Die Reproduktion des Finanzialisierungs-Mythos im Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen

Sind Strategien von Leiharbeit und Werkverträgen auf betrieblicher Ebene erst einmal implementiert, so werden sie im Zeitverlauf zu betrieblichen Institutionen, die Akteuren zunehmend als objektive Wirklichkeit gegenübertreten (allgemein Berger/Luckmann 1994): In dem Maße, wie sie dauerhafte Handlungsmuster konstituieren, verändern sie betriebliche Strukturen bzw. sind selbst Gegenstand und Sinnbild dieser Veränderungen, welche sodann den Ausgangspunkt für die Auswahl zukünftiger Handlungsentscheidungen im Bereich personalwirtschaftlicher Strategien bilden und dabei die Spielräume für alternative Wahlentscheidungen ganz erheblich vorstrukturieren (Giddens 1984).

Ein erstmaliger Einsatz von Leiharbeit oder Werkverträgen in einem Unternehmen ist mitunter ein Akt organisationalen Wandels – ein „Innovationsspiel“ (Ortmann 1995), eine Veränderung in den Strategien und Strukturen, die die Privilegien und Interessenlagen verschiedener Akteursgruppen im Unternehmen berühren und somit zu heftigen Konflikten z. B. zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat führen kann. Um ihre Pläne zur Nutzung von Leiharbeit oder Werkverträgen argumentativ zu untermauern (Signifikation) und zu begründen (Legitimation) kann die Geschäftsleitung auf überbetriebliche Deutungsmuster und Legitimationsweisen zurückgreifen, die die Sinnhaftigkeit der Instrumente unterstellen. Um sich gegenüber anderen Interessen im Betrieb – seien es Interessenvertreter, Meister oder Abteilungsleiter – durchzusetzen, nutzt sie aber konkrete Machtmittel, die sich vor allem aus den Eigentumsverhältnissen und dem Direktions- und Weisungsrecht ableiten. Gelingt die Einführung, so reproduziert die Geschäftsführung damit nicht nur die überbetrieblichen Strukturen, auf die sie möglicherweise zur Interpretation und Legitimation der Neuerung zurückgriff; sie verändert auch betriebliche Regeln der Signifikation und Legitimation und generiert darüber hinaus zusätzliche Machtmittel, die in Form der Kontrolle über die neuen Personalstrategien vor allem ihr selbst zugute kommen. Routinen der Nutzung von Leiharbeit oder Werkverträgen werden so zu einer betrieblichen Institution; im Zeitverlauf erhalten sie den Charakter einer Selbstverständlichkeit, sie erscheinen als normal und rational. Die Geschäftsleitung betreibt

‚institutional work' auf betrieblicher Ebene und reproduziert dabei gleichzeitig vorhandene Strukturen auf überbetrieblicher Ebene: Sie nutzt ihre Machtressourcen, um die sozialen Praktiken der Personalwirtschaft und – manchmal intendiert, manchmal als Nebenfolge – die Machtverteilung im Feld personalwirtschaftlicher Strategien nachhaltig (und zu ihren Gunsten) zu verändern.

Die Reproduktion und Stabilisierung von Leiharbeit und Werkverträgen geschieht auch durch Praktiken der Arbeitgeberverbände. In öffentlichen Verlautbarungen wird offensiv die Unumgänglichkeit der Leiharbeit diagnostiziert; auch finden sich Aussagen, die den Mythos befördern, Leiharbeit generiere letztlich vor allem positive Effekte (vgl. Fußnote 5). Betont wird zum Beispiel die hohe Tarifbindung in der Leiharbeitsbranche, wobei die zum Teil faktisch benachteiligenden Inhalte der Tarifverträge verschwiegen werden. In ähnlicher Weise wird der im Vergleich zur Gesamtwirtschaft hohe Anteil Vollzeitbeschäftigter interpretiert, der sich mitunter aber durch fehlende Wahloptionen hinsichtlich einer Volloder Teilzeitbeschäftigung oder durch das geringe Entgeltniveau erklärt. Auch ein noch so geringer „Klebeeffekt“ kann als gute Eigenschaft der Leiharbeit gedeutet werden.

Ein erhebliches Maß an Legitimation erfahren die Instrumente über staatliche und verbandliche Politik und Symbolik, die durchaus Ambivalenzen beinhalten: Während die Leiharbeit eine zunehmende Regulierung erfuhr, wurden andere prekäre Beschäftigungsformen (450-€-Jobs) weiter befördert. DGB-Gewerkschaften vereinbarten in Tarifverträgen zwar verbesserte, jedoch nach wie vor benachteiligende Arbeitsbedingungen für Leiharbeitskräfte, obgleich die Konkurrenz der Christlichen Gewerkschaften passé ist (Schwitzer/Schumann 2013)[1]. Die fortlaufende Nutzung von Leiharbeit und Werkverträgen trägt indirekt auch zur Legitimierung der mit ihnen verbundenen benachteiligenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bei. Da die Instrumente den Unternehmen bei ihren Bestrebungen um Flexibilisierung und Kostensenkung eine unverzichtbare Hilfe seien und die so erlangte (globale) Wettbewerbsfähigkeit letztlich allen Beteiligten – über die Stabilisierung der Unternehmen und Arbeitsplätze auch den Leiharbeitskräften – zugute komme, erscheinen die Benachteiligungen als ‚Beitrag' von Beschäftigtenseite ‚hinnehmbar'. Risiken werden so individualisiert; Prekarisierung erscheint dann weniger als Folge politisch-ökonomischer Strukturierung denn als individuell-persönliches Schicksal oder gar als persönliche Fehlleistung (Brinkmann et al. 2006).

Der Einwand negativer Effekte auf Arbeit und Beschäftigung wird oft mit dem Argument gekontert, es handele sich um unerwünschte Begleiterscheinungen eines an und für sich sinnvollen Instruments, die mit Hilfe der richtigen politischen oder (tarif-)vertraglichen Regulierungen – also keinesfalls von den Unternehmen selbst – beseitigt werden können. Entsprechend geht es bei den politischen Versuchen, Leiharbeit zu regulieren gerade auch darum, die Folgen bestimmter Nutzungsweisen zu sanktionieren, also ungewollte ‚Auswüchse' wie Lohndumping etc. einzuhegen, ohne jedoch die grundlegenden Funktionen des Instruments selbst tangieren zu müssen[2].

Nicht zuletzt trägt die bereits erwähnte Tendenz zur Überhöhung der Bedeutung des Phänomens zur Stabilisierung des Mythos bei. Setzt die Majorität in einer Branche auf ein bestimmtes Flexibilisierungsinstrument, so drängt sich für ein Unternehmen zwangsläufig die Vermutung auf, es handele sich um ein unumgängliches Modell, welches im ökonomischen Wettbewerb entscheidende Vorteile eröffne (DiMaggio/Powell 1983). Die Legitimation von Leiharbeit und Werkverträgen wird dadurch befördert, dass die zunehmende Verbreitung der Instrumente eine Bestätigung genau der Probleme enthält, zu deren Lösung sie genutzt werden. Wenn immer mehr Unternehmen Leiharbeit und Werkverträge einsetzen und damit positive Effekte erzielen, dann tragen die Instrumente offensichtlich nicht nur dazu bei, wahlweise Flexibilisierungs-, Kostensenkungs-, Erprobungsoder sonstige Funktionen zu leisten; sie suggerieren auch, dass die entsprechenden Probleme (Flexibilisierungsbedarfe, Kostensenkungsdruck, zu geringe Probezeiten usw.) für Unternehmen tatsächlich virulent sind. Die zunehmende Verbreitung von Leiharbeit und Werkverträgen fungiert somit als Beleg dafür, dass die vermeintlichen Zwänge, zu deren Bewältigung sie eingesetzt werden, in der Praxis existieren.

Dem Wandel überbetrieblicher und betrieblicher Deutungs- und Begründungsstrukturen konnten und können sich auch Gewerkschaften und Betriebsräte nur schwer entziehen. Zwar stehen auch Betriebsräten durch Regelungen des BetrVG und AÜG Machtmittel zur Verfügung: Die Zustimmung zur Beschäftigung von Leiharbeitskräften kann der Betriebsrat prinzipiell verweigern, in der Praxis liegt aber ein hinreichender Grund nur dann vor, wenn der Arbeitgeber plant, Stammkräfte durch Leiharbeiter zu ersetzen oder – nach einem Urteil des BAG (10.7.2013, 7 ABR 91/11) – wenn die Arbeitnehmerüberlassung grundsätzlich nicht „vorübergehend“ geplant ist[3]. Bei Werkverträgen sind die Einflussmöglichkeiten gering. §80 BetrVG gibt dem Betriebsrat lediglich ein Informationsrecht bezüglich des im Betrieb aktiven Fremdpersonals.

Bei Betriebsräten und Gewerkschaften ist im Laufe der letzten Jahre ein Wandel in der Einstellung zur gewerblichen Leiharbeit zu verzeichnen. Wurde sie von der IG Metall zu Beginn der 1990er Jahre noch als „moderne Sklavenarbeit“ grundsätzlich diskreditiert (IG Metall 1992), finden sich derartige Deutungen heute nur noch vereinzelt. Die ausdrucksstarke Symbolik („Sklavenarbeit“) implizierte eine grundlegende ethisch-moralische Abwertung, die DeLegitimation dieser Personalstrategie und ihrer Konsequenzen. Dass Leiharbeit eine in irgendeiner Weise sinnvolle, notwendige oder gar gerechte und wünschenswerte Beschäftigungsform sein könnte, wurde prinzipiell in Abrede gestellt. Hintergrund des in jüngerer Zeit eher ‚pragmatischen' Umgangs mit Leiharbeit und Werkverträgen sind indes oftmals existenzielle Bedrohungen. So werden Betriebsräten Zugeständnisse im Hinblick auf Flexibilisierung und Kostensenkung seitens der Geschäftsleitung mit Hilfe von Schließungsoder Verlagerungsplänen abgerungen. Zum Teil existieren aber auch komplementäre Interessenlagen zwischen den beteiligten Akteursgruppen Geschäftsleitung, Betriebsrat und Leiharbeitsbzw. Werkvertragsarbeitskräften. Während Geschäftsführungen mit dem Einsatz von Werkvertragsarbeitskräften auf Kostensenkungen und Flexibilisierung setzen, akzeptieren offenbar gerade Beschäftigte ausländischer Werkunternehmen geringe Löhne und Überstunden aufgrund des vergleichsweise hohen Entgelts, das sie mit einer Beschäftigung in Deutschland realisieren, oder weil ihnen zuvorderst daran gelegen ist, ein verlässliches Einkommen (ungeachtet der eingesetzten Arbeitszeit) zu erzielen (Brinkmann/Nachtwey 2014). Betriebsräte hingegen agieren vor dem Hintergrund ihres Interesses, die privilegierte Lage der Stammbelegschaft und verbliebene Arbeitsplätze zu schützen – zumal, wenn sie bereits Outsourcingwellen durchlebt haben oder von der Geschäftsleitung mit Schließungsoder Stellenabbaudrohungen unter Druck gesetzt werden. Betriebsräte versuchen so oft, die Einsatzlogik des Instrumentes zu moderieren, votieren jedoch nur im äußersten Ausnahmefall gänzlich gegen die Nutzung von Leiharbeit (Klemm et al. 2008; s. auch die Ergebnisse einer Befragung von Betriebsräten zum Thema Leiharbeit; Wassermann/Rudolph 2007).

Neue gewerkschaftliche Strategien – wie z. B. die 2008 begonnenen bundesweite „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“-Kampagne der IG Metall – lassen sich als Antworten auf den Pragmatismus vieler Betriebsräte interpretieren, die letztlich auf ein erweitertes Solidaritätsverständnis und eine Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Leiharbeitsbranche zielen.

Gerade auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Auswirkungen von Leiharbeit und Werkverträgen in jüngerer Zeit öffentlich problematisiert und diskutiert werden, scheint es bedeutsam, sich genauer mit den inneren Widersprüchen von Leiharbeit und Werkverträgen auseinanderzusetzen. Einige dieser Aspekte werden nachfolgend diskutiert.

  • [1] In welcher Weise sich tarifvertragliche und gesetzliche Regulierungen der Leiharbeit positiv auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auswirken, bleibt abzuwarten. Hinsichtlich des Entgelts aber kann von der Fortschreibung der Benachteiligung ausgegangen werden, da die vereinbarten Zuschläge nach Branchen stark variieren und als Stufenmodelle konzipiert sind, also erst greifen, wenn eine Leiharbeitskraft mehrere Monate in dem selben Unternehmen beschäftigt ist (s. z. B. Schwitzer/Schumann 2013). Im Durchschnitt sind Leiharbeitskräfte jedoch nur drei Monate beschäftigt
  • [2] Anzumerken ist hier, dass sich gerade die ‚typischen' Probleme der Leiharbeit nur in Teilen überhaupt ‚regulieren' lassen. Zwar kann der Gesetzgeber auf „equal pay and treatment“ hinwirken, grundlegende Aspekte, die die Funktionslogik der Leiharbeit betreffen, sind jedoch kaum zu überwinden. Hierzu zählen die fehlende Integration in das betriebliche Sozialsystem und die erhöhte Unsicherheit von Beschäftigung, Arbeitszeiten und Einsatzorten
  • [3] Die Einstellung einer Leiharbeitskraft bedarf der Zustimmung des Betriebsrates, weil das BetrVG (§ 99) nicht den Bestand eines Arbeitsverhältnisses, sondern die Eingliederung in den Betrieb (samt Weisungsrecht) als zentralen Umstand ansieht. Hierin besteht ein Unterschied zu regulären Werkverträgen, da hier ein Werkunternehmen Leistungen mit bei ihm angestellten Personal erbringt. Nur wenn eine Werkvertragsarbeitskraft im Betrieb tätig ist oder gar in die Abläufe des Bestellers integriert wird (verdeckte Leiharbeit) kann der Betriebsrat weitere Rechte geltend machen (§ 80)
 
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