Tarifverträge und Tarifpolitik

In der Energiewirtschaft liegt die Tarifbindung nach Beschäftigten, wie auch die nach Betrieben, weit über dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. Insgesamt waren in 2011 88% der Beschäftigten tarifgebunden, davon 71% in einem überbetrieblichen und 17% in einem firmenbezogenen Tarifvertrag (Ellguth/Kohaut 2012; Abbildung 2). Allerdings ist die Tarifbindung im letzten Jahrzehnt um 9% gesunken. Zudem fand vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts eine leichte Verschiebung zugunsten der Firmentarifverträge statt, die auf Auslagerungen und Ausgründungen der Großunternehmen beruhen dürfte.

Abbildung 2: Tarifbindung im Energiesektor nach Beschäftigten (in %)

Quelle: IAB-Betriebspanel (Ellguth/Kohaut 2012)

Die überbetrieblichen Tarifverträge werden durch die innerhalb und zwischen den Einzelverbänden bestehenden Tarifgruppen strukturiert (Tabelle 2). Die Tarifgruppen zu E.ON und Vattenfall Europe sind jeweils verbandsübergreifend zwischen zwei Verbänden organisiert. Zudem gibt es Tarifgruppen auch zu Unternehmensverbünden wie der Thüga.

Tabelle 2: Tarifgruppen der Arbeitgeberverbände

Verband

Organisationsdomänen und Tarifgruppen

AGWE

RWE /Nordrhein-Westfalen

AVE

E.ON /Thüga /Vattenfall Europe

AVEU

Vattenfall Europe/Ostdeutschland

AGV Bayern

E.ON /Thüga /Bayern

Verband

Organisationsdomänen und Tarifgruppen

AGV Ba-Wü

EnBW /Baden Württemberg

AGV Energie/Südwest

RheinlandPfalz

AVN

Nahverkehr

Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände

Stadtwerke

Trotz der Differenzierung nach Tarifgruppen sind die Verhandlungsführungen wegen der Zentralisierung der Geschäftsführung im VAEU häufig personenidentisch. Die Tarifkommissionen der Arbeitgeber hingegen rekrutieren sich aus Vertretern der Unternehmen der jeweiligen Tarifgruppen. Die Verbandsexperten fragen auch kleinere und nicht vertretene Unternehmen nach ihren Wünschen und Interessen. Insgesamt aber dominieren die Großunternehmen.

„Die Verhandlungen führen die Arbeitgeberverbände. Das aber in enger Abstimmung mit den Großunternehmen. Es kommt bei Verhandlungen vor, dass nachts der Vorstandsvorsitzende des jeweiligen Großunternehmens angerufen und gefragt wird, ob das Ergebnis auch so von seiner Seite aus akzeptabel ist.“ (Experte IG BCE)

Integrationsprobleme der kleineren Unternehmen wie Regionalversorger oder kommunale Energieanbieter, soweit nicht in den kommunalen Arbeitgeberverbänden organisiert, sind bislang nicht aufgetaucht, weil diese ihrerseits von der führenden Rolle der Großunternehmen bei Tarifverhandlungen profitieren. Die Großunternehmen fungieren als Avantgarde bei der Durchsetzung neuer Tarifnormen im Interesse des Arbeitgeberlagers. Die Tarifverhandlungen der Branche laufen, wie anderswo auch, nach dem Geleitzugprinzip ab, das hier aber auf besondere Weise funktioniert: Eines der Großunternehmen übernimmt die Führung bei der Durchsetzung eines konfliktbehafteten Themas wie beispielsweise möglichst niedriger Anstiege der Tarifentgelte oder der tariflichen Ausgestaltung des Personalabbaus, und die anderen Tarifgruppen übernehmen diese Regelungen dann in ähnlicher Weise. Der Vorzug für die kleineren Unternehmen besteht vor allem darin, dass sich Tarifkonflikte auf die Großunternehmen konzentrieren. Aus diesem Grund führen die Arbeitgeberverbände auch keine Streikkassen. Die Großunternehmen, in denen sich, EnBW ausgenommen, nach den Fusionswellen inzwischen die Organisationsbereiche der Gewerkschaften überschneiden, können die Kosten von Arbeitskämpfen aus eigenen Mitteln schultern. Und die kleineren regionalen Anbieter fahren gut im Windschatten der Großbetriebe. Dazu trägt entscheidend bei, dass in der Energiewirtschaft, anders als in der Automobilindustrie, keine hierarchischen Zulieferketten und Konflikte um die Verteilung der Gewinne existieren (vgl. Haipeter/Slomka in diesem Band).

„Die Unternehmen betrachten es als Vorzug, dass sie als Verbandsmitglieder nicht so stark im Fokus der Gewerkschaften stehen. Wenn gestreikt wird, sind die Kleinen davon nicht betroffen. Die Kleineren sind an dieser Stelle ganz froh, im Windschatten der Großen segeln zu können.“ (Experte VAEU)

Die Tarifinhalte sind wegen der Fusionswelle und des Geleitzugprinzips der Tarifverhandlungen homogener geworden. Die Dauer der Arbeitszeiten liegt zumeist bei 38 Wochenstunden, und alle Tarifverträge gestatten eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeiten bis hin zu Lebensarbeitszeitkonten. In allen Tarifverträgen wurde das vormals prägende Senioritätsprinzip zugunsten einer Stärkung der Leistungsvergütung – teilweise beruhend auf Zielvereinbarungen als tariflichem Entgeltgrundsatz – weitgehend abgeschafft. Zudem enthalten die Tarifverträge, als Ausdruck der gewachsenen Kapitalmarktorientierung der Unternehmen, vielfach auch Erfolgsentgelte als Entgeltkomponente, die an finanzwirtschaftliche Kennziffern gebunden sind (vgl. dazu auch Haipeter/ Slomka in diesem Band). Schließlich finden sich in den meisten Tarifverträgen Regelungen zum Sozialschutz, die durch befristeten Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen oder tariflichen Bestandschutz bei Auslagerungen und Ausgründungen der Beschäftigungssicherung dienen. Nicht existent sind allerdings Öffnungsklauseln für Tarifabweichungen. Den Verzicht darauf begründen die Arbeitgeberverbände mit der Gegenwehr der Gewerkschaften.

„Öffnungsklauseln für Tarifabweichungen haben wir aber nicht. Die Unternehmen wären darüber sicherlich erfreut, aber für die Gewerkschaften ist das Thema schwierig. In dieser Frage verhält sich die IG BCE auch im Energiebereich ganz anders als in ihrer Chemiesparte.“ (Experte VAEU)

Dieses Bild modernisierter Tarifverträge mit guten Arbeitsbedingungen hat allerdings starke Risse bekommen. Ausschlaggebend dafür sind vor allem zwei Entwicklungen, die beide zu den ersten Arbeitskämpfen in der Branche seit Jahrzehnten geführt haben. Die erste Entwicklung ist die Aufweichung des Sozialschutzes und die Einführung differenzierter Tarifstandards für unterschiedliche Beschäftigtengruppen. Einzelne separate Tarifverträge für einfache Dienstleistungen wie den Kantinenbetrieb oder für gesonderte Bereiche wie IT-Dienstleistungen gab es bereits seit längerer Zeit. Im Jahr 2011 aber nahm diese Entwicklung eine neue Qualität an, als E.ON gesonderte Tarifstandards für seine Personal- und Controllingabteilungen forderte und auch durchsetzte. Die organisatorischen Voraussetzungen dafür hatte das Unternehmen dadurch geschaffen, dass es die Abteilungen im Konzern zentralisierte und als eigenständige Gesellschaft ausgründete. Diese Strategie wurde verbunden mit der Drohung, die betreffenden Bereiche nach Rumänien auszulagern, falls nicht Unterschreitungen der tariflichen Lohnstandards von 20% für bestehende und 40% für neue Beschäftigte sowie Ausweitungen der Arbeitszeiten auf 40 Wochenstunden eingeführt würden.

Im Kompromiss, dem die Gewerkschaften schließlich zustimmten, wurden die Löhne in geringerem Umfang als gefordert gesenkt – mit relativem Besitzstandschutz für Altbeschäftigte – und die Arbeitszeiten um eine Stunde angehoben. Dennoch wurde damit eine Bresche der Tarifabsenkung auch für die Kernbelegschaften geschlagen, der im Geleitzug die anderen Tarifgruppen folgten. Es waren wiederum Tarifauseinandersetzungen bei E.ON, in denen diese Bresche entscheidend vergrößert wurde. Im Tarifkonflikt Ende 2012 setzte das Unternehmen, trotz Warnstreiks der Gewerkschaften, eine Abschwächung des Besitzstandschutzes durch. Von nun an muss bei Ausgründungen zwar noch eine Tarifbindung vorhanden sein, aber nicht mehr die der Energiewirtschaft. Die Ausgründung von Tätigkeiten und Beschäftigtengruppen wird zu einem funktionalen Äquivalent für andere Formen der Tarifabsenkung wie Öffnungsklauseln oder OT-Status. Aus Sicht des VAEU ist dies ein entscheidender Schritt, um die Tarifverträge für ihre Mitglieder attraktiv zu erhalten.

„Unser erstes tarifpolitisches Ziel lautet, Tarifverträge anzubieten, die für unsere Mitglieder so attraktiv sind, dass sie im Tarifvertrag und im Verband bleiben. In diesem Zusammenhang ist der Dienstleistungstarifvertrag des letzten Jahres sehr wichtig.“ (Experte VAEU)

Die zweite Entwicklung bilden Personalabbau und Druck gegen Lohnsteigerungen. Im Gefolge der Energiewende haben die Großunternehmen E.ON und RWE umfassende Personalabbauprogramme angekündigt, in deren Zuge E.ON insgesamt 11.000 Stellen (rund 6.000 in Deutschland) und RWE 10.400 Stellen (etwa

4.000 in Deutschland) streichen wollen. Auf Drängen der Gewerkschaften konnte der Personalabbau zwar jeweils tarifvertraglich geregelt werden, doch wurde die Beschäftigungssicherheit dabei deutlich verringert, sei es durch Ermöglichung betriebsbedingter Kündigungen bei E.ON oder durch Verkürzung der tariflichen Beschäftigungszusagen auf zwei Jahre bei RWE. Zudem forderten die Unternehmen erstmals die Aussetzung von Lohnsteigerungen in Tarifverhandlungen. Die Gewerkschaften haben deshalb Warnstreiks und, ebenfalls erstmals seit Jahrzehnten bei E.ON, Urabstimmungen organisiert, um überhaupt noch Lohnsteigerungen durchzusetzen.

Mit dem Strategiewandel der Unternehmen und Verbände ziehen neue Konflikte in die Arbeitsbeziehungen ein. Der alte sozialpartnerschaftliche Verteilungskompromiss gehört offensichtlich der Vergangenheit an, weil die Großunternehmen im Zeichen schrumpfender Profitspielräume auf Kostensenkung, Personalabbau und Auslagerung setzen. Die Auswirkungen für die regionalen Anbieter sind nicht so klar. Eine Möglichkeit wäre eine verschärfte Kostenkonkurrenz in der Branche, die zu Ausdifferenzierungen der Tarifniveaus führen könnte; eine zweite Möglichkeit wäre, dass die regionalen und anderen Anbieter die Tariferfolge der Großunternehmen begrüßen und auf sich übertragen wollen, Im ersten Fall würde das Tarifmodell des Windschattens, das die Branche bislang kennzeichnet, in Frage gestellt. Im zweiten Fall würde es weiter funktionieren, wenn auch nach einer neuen Logik. Die Logik der Sozialpartnerschaft würde der Logik der Umverteilung von Löhnen zu Profiten weichen.

Die Gewerkschaften der Branche versuchen unter den neuen Bedingungen, ihre Konfliktfähigkeit mit einer betriebsnahen Tarifpolitik zu steigern und die Beschäftigten in den unternehmensbezogenen Verteilungskonflikten stärker zu beteiligen. Die Tarifstrukturen der Branche bieten dafür gute Möglichkeiten. Dies und die Zunahme von Konflikten könnte für die Unternehmen und die Arbeitgeberverbände die von Ver.di erhobene Forderung nach einheitlichen Branchentarifverträgen interessant machen. Denn ein Vorteil der Branchentarifverträge für die Großunternehmen besteht ja darin, die Großunternehmen aus der Konfliktlinie zu nehmen und die Tarifentwicklung an der Leistungsfähigkeit der gesamten Branche auszurichten. Damit würden sich die Tarifstrukturen der Branche normalisieren. Die Effekte für die Gewerkschaften wären aber ambivalent, weil die Zunahme an Zentralität damit bezahlt werden könnte, dass sich die Großunternehmen in den Tarifverhandlungen hinter den kleineren Anbietern verstecken.

 
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