Menschenrechtsstandards als Maßstab für den Vergleich von ambulanten Sanktionen in der Europäischen Union
Menschenrechtsstandards des Europarats
Der Vergleich verschiedener Rechtssysteme – und insbesondere verschiedener Rechtskulturen – kann nicht Gegenstand einer Studie mit dem vorliegenden geringen Umfang sein. Auch wäre es unmöglich gewesen, „die ambulanten Sanktionen in der Europäischen Union“ zu vergleichen. Es hätte vielmehr bestenfalls Sinn ergeben, eine einzige Sanktion zu untersuchen, ohne sie ihrem Kontext zu entreißen. In der vorliegenden Studie haben wir jedoch stattdessen den Ansatz gewählt, Aspekte zu benennen, die für den Vergleich von Sanktionen bedeutsam sind. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage, welche Kriterien beachtet werden müssen, wenn Vergleiche von Sanktionen, soweit diese überhaupt möglich sind, angestellt werden. Eine der Kernfragen solcher Vergleiche ist hierbei der Bezugsrahmen: Welche Erwägungen müssen angestellt werden, wenn verschiedene Sanktionen miteinander verglichen werden sollen? Ein solcher Bezugsrahmen erst ermöglicht eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Sanktionspraxen für eine Studie von Belang sind, sei es in positiver oder in negativer Art und Weise, oder auch nur, weil sie ungewöhnlich erscheinen. Die für einen Vergleich entwickelten Kriterien müssen jedoch für sämtliche EU-Mitgliedstaaten verbindlich sein. Ein entsprechender Konsens ist zum Beispiel im Falle der menschenrechtlichen Standards gegeben, welche ihren Ausdruck in der Europäischen Grundrechtecharta, aber auch noch immer in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) finden.
Obwohl die EMRK kein von der EU hervorgebrachtes Rechtsinstrument, sondern eine Konvention des Europarats darstellt, sind alle EU-Mitgliedstaaten rechtlich an sie gebunden. So sind alle Mitgliedstaaten auch Teil des Europarats und die EU wird selbst gemäß Art. 6 Abs. 2 des Lissabon-Vertrags der EMRK beitreten. Diesbezüglich haben Vertreter der 47 Mitgliedstaaten des Europarats und der Europäischen Union Verhandlungen aufgenommen und einen Entwurf für eine Beitrittsvereinbarung angefertigt. [1] Der Europarat überwacht die Einhaltung der Grundrechte von Personen, deren Freiheit entzogen wurde oder die einer ambulanten Sanktion unterliegen, mittels diverser Instrumente, insbesondere in Form der Steuerungsgruppe des Ministerkomitees, der gerichtlichen Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und mithilfe der Kontrolltätigkeit des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT). Zudem fordert der Europarat von der EU und ihren Mitgliedstaaten die Umsetzung gemeinsamer Bestimmungen zur Anerkennung und zum Schutz der Menschenrechte.
Wenngleich die menschenrechtliche Perspektive für freiheitsentziehende Sanktionen besonders wichtig ist, insbesondere im Hinblick auf deren Eingriffsintensität und die Geschlossenheit (totaler)[2] Institutionen, gilt es, diese Perspektive auch auf nicht freiheitsentziehende Maßnahmen zu beziehen, zumal wenn diese als Ersatz für den Freiheitsentzug angewendet werden. Denn nicht freiheitsentziehende Sanktionen werden zwar vielfach weniger eingriffsintensiv sein als freiheitsentziehende, das ist aber eben nicht notwendigerweise der Fall. Für die Anwendung menschenrechtlicher Standards auf ambulante Sanktionen ist zunächst einmal die Einsicht erforderlich, dass diese Eingriffe in die Rechte der von ihnen Betroffenen umfassen und sie nicht bloß mit der Tatsache gerechtfertigt werden können, dass sich die jeweiligen Individuen schließlich glücklich schätzen könnten, nicht statt dessen eingesperrt zu werden. Ambulante Sanktionen werden vielfach deswegen als Alternative zu Freiheitsstrafen gefordert, weil sie weniger einschneidend wirken als freiheitsentziehende Maßnahmen. Wenn das der Fall ist, und dies ist weniger selbstverständlich als man es auf den ersten Blick annehmen mag, heißt das allerdings noch lange nicht, dass diese Sanktionen keine nennenswerten Einschränkungen der Rechte der Betroffenen mit sich brächten. Vor diesem Hintergrund muss sich eine vergleichende Perspektive notwendigerweise an internationalen menschenrechtlichen Mindeststandards orientieren und auf deren Einhaltung abzielen.