Distanziertheit. Hier erinnert der Film an eine Sequenz in The Namesake: Als Ashima eines Morgens in ihrer neuen Heimat in den USA erwacht, dokumentiert die wie in einem Stakkato vorgetragene Bilderfolge ihre Wahrnehmung der neuen Umgebung, das heißt die Fremdheit in ihrem Blick. Ein Gefühl der Entfremdung prägt auch die Eingangssequenz aus How Can It Be; hier geht es nicht um eine zukünftige, sondern um eine frühere Lebenswelt. Der Eindruck, in einem Photoalbum zu blättern, entspricht dem Eindruck, eine vergangene Welt zu betrachten. Nach der Eingangssequenz wird die Kamera beweglicher und es beginnt die eigentliche Filmhandlung. Die Ambivalenz bleibt jedoch bestehen: Zainab liegt in dem besagten Bett, ihr Mann liegt hinter ihr. Vorsichtig berührt er ihren Arm. Noch sieht die Situation friedlich aus, das warme Licht der Nachttischlampe verbreitet eine behagliche Atmosphäre. Es lässt sich keine Bedrohung erahnen. Doch plötzlich nähert sich Arif Zainab gewaltvoll, will sie zwingen, ihn zu küssen. Mit aller Kraft wehrt sie sich gegen ihn. Anschließend legt sie sich zu ihrem Sohn ins Bett und umarmt ihn fest. Beide weinen bitterlich, als sie ihm von ihrem Entschluss erzählt, ihn und Arif zu verlassen. Gegen Ende des Films gibt es ein zweites Mal einen Schuss auf ihren Koffer, der hier als Sinnbild ihrer Entschlossenheit dient.

Das Bild eines Koffers ist ein typisches Sinnbild im Werk Nairs; immer wieder steht es für den Freiheitsdrang eines Protagonisten oder einer Protagonistin. Schon in Salaam Bombay! ist das Bild von Rekha mit dem Koffer in der Hand Ausdruck ihres festen Willens, ihren Mann und Freier endlich zu verlassen. In My Own Country enthält der Koffer des Protagonisten Gordo die Insignien seines früheren Lebens in Freiheit: Requisiten seiner Bühnenshow und ein Portrait seines früheren Partners. In The Namesake gibt es mehrere Einstellungen von einem Koffer, die für die Abenteuerlust des Protagonisten Ashoke stehen. Ganz besonders erinnert How Can It Be in diesem Zusammenhang jedoch an Vanity Fair. Für Becky gilt der Koffer als Symbol für „Grenzüberschreitung schlechthin“. Eben diese Betrachtung trifft auch auf Zainab zu: Ihr Fortgehen von der Familie kommt einer symbolischen Grenzüberschreitung gleich.

 
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