c Die Eingriffsintensität ambulanter Sanktionen
Auf den ersten Blick mag der europaweite Anstieg der Verhängung von ambulanten Sanktionen wie erwähnt den Eindruck erwecken, dass es sich hierbei um Anzeichen einer weniger restriktiven Kriminalpolitik handle, um eine vergleichsweise menschliche Kriminalpolitik und sogar um einen Beweis für den fortschreitenden Zivilisationsprozess, in dessen Rahmen harte Strafen zunehmend durch mildere Strafen abgelöst würden. Von der körperlichen Züchtigung über die Freiheitsstrafe hin zu ambulanter Überwachung könnte sich so eine allmähliche Liberalisierung des Sanktionssystems vollzogen haben.[1] Eine solche Betrachtungsweise lässt jedoch die Möglichkeit eines Net-Widening-Effekts und somit einer Ausweitung der Anzahl von Menschen, die strafrechtlich überwacht werden, völlig unberücksichtigt.
Es gilt hier zu bedenken, dass ambulante Sanktionen durchaus auch als Ergänzung und nicht nur als Ersatz des Freiheitsentzuges genutzt und dass sie auf ganze andere Personen angewandt werden können als auf jene, gegen die ansonsten eine Freiheitsstrafe verhängt worden wäre. Die empirische Frage, inwieweit dies zutrifft, ist einerseits ebenso wichtig wie ihre Beantwortung andererseits selbst bei existierender einschlägiger Forschung schwierig erscheint. Sie muss im Zusammenhang mit Alternativen zum Freiheitsentzug jedoch zwingend berücksichtigt werden. Im Falle eines Net-Widening mag eine ambulante Sanktion nämlich zunächst den Eindruck erwecken, sie stelle eine Alternative zum Freiheitsentzug dar, sich später aber als das Gegenteil entpuppen. In Anbetracht steigender Zahlen von Menschen unter Überwachung in Europa ist es daher zudem bedeutsam, auch back-door-Maßnahmen im engsten Sinne, welche bei keiner Betrachtungsweise als Alternativen zur Freiheitsstrafe betrachtet werden können, sondern an eine solche anschließen, in die Analyse miteinzubeziehen. Ein Beispiel dafür stellt beispielsweise die Führungsaufsicht in Deutschland dar, welche als Überwachungsmaßnahme grundsätzlich auf jene Straftäter angewandt wird, die ihre Freiheitsstrafe voll verbüßt haben, während sie gegen einen Strafgefangenen, der dieselbe Strafe erhalten hat, aber vor dem Endstrafenzeitpunkt aus der Haft entlassen wurde, nicht angeordnet wird. Kommt man zu dem Schluss dass solche backdoor-Maßnahmen, die offensichtlich keinerlei Alternativcharakter zu Freiheitsstrafen aufweisen, in zunehmendem Maße angewandt werden, wie es bei der Führungsaufsicht in diesen Varianten der Fall ist, dann könnte dies als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die Zunahme ambulanter Sanktionen auf eine Zunahme von Überwachungsanordnungen zurückzuführen ist und nicht auf den zunehmenden Ersatz von Freiheitsstrafen durch ambulante Sanktionen.
- [1] van Dijk 1989, S. 437-450