Über den Schutz hinaus: Kurze Vollzeit als Chance für alle
Staatliche Politik hat dem Finanzmarktkapitalismus auf vielfältige Weise den Weg geebnet, nicht zuletzt durch Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt. Die unsozialen Folgen dieser Poilitik können aber auch dazu führen, dass aus der Gesellschaft neue, höhere Erwartungen an den Staat als „Beschützer der letzten Instanz“ gerichtet werden. Dies ist vor allem dort zu beobachten, wo die Wirksamkeit des Tarifvertragssystems für die Garantie sozialer Mindestsicherungen nachlässt. Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland markiert einen solchen Paradigmenwechsel: Auf dem Feld der Lohnpolitik beginnt ein neues Ausbalancieren in der Wechselwirkung von tarifvertraglicher und staatlicher Arbeitsmarktregulierung.
Eine vergleichbare Neujustierung ist in Zukunft auch für die Arbeitszeitpolitik vorstellbar. Angesichts des Ausfransens der über längere Zeiträume etablierten Arbeitszeitstandards ist es auch in Deutschland bei weiterhin unbestrittenem Vorrang tarifvertraglicher Arbeitszeitregulierung durchaus sinnvoll, über die vertrauten Muster der Arbeitsteilung zwischen Staat und Tarifvertragsparteien hinauszudenken.
Anregungen dazu bieten die in Frankreich gesammelten Erfahrungen mit dem Übergang zur gesetzlichen 35-Stunden-Woche. Auch in diesem Land mit seinen starken Traditionen des Etatismus in der Gestaltung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen erweist sich die Verankerung einer neuen rechtlichen Norm in den Arbeitszeitrealitäten als ein komplexer und langwieriger gesellschaftlicher Prozess. Insbesondere zeigt sich, wie sehr diese Veränderung durch
– im Sinne der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers – Fehlanreize in der Gesetzgebung selber behindert oder sogar in Frage gestellt werden kann. Dies betrifft vor allem die massiven Anreize zu Arbeitszeitverlängerungen bei höher qualifizierten Angestellten, die in den zurückliegenden zehn Jahren wesentlich dazu beigetragen haben, die ursprüngliche Verkürzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten teilweise wieder rückgängig zu machen.
Die aus deutscher Sicht vielleicht wichtigste Lehre betrifft jedoch das durch eine strengere gesetzliche Arbeitszeitbegrenzung mögliche Positivsummenspiel zwischen gesetzlicher und kollektivvertraglicher Arbeitszeitregulierung. Die Art und Weise, in der die 35-Stunden-Woche in Frankreich eingeführt wurde, hat den zuvor völlig unterentwickelten betrieblichen Verhandlungen über die Arbeitszeitorganisation einen mächtigen Schub gegeben. Diese Verhandlungen waren wichtig für Kompromisse über die Flexibilisierung der Arbeitszeiten bei planbarer Freizeit, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Mehrheit der Beschäftigten die Arbeitszeitverkürzung als positiv für die Lebensbedingungen bewertet.
Vor allem an den Arbeitszeitverlängerungen einer rasch wachsenden Minderheit unter den Angestellten wird jedoch deutlich, dass eine betriebliche Verhandlungspraxis, die sich auf die Mitwirkung der Betroffenen stützt, bislang die Möglichkeiten der weitaus meisten betrieblichen Interessenvertretungen in Frankreich übersteigt. Demgegenüber böte eine engere gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit in Deutschland mit seiner stärker entwickelten betrieblichen Verhandlungspraxis große Chancen. Eine gesetzliche 40-Stunden-Woche als Normalarbeitszeit (d. h. im Durchschnitt eines definierten Zeitraums, aber ohne Ausnahmen, wie sie das französische Gesetz für cadres vorsieht) wäre ein neuer, hilfreicher Ansatzpunkt und Hebel für betriebliche Vereinbarungen, bliebe aber andererseits ohne derartige Vereinbarungen und deren auf die Beteiligung der Betroffenen gestützte Durchsetzung im betrieblichen Alltag lediglich bedrucktes Papier.
Die Provokation einer gesetzlichen 40-Stunden-Woche würde helfen, lange Vollzeit zu einem Konfliktthema in vielen Betrieben und in der Öffentlichkeit zu machen. Dazu müsste sie als eine im besten Wortsinne „aktivierende“ staatliche Regulierung ausgestaltet sein. Insofern wäre der Staat bei der Arbeitszeitbegrenzung – teilweise im Unterschied zum Mindestlohn – nicht in erster Linie „Beschützer der letzten Instanz“, sondern er würde Verhandlungen zwischen den sozialen Akteuren provozieren und auch neue rechtliche Möglichkeiten anbieten, um den Wunsch von Beschäftigten nach stärkerer Kontrolle und Begrenzung der eigenen Arbeitszeit besser durchsetzen zu können, sobald er artikuliert wird. Aktivierung durch Unterstützung der Durchsetzungsfähigkeit – so könnte man diese Herangehensweise zusammenfassen.
Zugleich kann kurze Vollzeit attraktiver gemacht werden: durch staatliche Anreize insbesondere auf dem Feld der Gleichstellungspolitik, die den tarifvertraglichen und betrieblichen Akteuren Anknüpfungspunkte bieten. Angesichts der in unserem Land besonders und weitaus stärker als in Frankreich ausgeprägten Geschlechterdifferenzierung bei den Arbeitszeiten (ähnlich wie bei den Gehältern) kommt es darauf an, die gleichstellungshemmenden Formen „indirekter“ staatlicher Arbeitszeitregulierung abzubauen und durch gleichstellungsfördernde Instrumente wie staatlich und betrieblich geförderte Phasen kurzer Vollzeit für Paarhaushalte mit Kindern zu ersetzen. Derartige Initiativen können dazu beitragen, den Weg zu ebnen für eine Dynamik in Richtung auf kurze Vollzeit als einem gesellschaftlich akzeptierten neuen Leitbild. Diese Dynamik würde von dem großen Umbruch profitieren, den Cross (1989, S. 231) bereits vor 25 Jahren so beschrieb: „Die Zwei-Verdiener-Familie mit ihrer Arbeitszeitbelastung ist der Platz, von dem wahrscheinlich ein neues Streben nach eigener Zeit ausgehen wird.“
Eine moderne staatliche Regulierung ist darauf gerichtet, die Initiative der Tarifvertrags- und Betriebsparteien zu fördern und einzelne Beschäftigte zu ermutigen, ihre Arbeitszeitinteressen stärker zur Geltung zu bringen. Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus machen das Potenzial einer aktivierenden staatlichen Arbeitszeitregulierung nicht obsolet, sondern ganz im Gegenteil: Sie setzen es neu auf die Tagesordnung. Das Leitbild, dem eine derartige Herangehensweise folgt, lässt sich mit einem einfachen Slogan zusammenfassen: „Kurze Vollzeit als Chance für alle“.