Zu den Produktionsumständen

Nachdem Emmanuel Benbihy im Jahr 2006 mit dem Episodenwerk Paris, je t'aime eine gesammelte Liebeserklärung an die französische Hauptstadt produziert hatte, setzte er die Reihe seiner Cities of Love-Filme mit New York, I love you im Jahr 2009 fort. Elf Filmemacherinnen und Filmemacher aus verschiedenen Nationen hatten jeweils zwei Tage Zeit zum drehen und eine Woche Zeit für den Schnitt des Materials. Im Mittelpunkt jeder Episode sollte eine Liebesgeschichte stehen, die jeweils mit einem anderen Stadtteil der Metropole in Verbindung gebracht werden sollte. Den Vertrieb des Films übernahm die amerikanische Verleihfirma Vivendi Entertainment, Premiere feierte er im September 2008 auf dem Toronto International Film Festival. Die Kritiken zu dem Omnibus-Film fielen zu einem Großteil negativ aus. So wurde den meisten Episoden Banalität, Müdigkeit oder Unausgereiftheit vorgeworfen, außerdem eine touristisch aufbereitete, künstliche Ästhetik und eine allzu große Glätte, die die Stadt zur Kulisse für „Mann-Frau-Geschichten, nichts sonst“, verkommen lasse. Alles sei in „(…) einem melting pot zu einem Einheitsbrei verkocht worden.“ Vorgeworfen wurde dem Film auch eine gewisse Gleichförmigkeit in der Konzeption und Inszenierung der Figuren. Es handele sich beinahe ausschließlich um hellhäutige und um heterosexuelle Protagonistinnen und Protagonisten sowie um hippe Menschen aus Kreativbranchen.

Nairs Kurzfilm wurde im Gegensatz zu den restlichen Beiträgen einige Male positiv hervorgehoben, so etwa von der New York Times. Tatsächlich hält ihre Episode nahezu allen Kritikpunkten stand. „Ein reduzierter Blick“, wie ihn etwa Kritiker Michael Meyns insgesamt monierte, kann ihr nicht vorgeworfen werden. Im Gegenteil: Ihre Episode ist vielschichtig in ihrer Bedeutung und gibt Binnensichten verborgener Milieus wider.

New York von innen und doch von außen

Mira Nair inszeniert in ihrer Episode kein Postkartenidyll und keine New Yorker Kulisse, wie sie schon zigfach reproduziert und im kollektiven Gedächtnis der Kinogängerinnen und Kinogänger weltweit abgespeichert ist. Stattdessen spielt ihre Geschichte zum Großteil im unspektakulären Hinterzimmer eines Diaman-tenladens. Dieser Raum ist Mansukhbhai alltägliches Arbeitszimmer sowie exklusiven Stammkunden wie Rifka vorbehalten. Dementsprechend wirkt er privat und intim: Bilder seiner Kinder zieren die Wände, er isst an demselben Tisch, an dem die Geschäfte abgehandelt werden. Der Fokus in Nairs Episode liegt auf den Protagonisten selbst; sie sind es, durch die sie ein typisches Bild ihrer Wahlheimat zeichnen will. Auffallend ist, dass Mansukhbhai und Rifka eben nicht hip und in der Kreativbranche tätig sind, auch zählen sie nicht zu der weißen Bevölkerung. Sie sind beide konservative, religiöse Charaktere, die in der Tendenz eher isolierten Lebenswelten entstammen und die ihrem jeweiligen Milieu zunächst streng verhaftet zu sein scheinen. Untereinander wirken sie auf den ersten Blick grundverschieden. Sie ist eine chassidische Jüdin, er ist Jainist. Sie ist eine junge Frau, die kurz vor der Eheschließung und Familiengründung steht. Er ist ein älterer Mann, der bereits verheirat ist und Kinder hat. Auf den zweiten Blick jedoch wirken sie vertraut und dreht sich ihre Kommunikation vor allem um die Suche nach Gemeinsamkeiten. Es gibt offensichtliche Schnittmengen: Beide sind sie in den USA beziehungsweise New York beheimatet, beide verdienen sie ihr Geld im Diamantenhandel. Wie sie feststellen, ist ihnen in ihrem täglichen Leben vor allem gemein, dass es von klaren Verhaltensregeln gekennzeichnet ist, etwa was die Ernährung betrifft. Beide Religionen verlangen ihren Anhängern eine besondere Askese ab und stellen strenge moralische Richtlinien auf. Nachdem sie einander ihre jeweiligen Speiseverbote aufgezählt haben, fügt Rifka in neidischem Tonfall hinzu, Christen könnten ähnlich wie Chinesen einfach alles essen; sie müssten nicht ständig nach einem passenden Restaurant suchen. Genau deshalb gäbe es im Diamantengeschäft keine Christen, resümiert Mansukhbhai. Wie könne man einem Menschen vertrauen, der alles isst?

So begegnen sich diese Protagonisten als Mitglieder von Minderheiten, die sich, halb spaßeshalber, halb ernsthaft, gegen Dominanzkulturen wie die der Christen verbünden. Zu ihrer Schnittmenge zählt auch, dass sie voller Unverständnis für die Enge und Strenge des jeweils eigenen Milieus sind und dass sie sich nach ein wenig mehr Freiheit und Unabhängigkeit sehnen. Was ist so schlimm an den Haaren einer Frau? fragt Mansukhbhai. Er kann die Radikalisierung seiner Ehefrau nicht nachvollziehen. Mit seinen Worten spricht er Rifkas Empfinden aus. Sie identifiziert sich offenbar ebenso wenig mit dem Gebot der Sittsamkeit, nach dem sie in ihrer Religion als verheiratete Frau kein echtes Haar zeigen darf. Auch widersetzt sich Rifka als hart feilschende Geschäftsfrau der Erwartung, ihr Wirken auf das häusliche Umfeld zu beschränken und sich in Zurückhaltung zu üben. Mansukhbhai widerspricht in seinem Beruf als Diamantenhändler seiner eigenen Definition des Jainimus, der, so erklärt er, im Gegensatz zum Hinduismus nicht materialistisch ausgerichtet sei. In ihren Widersprü-chen erscheinen Rifka und Mansukhbhai als typische Figuren im filmischen Kosmos Mira Nairs und als Verkörperung der multikulturellen Gesellschaft New Yorks, zu der die Regisseurin selbst gehört. Ihre Beziehung zueinander, ihre forsche, verspielte und vertraute Kommunikation trotz aller Unterschiede, erscheint dabei wie ein Spiegel für das Zusammenleben der New Yorker und für die gesamte Atmosphäre der Stadt. Es ist der Rahmen dieser besonderen Metropole, so scheint die Botschaft der Episode Nairs zu sein, der diese Art von Zusammentreffen nur möglich macht. Durch ihre Begegnung, das Wiedererkennen des eigenen Unabhängigkeitsstrebens im Anderen, scheint für Rifka und Mansukhbhai in Emanzipationswunsch Formen anzunehmen. Die Phantasie, einander zu heiraten, erscheint als unmittelbares Abbild dieses Wunsches, als möglicher Beginn einer Rebellion.

Schließlich erzählt Mira Nair jedoch eine andere Geschichte. Rifkas und Mansukhbhais Suche nach gemeinsamen Nennern gipfelt in der Vorstellung, sie trage das Haar seiner Frau. In dieser Vorstellung und der darauffolgenden körperlichen Annäherung offenbart sich ihre leise, verdeckte Liebesgeschichte, die heimliche Anziehung, die sie zueinander empfinden. Nicht nur Mansukhbhai sieht Rifka anstelle seiner Frau. Dass sie ihn in der Rolle ihres Mannes sieht, ihn also regelrecht an diese Stelle herbeiwünscht, zeigt die Schlussszene der Episode. Dabei klingt eine typische Stimmung an, die viele Liebesgeschichten in den Filmen der Regisseurin prägt: Das Sehnen aus der Ferne, die nicht nur geografisch definiert sein muss, das viraha ras. Ihrer Gefühle füreinander inszeniert Nair zudem auf eine Weise, die dem populären Hindi-Film entliehen zu sein scheint und doch gleichzeitig auch ihrem eigenen Stil entspricht. So entfaltet sich die Liebe zwischen Mansukhbhai und Rifka in magischen Momenten, in denen die Grenze zwischen Realität und Phantasie verschwimmt. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen Filmen Nairs wird in New York, I love you das Idealprinzip der gegenseitigen Distanz nicht durchbrochen. Die Protagonisten verweilen, anders als viele andere Figuren Nairs, bis zum Schluss in ihren Träumen und Illusionen. Auffallend ist auch, dass sie sich in ihrer Phantasie den Anderen in die jeweils eigene Welt, das eigene kulturelle Umfeld herbeiwünschen. Bilder für eine neue, eine Art Zwischenwelt, die sich aus ihrer beiden kulturellen Hintergründe zusammensetzt, haben sie nicht. Zwar warb Emmanuel Benbihy für die Episode, dass sie eine unerwartete, unerklärliche Liebe zeige, wie es sie so nur in New York City geben könnte. Doch tatsächlich ist Nairs Botschaft eine andere: Ein Zusammenleben jenseits der separaten Milieus und Kulturen ist nicht möglich, offenbar nicht mal in New York.

Der Traum von einem Leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, für das New York wie keine andere amerikanische Stadt steht, blitzt in diesem Film zwar deutlich auf, doch für die Protagonisten geht er am Ende nicht in Erfüllung. So zeigt Nair das Innenleben zweier New Yorker, denen es nicht gelingt, in die Außenwelt, in ein neues und ersehntes Leben zu treten. Damit unterscheiden sich diese Protagonisten von den meisten anderen, den früheren Figuren im filmischen Kosmos Mira Nairs.

 
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