Geschichte des Begriffs
Es ist kein Zufall, dass der Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus (der ursprunglich von Josef Stalin Ende der 1920er Jahre gepragt wurde, um Abweichungen der amerikanischen kommunistischen Partei zu geißeln) nach dem 2. Weltkrieg Konjunktur gewinnt und seine heutige Bedeutung annimmt. Das geschieht unter dem Eindruck des Zusammenbruchs Europas. Angesichts einer scheinbar endlosen Kette von Kriegen, Diktaturen und historischen Katastrophen versichern sich die USA mit dem Begriff des Exzeptionalismus, dass es ihnen offensichtlich vergo¨nnt ist, sich von diesen historischen Gesetzmaßigkeiten zu befreien und es ihnen (durch go¨ttliche Fugung) gelungen ist, eine Gesellschaft zu schaffen, der das europaische Schicksal erspart bleiben wird. Damit kann zugleich gerechtfertigt werden, dass die USA nach dem 2. Weltkrieg eine Fuhrungsrolle in der westlichen Welt ubernehmen: In ihrem Exzeptionalismus ko¨nnen sie Europa und dem Rest der Welt als Vorbild dienen fur das, was mo¨glich ist, wenn ideologische Konflikte und Klassenkampfe uberwunden sind. Die Ideale und Werte der amerikanischen Nation uber nationale Grenzen hinweg zu verbreiten und zur Basis einer neuen Weltordnung zu machen, konnte auf diese Weise zur weltgeschichtlichen Aufgabe werden.
Aus der Perspektive des amerikanischen Exzeptionalismus wurden die Sonderrolle und Einzigartigkeit der USA dadurch ermo¨glicht, dass man die Probleme der Alten Welt bei der Ankunft in der Neuen Welt hinter sich zurucklassen konnte. Da es keinen Feudalismus gab, bedurfte es auch keiner franzo¨ sischen Revolution mit all ihren Exzessen; da man keine Aristokratie und Standegesellschaft vorfand, gab es keine verfestigten Klassenstrukturen und damit auch keine Notwendigkeit zum Klassenkampf. Bereits um 1906 hatte der deutsche Soziologe Werner Sombart die Frage gestellt (und zum Gegenstand einer viel beachteten Studie gemacht), warum es in den USA keine nennenswerte sozialistische Bewegung gebe. (Sombart 1906). In Zeiten des Kalten Krieges und der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus musste diese Frage neuerlich aktuell werden; zugleich aber konnte sie im Verweis auf einen amerikanischen Exzeptionalismus wirkungsvoll entscharft werden. Rodgers fasst pointiert zusammen, was den USA im liberalen Selbstbild alles erspart geblieben ist: „No Robespierre, no de Maistre [ein bedeutender Vertreter der Gegenaufklarung], no Marx, no Goebbels, no Stalin, only an eternal Locke.“ (Rodgers 1998, S. 29; Hartz 1955) Wurde der amerikanische Exzeptionalismus zunachst durch Einzelmerkmale wie das Fehlen einer sozialistischen Bewegung oder eine stabile demokratische Tradition definiert, so weitet sich der Begriff zunehmend zur Bezeichnung fur die Besonderheit und Einzigartigkeit der USA insgesamt.