Weil rechter Terror immer vorstellbar war, war das BfV kompromisslos bei der Wahl der Mittel

Eines der Haupteinsatzgebiete für die Abteilung Lingens in den frühen 1990er Jahren waren die neuen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – hier warben Lothar Lingen und andere zentrale Informanten, die über die Jahre für das BfV und die Szene immer wichtiger wurden. Darunter jener Thomas Richter aus Halle an der Saale, der über Uwe Mundlos berichtete (Corelli), dazu kamen Ralf „Manole“ Marscher (Tarnname Primus), der in Zwickau lebte und Michael See aus Thüringen (Tarnname Tarif) – See war zentralen Kadern der verbotenen Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) besonders nah. Dazu gehörten Akteure, die sich bereits als Extremisten betätigt hatten, zudem berichtete See über Kontakte mit verurteilten Rechtsterroristen. Das BfV nimmt für sich in Anspruch, so geht es jedenfalls aus den Aussagen der BfV-Mitarbeitern vor dem NSU-Ausschuss hervor, dass man die eigenen V-Männer „im Griff“ hatte; dass man sie, sobald sie etwa Straftaten begingen, „abschaltete“, also nicht mehr mit ihnen als Informanten zusammenarbeitete. Auch habe man nie verurteilte Gewalttäter als Quellen geführt. Beide Behauptungen sind bei näherer Betrachtung nicht haltbar.

Das BfV wollte unbedingt mitbekommen, wann sich von der diffusen Szene eine organisierte Terrorzelle abspalten würde. Um diese Informationen aus der gewaltbereiten rechten Szene zu bekommen, nahm die Führung des BfV daher viel in Kauf. So galt der Informant Ralf Marschner als besonders gewaltbereit; Antifaschisten in Zwickau kannten und fürchteten ihn. Gegen den V-Mann Michael See wurde wegen versuchten Totschlags ermittelt, er wurde schließlich wegen schwerer Körperverletzung verurteilt, im Gefängnis radikalisierte er sich weiter. Er zog scharfe Waffen und bedrohte damit politische Gegner – trotzdem wurde er nach seiner Zeit im Gefängnis als Informant geworben.

Dieses Risiko zahlte sich – scheinbar – für das BfV aus. Vor allem Michael See und Thomas Richter berichten ausführlich über die rechte Szene. Sie verrieten Namen von Mitstreitern, Pläne für Aufmärsche und militante Aktionen. Das BfV beobachtete in dieser Phase allerdings ebenfalls, dass Informanten anderer Inlandsgeheimdienste weniger zuverlässig waren. Das galt vor allem für Tino Brandt aus Thüringen, Tarnname Otto, Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS).

Tino Brandt soll 1994 vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) geworben worden sein. Er behauptete sogar in einem heimlich aufgenommenen Gespräch, dass er sehr viel länger und schon als Minderjähriger dem Verfassungsschutz berichtet hatte – dafür gibt es jedoch keine Belege in den Akten des LfV Thüringen. [1]

Brandt hatte mit Wissen des LfV Thüringen den „Thüringer Heimatschutz“ gegründet. Durch die Beschäftigung mit dem THS stieß dann auch das Bundesamt für Verfassungsschutz auf Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und Holger Gerlach – alles mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer des NSU, die gemeinsam in Jena aufgewachsen waren, inzwischen entweder tot sind oder im Münchener NSU-Prozess angeklagt wurden.

Ralf Wohlleben und Beate Zschäpe können dabei als formale Gründungsmitglieder des THS gelten – sie beantragten im Februar 1995 unter dem Namen „Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ eine Demonstration durch Jena – „zur Bewahrung Thüringer Idendität [sic] gegen die Internationalisierung durch die EG“. Man wollte also gegen die „EG“, die Europäische Gemeinschaft, demonstrieren, die sich damals allerdings schon EU nannte. Es ist das erste Mal, dass der Name „Thüringer Heimatschutz“ auftaucht.

Zschäpe und Wohlleben wurden zu einem Gespräch bei der zuständigen Behörde geladen. Dort berichteten sie, dass man auch darüber nachdenke, eine Partei zu gründen. Vor allem Beate Zschäpe konnte bei dem Treffen jedoch nicht verheimlichen, dass die Demonstration fremdenfeindliche Tendenzen haben könnte. Die Thüringer Behörden, vor allem das Innenministerium, nahmen den Vorgang ernst. Die Demonstration wurde verboten, das Landeskriminalamt eingeschaltet, Informationen zusammengetragen. Das Innenministerium erfuhr, das Tino Brandt eng mit dem Anti-Antifa-Strategen Christian Worch aus Hamburg kooperiert, dass er etwa von Worch Schriftsätze in Sachen Demonstrationsanmeldung übernommen hat. Brandt wurde schnell als Kopf hinter der „Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz“ erkannt und so auch in einem Vermerk beschrieben. Kurz nachdem er V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes geworden war, hatte er also begonnen, die Szene zu organisieren und strukturieren – und beides war den entsprechenden Führungspersonen im Thüringer Innenministerium bekannt.

Die Reaktion der Thüringer Behörden auf die neue Gruppe um Brandt, Zschäpe, Wohlleben und andere ist durchaus typisch für die Bekämpfung der rechten Szene – man nahm die Mitglieder, obwohl sie noch sehr jung waren, ernst, schaltete auch Behörden des Bundes ein, darunter auch das BfV – gleichzeitig verstrickte man sich durch die Rekrutierung führender Neonazis als V-Männer indirekt als Staat mit der Szene.

Die „Interessengemeinschaft“ und später der „Thüringer Heimatschutz“ wurde ein behördlicher Vorgang und blieb es für viele Jahre. Fast nichts, was die jungen Thüringer Neonazis in den nächsten Jahren machten, blieb unbemerkt. Die Behörden betrieben einen gewaltigen Aufwand, um diese Szene aufzuklären – in den Griff bekam man sie dennoch nicht. Im Gegenteil.

  • [1] Das BfV, so ergab die Beweisaufnahme des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, hat mindestens in einem Fall auch einen Minderjährigen in Thüringen als V-Mann rekrutiert.
 
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