„Aktivierende“ Arbeitszeitregulierung in Deutschland
Es ist nicht möglich, Praktiken anderer Länder zu kopieren. Arbeitszeitpolitik in Deutschland muss an den hierzulande gesammelten Erfahrungen und an der hiesigen Mitbestimmungs- und Verhandlungskultur anknüpfen und die in Jahrzehnten erarbeiteten Stärken tarifvertraglicher und betrieblicher Arbeitszeitpolitik ausbauen. Doch dabei kann staatliche Arbeitszeitpolitik wesentlich wirkungsvoller helfen als bisher. Die neuen Möglichkeiten staatlicher Arbeitszeitpolitik in Deutschland werden erkennbar, wenn man über zwei Fragen nachdenkt: Wie kann staatliche Arbeitszeitpolitik dazu beitragen, überlange Arbeitszeiten zu einem Konfliktthema zu machen? Und: Wie kann staatliche Arbeitszeitpolitik dabei helfen, kurze Vollzeit – also Arbeitszeiten im Bereich von 30 bis 35 Wochenstunden – attraktiver zu machen?
4.2.1 Lange Vollzeit zum Konfliktthema machen
Eine neue Dynamik der Arbeitsteilung zwischen staatlicher und kollektivvertraglicher Begrenzung der Regelarbeitszeit ist wohl erst dann zu erwarten, wenn gesetzliche Regulierung eine Normierung mit engem Rahmen vornimmt und branchenbzw. betriebsspezifische Anpassungen – aber nicht Durchlöcherungen! – ausdrücklich an den Abschluss von Kollektivvereinbarungen knüpft. Dadurch bekommt die Normensetzung den Charakter einer initiierenden oder aktivierenden Regulierung, der über eine klassische Schutzfunktion hinausgeht[1].
Eine engere gesetzliche Arbeitszeitbegrenzung wäre ihrem Charakter nach – ähnlich wie der gesetzliche Mindestlohn – eine Mindestnorm. Selbst wenn sie, anders als in Frankreich, die 40-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit festlegen würde, hätte sie unmittelbare und mittelbare Auswirkungen auf die betriebliche Arbeitszeitpraxis. Nicht allein, dass viele individuelle Arbeitsverträge insbesondere im außertariflichen Bereich an diese Norm angepasst werden müssten. Angesichts der wachsenden Gruppe sog. AT-Angestellter wäre bereits dies von erheblicher Bedeutung. Ein noch wichtigerer Impuls ginge aber möglicherweise auf das Verhandlungssystem aus. Dies lässt sich zum Beispiel in Österreich beobachten: Das dortige Arbeitszeitgesetz schreibt (ebenso wie in einer Reihe weiterer EU-Länder) die 40-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit vor. Es bietet aber die Möglichkeit an, auf der Basis von Tarifverträgen flexible betriebliche Arbeitszeitregelungen einzuführen, die zu einer zeitweiligen Überschreitung der wöchentlichen Normalarbeitszeit von 40 Stunden im Rahmen längerer Ausgleichszeit
räume führen. Im Ergebnis wurden in der österreichischen IT-Wirtschaft Branchentarifverträge zur Arbeitszeit mit einer Tarifbindung von nahezu 100% abgeschlossen – eine Ausnahmeerscheinung in Europa (Hermann/Flecker 2006). Staatliche Arbeitszeitregulierung kann also selbst in einem Wirtschaftszweig wie diesem die Herausbildung eines Tarifvertragssystems provozieren. Ein solcher Weg mag manchem zu kompromissorientiert erscheinen, aber wahrscheinlich ist er besser geeignet, die Arbeitszeitrealität in bestimmten Branchen oder Tätigkeitsbereichen zu beeinflussen, als es eine Norm wäre, die wegen ihrer „Praxisferne“ de facto wirkungslos bliebe.
Selbst eine flexible gesetzliche 40-Stunden-Woche wäre in Deutschland eine weitaus engere rechtliche Vorgabe als die gegenwärtige Arbeitszeitgesetzgebung. Deshalb dürfte bereits dieser vermeintlich kleine Schritt hierzulande nur gegen den heftigen öffentlichen Widerstand der Arbeitgeberverbände durchzusetzen sein (unterstützt von zahlreichen „Wirtschaftsexperten“, die mit großem Medienecho den Untergang des Standorts Deutschland prophezeien würden). Eine solche Politisierung wäre sogar nützlich, denn sie könnte in vielen Betrieben eine äußerst belebende Wirkung auslösen: In dem Maße, wie eine derartige neu geschaffene gesetzliche Norm mit bestehenden Praktiken der Arbeitszeitorganisation kollidiert, die von vielen Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen als ebenso problematisch wie unveränderbar betrachtet werden, bieten sich neue Möglichkeiten der kollektivvertraglichen Interessenpolitik unter den jeweiligen betriebsoder branchenspezifischen Bedingungen. Eine gesetzliche 40Stunden-Woche könnte in Deutschland helfen, überlange Wochenarbeitszeiten bestimmter Beschäftigtengruppen zu einem Konflikt- und Verhandlungsthema in der Öffentlichkeit und im Betrieb zu machen. Durch eine enger gefasste gesetzliche Regelarbeitszeit würden Tarif- und Betriebsparteien zu Vereinbarungen angeregt, die den betrieblichen Akteuren mehr Bezugspunkte und „Haltegriffe“ für gesunderhaltende Arbeitsbedingungen bieten. Selbstverständlich wird ein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung allein noch nicht die betriebliche Wirklichkeit verändern. Doch besteht der Gedanke aktivierender Regulierung ja gerade darin, Akteuren auf verschiedenen Handlungsebenen Instrumente überhaupt erst einmal in die Hand zu geben – sie zu nutzen, liegt dann in deren Verantwortung.
Der besondere Charme dieses Herangehens bestünde darin, dass eine restriktivere staatliche Normensetzung einerseits zwar Ausdruck der Schwächung des Tarifvertragssystems wäre, aber andererseits einer aktiven, beteiligungsorientierten gewerkschaftlichen Interessenvertretung neue Anknüpfungspunkte böte. Auf den ersten Blick betrachtet reagiert der Staat also als „Beschützer der letzten Instanz“, tatsächlich aber spielt er den Ball zurück an die Tarifvertragsparteien und an alle betrieblichen Akteure. Dass eine solche Erwartung nicht aus der Luft gegriffen ist, lässt sich jetzt bereits im Zuge der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns beobachten, die zu einer Belebung von Tarifverhandlungen in den einschlägigen Branchen führt.
4.2.2 Kurze Vollzeit attraktiv machen
Eine neue Balance von gesetzlicher und tarifvertraglicher Arbeitszeitregulierung müsste unter den deutschen Bedingungen aber ebenso die indirekte staatliche Regulierung einschließen, die gewöhnlich nicht als Arbeitszeitregulierung begriffen wird. Dies betrifft vor allem die Förderung von kurzer Vollzeit, der eine Schlüsselrolle bei der Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsleben zukommt.
Bislang besteht die indirekte staatliche Arbeitszeitregulierung in Deutschland vor allem in den institutionellen Anreizen für eine besonders starke Geschlechterdifferenzierung bei den Arbeitszeiten. Gegenläufige, aber bislang wesentlich schwächer wirkende Anreize gehen vom Elterngeld aus, die durch 2014 beschlossene Maßnahmen wie „ElterngeldPlus“ und „Partnerschaftsbonus“ verstärkt werden dürften. Etwas weiter in dieselbe Richtung geht der von der Friedrich-EbertStiftung angeregte Ausbau des Partnerschaftsbonus zu einer Lohnersatzleistung bei kurzer Vollzeit in Paarhaushalten mit Kindern (Müller et al. 2013). Und bereits im Gleichstellungsbericht der letzten Bundesregierung wurde ein „Gesetz über Wahlarbeitszeiten“ vorgeschlagen, das Optionen für einen Wechsel zwischen Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit oder vollzeitnaher Tätigkeit zusammenfasst und den Tarifvertragsparteien entsprechende eigene, an die Branchenbedingungen angepasste Initiativen nahelegt (Sachverständigenkommission 2011, S. 222)[2].
Solche sehr unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind Varianten aktivierender – teils direkter, teils indirekter – staatlicher Regulierung, die sowohl von einzelnen Beschäftigten genutzt als auch von den Tarif- und Betriebsparteien aufgegriffen werden können. Insgesamt würden sie individuelle Möglichkeiten fördern, die tatsächlichen stärker an die gewünschten Arbeitszeiten anzupassen, und könnten zu einer allmählichen Erosion eingefahrener betrieblicher Arbeitszeit- und Anwesenheitskulturen beitragen.
- [1] Dieser Gedanke knüpft an Sengenbergers (1994) Unterscheidung von schützenden, fördernden und auf Beteiligung abzielenden Standards an („protection, participation, promotion“)
- [2] Der Demografie-Tarifvertrag für die Chemieindustrie mit seiner Option einer zeitweilig auf 80% reduzierten Vollzeit („RV 80“) ist ein Beispiel dafür, wie kollektivvertragliche Fondslösungen zukünftig unmittelbar an gesetzlichen Anreizen anknüpfen können. Er wird bislang allerdings vor allem für den flexiblen Übergang in die Rente genutzt. Anregungen für die gesetzliche Förderung von Wahlarbeitszeiten bieten Bildungs- und Elternzeit-Regelungen in Schweden und der sog. Zeitkredit in Belgien (Anxo 2013; LFA o.J.)