„Nationalsozialistischer Untergrund“
„Man hat zu häufig den Eindruck, als falle Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durch Rechtsextremisten den Mitarbeitern mancher Sicherheitsorgane gar nicht weiter auf, als sei das normal und werde durch unsere Verfassung nicht ausgeschlossen. Das ist unmöglich und muss geändert werden.“
(Herta Däubler-Gmelin, 2013).
Nicht vom Himmel gefallen
Die Thüringer Neonaziszene und der NSU
Stefan Heerdegen
Einleitung
Die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT) berät seit dem Jahr 2001 engagierte Einzelpersonen, Initiativen und Bündnisse, politische Mandatsträger, Vereine und Verbände, aber auch staatliche Institutionen im möglichst widerständigen Umgang mit extrem rechten Erscheinungsformen in Thüringen. Für die Beratungsnehmenden besteht der Mehrwert einer Beratung oft auch in der hohen Informiertheit der Berater/innen. In Anbetracht der Differenziertheit und Schnelllebigkeit der extrem rechten Szene hat Recherche für die Berater/innen einen hohen Stellenwert. Über die Jahre hat sich so eine Fachexpertise in der Bewertung der Thüringer extrem rechten bzw. neonazistischen Szene herausgebildet, die primär den Beratungsnehmenden zur Verfügung gestellt wird. Mit dem vorliegenden Beitrag soll deutlich werden, dass weder die Täter noch die Taten des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), soweit diese bisher bekannt sind, eine „neue Qualität“ darstellen. Sie sind zwar individuell eigen, jedoch auch typische, originäre Beispiele aus der Mitte der thüringischen extrem rechten Szene der 1990er Jahre. In den Tagen nach dem 04. November 2011 wurden sukzessive neun Morde an Migrant/innen, an einer Polizistin, Bombenanschläge und somit die Existenz einer über dreizehn Jahre unentdeckt agierenden Neonazigruppe, deren Eigenbezeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) lautete, bekannt. Vielen Journalist/innen fehlte eine Idee eines adäquaten Umgangs; die Existenz neonazistischen Terrors war schlicht nicht vorstellbar. Manche fragten, ob es sich überhaupt um „Terror“ handelte, fehlten doch im Vergleich zu eingeübten Vorstellungen aus Zeiten der Roten-Armee-Fraktion öffentliche Bekennerschreiben. Hier zeigt sich eine bräsige Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich nicht vorzustellen vermag, dass die Taten des NSU durchaus ihre öffentliche Wirkung innerhalb der Migrant/innen-Communities [1] hatten. Dabei handelt es sich bei den Taten des NSU im Grunde um die konsequente Umsetzung ihrer extrem rechten Ideologie (Gensing, 2012, S. 21ff). Andere wiederum wollten gern bestätigt bekommen, dass es sich bei den ans Licht gekommenen Taten des NSU um eine neue, bisher nicht gekannte Qualität extrem rechter Gewalt handelte, die weder die Öffentlichkeit, noch staatliche Behörden so hätten ahnen können. Die NSU-Morde und -Anschläge weisen tatsächlich ihre eigenen Spezifika auf. Die Mobile Beratung in Thüringen bemüht sich seit jenen Tagen in vielen Interviews deutlich zu machen, dass, bei Kenntnis extrem rechter Ideologie, diese Taten tatsächlich nicht überraschen durften. Der vorliegende Beitrag setzt die Taten des NSU mit der extrem rechten Szene insbesondere in Thüringen in Beziehung. Vor dem Hintergrund von ideologischer Radikalität und praktischer Militanz behalten die Taten des NSU zwar ihre eigene erschreckende Kontur, heben sich jedoch weitaus weniger vom gesellschaftlichen Bild des aktuellen Neonazismus ab als oftmals angenommen. Sowenig mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes Befasste an eine autonom arbeitende, exklusive Zelle ohne Unterstützungsnetzwerk glauben (vgl. König & Haushold, 2014; Oppermann, Hartmann & Högl, 2012), sowenig kann die terroristische Struktur NSU ohne Beziehung zur neonazistischen Szene in Thüringen, im gesamten Bundesgebiet und zur internationalen Neonaziszene betrachtet werden.
- [1] Beispielsweise berichten Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße 2004, dass sie gegenüber den polizeilichen Ermittlern aussagten, dass sie die Täter/innen in Neonazi-Kreisen vermuten (Kölnische Rundschau, 2014).