Essen und Exil

Das zwangsweise Verlassen des Heimatgebietes kann große Lücken reißen. In der neuen Umgebung wird der Verlust erst deutlich. Dies vollzieht sich auch auf der Ebene des Essens, bislang nicht in Frage gestellte Verhaltensmuster können ins Wanken geraten. An die Stelle gewohnter Speisen treten mitunter seltsam schmeckende Nahrungsmittel. Nach ihrer Ankunft aus Kabul wurde den Uiguren in Ankara ein klassisches türkisches Frühstück serviert. Die beigelegten Oliven sorgten für einige Verwirrung unter den Uiguren und werden immer noch in den Interviews thematisiert. Zwei Geschichten, die in verschiedener Form immer wiederkehrten und dem von offizieller Seite der Funktionäre gebetsmühlenartig wiederholten Erzählungen des schnellen und unproblematischen Einlebens in Kayseri widersprechen, lassen sich auch im weiteren Kontext des Essens ansiedeln. Die Aussage einiger Uiguren, "Sie [die Türken in Kayseri] haben versucht, uns das Essen mit Messer und Gabel beizubringen", ist nicht nur metaphorisch zu deuten. Es bedeutet, dass die Uiguren die Frage, ob sie mit Messer und Gabel essen können als zivilisatorischen Maßnahmen der Türken wahrgenommen haben. In Anbetracht der Tatsache, dass viele der älteren Uiguren nach wie vor so wie in Xinjiang üblich mit Stäbchen essen, ist es keine allzu verwunderliche Frage. Über den Kontakt mit der lokalen Bevölkerung in Kayseri sagten einige, "Sie haben uns angeschaut, als wären wir Menschenfresser." Diese Essens-Metapher rüttelt am Bild der unproblematischen Anpassung und sagt nicht nur Positives über die Gastgesellschaft aus. Die Uiguren fühlten sich als bedrohliche Eindringlinge wahrgenommen. Das Schreiben über das Essen, welches aus dem Heimatgebiet bekannt ist, erfüllt mehrere Funktionen: das Erinnern, das Auffrischen von Erinnerungen an alte Zeiten, die Weitergabe des persönlichen und kulturellen Hintergrundes an nachfolgende, in einem anderen sozialen Kontext geborene Kinder. Und es kann helfen, mit Sehnsüchten umzugehen, die sich wie im Fall von vielen Uiguren, in einer starken Melancholie äußern können.

Nahrung und Nostalgie

Die Nostalgie des Vorwortes ist eine eigene Untersuchung wert. Auf zwei Seiten ist in stark verdichteter Form über die der Migration innewohnenden Verluste und traumatischen Erfahrungen zu lesen. Der schwerwiegende Aufruhr und die Wut der Autorin sind förmlich zu spüren. Das Herkunftsland, in diesem Fall repräsentiert durch eine Mutterfigur, wird idealisiert: "Mein Türkistan! Mein Osttürkestan, mein Mutterland, Land meiner Ahnen, mein Paradies, Heimat meiner Seele, mit deinen grünen Feldern, deinen süßen Wassern, deinem lebenswerten schönen Leben."

Zwei Referenzen fallen auf: zum einen Türkistan, als großtürkische Region und die Untereinheit Osttürkestan, als Heimatland der Autorin und ihrer Vorfahren. Diese zweigliedrige Einstufung ist typisch für die Diskurse der Uiguren in der Türkei bis in die 1990er Jahre, in denen der territorial-nationalistische Bezug überwog. Als politischer Regionsbegriff grenzt er diese Region, dieses "Gebiet der Türken", von den ihn umgebenden russischen und chinesischen Einflüssen ab. Er erweckt den Eindruck, eine einen großen geographischen Raum umspannende kulturelle Einheit zu repräsentieren. Innerhalb dieser türkischen Einheit bilden die Osttürkistaner, folgt man der Autorin, eine lokale Ausprägung.

In den weiteren Zeilen ist die Vergangenheit sehr dominant. Zum einen die scheinbar erinnerte und sehr bildhaft an Orte gebundene beschriebene Vergangenheit der Autorin. Ihre Erinnerung an Osttürkestan im Allgemeinen und Yarkent im Besonderen will aber nicht zu einem Gebiet passen, das am südlichen Rand der Taklamakan-Wüste liegt. Dann rückt die glorreiche imperiale Vergangenheit Osttürkestans ins Zentrum, die Helden der osttürkestanischen Geschichte, die Errungenschaften in den Bereichen der Kunst und der Wissenschaft. Dies ist eine in den nationalistischen Narrativen der Uiguren häufig auftretende Form der Glorifizierung der Vergangenheit. Diese wird, der Ansicht der Autorin nach, von fremden Mächten zerstört. Ohne, dass sie sich direkt auf die chinesische Besetzung und Ausbeutung beruft, wird dem Leser deutlich, wer gemeint ist. Sie kommt in den nächsten Zeilen mit einer dramatischen Sprache auf die Leiden zu sprechen, die sie als Migrantin fernab der Heimat durchmachen musste, zurück auf eine individuelle Ebene, "Ich bin nur eine von den Jämmerlichen, die dich [Osttürkistan] in der Ferne leben." Aber auch hier deutet sie eine Kollektivität an, die sie im nächsten Satz mit Zahlen untermauert. Nicht nur die Osttürkestaner im Exil, auch die 35 Millionen Türken in Osttürkestan, die sie stellvertretend für die Bevölkerungszahl in Xinjiang nennt, leiden. Im gesamten Vorwort taucht das Ethnonym Uigure nicht auf.

Auf der Ebene der Identitätsproduktion sind zwei Vorstellungen zentral. Zum einen die Zugehörigkeit zu der Gruppe der Türken, nicht weiter definiert, außer durch die politisch-geographische Bezeichnung Türkistan und zum zweiten die emotionale Anbindung an Osttürkestan. Die als apodiktische Gewissheit formulierte Zugehörigkeit zu einer Religionsgruppe, "wir sind Türken, wir sind Moslems, aber zuvorderst sind wir Diener Allahs", wird zweifach mit Nachdruck betont. Dieses Vorwort kann auch als typisches Diskursfragment der uigurischen 1965er-Exilanten gelesen werden. In den Interviews mit politisch aktiven Uiguren tauchten diese Abgrenzungen und Positionierungen oft auf. Ihre Positionierung auf der Identitätsebene erfolgte regional als Osttürkistaner, kaum einer bezeichnete sich als Uigure.

Von zentraler Bedeutung auf diesen zwei Seiten im Vorwort ist die Affinität zum Heimatgebiet. Diese Affinität oszilliert in einem Gefühlsfeld von Melancholie, Nostalgie, Pantürkismus und Nationalismus. Wobei dem spezifisch uigurischen Nationalismus, ohne das Wort uigurisch explizit zu nennen, von der Autorin zunächst nur eine kleine Bedeutung zugeschrieben wird, wenn vom nationalen Erbe, welches nicht in Vergessenheit geraten sollte, die Rede ist. Die hier deutlich formulierte kollektive Trauer, das kollektive Leiden, welches sich in einer versteinerten Nostalgie äußert, findet sich in den Interviews als sentimentales Verlangen nach vergangenen Zeiten und verlassenen Orten. Dieses chronisch-kollektive Trauern kann als Melancholie bezeichnet werden, die sich wiederum als Anzeichen einer nicht vollzogenen Bewältigung der traumatischen Prozesse im Zuge der Migration deuten lässt. Diese Opferrolle wird zu einem zentralen Aspekt der Ideologie eines Teils der Uiguren in der Türkei. Teilweise führt das zu Auseinandersetzungen mit den nachfolgenden Generationen. Einer meiner jüngeren Interviewpartner thematisierte das fortlaufende Klagen der älteren Uiguren, kein Heimatland zu haben. Er beklagt sich darüber, "dass ich mit der Belastung groß geworden bin, kein Heimatland zu haben. Dabei ist meine Heimat doch die Tür-kei." In einigen Fällen konnte ich bei jungen Uiguren, die in den Interviews Probleme der Zugehörigkeit thematisierten, eine zunehmende Radikalisierung und Begeisterung für rechte und rassistische Gruppen bemerken.

Das Vorwort endet mit den Worten, dass die Autorin ihre Gewissenspflicht oder Gewissenschuld mit Gottes Hilfe und den Gebeten der Leser erfolgreich begleichen möchte. Man kann dies als Anzeichen einer unbewussten Schuld lesen. Dieses Muster von Überlebenden-Syndromen fand sich auch in vielen Interviews wieder, an Stellen, an denen es hieß, dass den zurückgelassenen geschworen wurde, ihnen in der Osttürkestanischen Sache zu helfen. Die während der Flucht Umgekommenen werden in diese Bringschuld miteingebunden. Es lässt sich eine Überlebensschuld gegenüber den Verstorbenen und der alten Heimat herauslesen. Einige Uiguren fühlen sich schuldig, dass es ihnen nun ökonomisch besser geht. Akhtar schreibt, dass dieses Phänomen gerade bei Migranten aus territorial oder politisch instabilen Gegenden zu beobachten ist und den "Trauer-Befreiungsprozess der Immigration" mühsam macht. Nostalgie, ein exzessives Sehnen nach vergangen Zeiten und Orten findet sich nicht nur in der oben vorgestellten Textpassage, sondern in vielen Erzählungen und Texten der Uiguren.

Im Schlussabsatz äußert die Autorin auch die Hoffnung auf den Tag, an dem die Unabhängigkeit sich zeigen wird. Damit ist auch eine Rückkehr mitgedacht. Diese erhoffte Rückkehr macht es gerade für Migranten von Gruppen, die keinen eigenen Nationalstaat besitzen noch schwieriger, den Prozess der Trauer und der Bewältigung voranzutreiben.

Nachdem die Autorin im Vorwort ihre Motivation für das Abfassen dieses Kochbuches dargestellt hat, stehen dann die Rezepte im Mittelpunkt. Aber auch die sind nicht frei von politischen Positionierungen. Sie zeigen sich, mal mehr, mal weniger subtil in den begleitenden Texten. Exemplarisch sollen einige Diskursfragmente nachgezeichnet werden, die sowohl den Gesamtdiskurs erhellen, als auch Hinweise auf Veränderungen und Brüche geben.

 
< Zurück   INHALT   Weiter >