Die zweite große Erweckungsbewegung (1790–1860)
Allerdings blieb auch nach den ersten Erweckungen des 18. Jahrhunderts und der Revolutionsara das Gros der amerikanischen Bevo¨lkerung kirchlich ungebunden. Insofern hatten sich die gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen seit den 1740er Jahren mit Blick auf die Mo¨glichkeit religio¨ser Erweckungswellen nicht maßgeblich geandert. Und wirklich, kaum war die erste Welle abgeflaut, kam es ab circa 1790 zu neuen Aufbruchen, die diesmal von der neuen Westgrenze in Kentucky und Tennessee ihren Ausgang nahmen. Wie funf Jahrzehnte zuvor, entzundete sich das Feuer des apokalyptischen Enthusiasmus an der Frage der akademischen Ausbildung der Geistlichkeit. Und erneut machten sich selbst ernannte Wanderprediger, darunter der ehemalige Rechtsanwalt Charles Grandison Finney, auf den Weg, um große Massen anzusprechen und zu bekehren. Diesmal waren die Erweckungskampagnen deutlich professioneller als zuvor (Hochgeschwender 2007). Die Prediger wurde durch Orchester und Paraden angekundigt, man traf sich zu großen Camp Meetings auf freiem Feld, wo mitunter vier bis funf Prediger uber drei Tage hinweg Tausende von begeistern Zuho¨rern in Taumel religio¨ser Ekstase versetzten. Menschen walzten sich im Schmutz und flehten lautstark um Vergebung ihrer Sunden. Der Bruch mit der Vergangenheit wurde regelrecht theatralisch inszeniert, die Idee des Neuen, der Fortschritts im geistig-geistlichen Leben bekam einen vollkommen neuen, bislang unbekannten Charakter. Außenstehende Beobachter aus dem Mainstream sowie Katholiken wandten sich angewidert ab und bezweifelten die Ernsthaftigkeit der Motive sowohl der Glaubigen als auch der Prediger. Ungeachtet dieser skeptischen Vorbehalte ließ sich der einmal entfachte Sturm nicht mehr aufhalten. Modernen Schatzungen zufolge waren um 1830 rund 90 % der praktizierenden amerikanischen Protestanten evangelikal. Die neuen Enthusiasten ubernahmen die strukturellen Grundlagen der vorrevolutionaren Erweckungen und koppelten sie mit modernen Kommunikationstechnologien. Wiederum zeitgleich in Großbritannien und den USA nutzten sie Eisenbahnen, um mo¨ glichst große Menschenmassen zu Camp Meetings zu transportieren, oder den Telegraphen und Zeitungen, um ihre Inhalte zu verbreiten.
Vor allem jedoch passten sie ihre Theologie dem optimistischen Zeitgeist an (Holifield 2003). Im Gegensatz zu den orthodox calvinistischen Predigern der 1740er Jahre wandten sich die Nachfolger von zentralen Dogmen des reformierten Christentums ab, allen voran von der Idee der doppelten Pradestination, wonach Gott nur einen winzigen heiligen Rest zum Heil berufen hat, wahrend die Masse der Menschen immer schon verdammt war. Demgegenuber akzeptierten die Prediger der Jahrzehnte nach 1790 nun den sogenannten Arminianismus oder Heilsuniversalismus, nach dem jedem Menschen prinzipiell die Tur zum ewigen Heil offen stand. Dies fuhrte zu einem gesteigerten missionarischen Ethos, denn wenn jeder Mensch gerettet werden konnte, mußte man auch fur seine Rettung aktiv Sorge tragen. Schon 1812 tauchten deswegen amerikanische Missionare in Birma auf, kurz danach wurden sie in China aktiv, wo sie, allerdings ungewollt, zum Ausbruch der Taipingrevolte in den 1840er Jahren beitrugen. Die Mehrheit der Prediger konzentrierte sich indes auf die USA. Hier, beim neuen Bundesvolk, im neuen Heiligen Land der Auserwahlten Gottes, kam eine weitere theologische Neuerung zum Tragen: der Postmilleniarismus. Dabei handelte es sich um eine besondere Art, den Text der Offenbarung des Johannes auszulegen. Entgegen dem Wortlaut nahm man nicht mehr an, Christus werde das Tausendjahrige Reich der Endzeit vor der Schlacht von Armageddon aus reiner Gnade und eigener Vollkommenheit errichten und entsprechend vor dem Millennium wiederkehren, wie es der traditionelle protestantisch-apokalyptische Pramilleniarismus besagte, sondern den Menschen obliege es, eine perfekte, heilige Gesellschaft bevorzugt in den USA zu errichten, um so die Wiederkunft Christi nach dem Millennium einzuleiten oder zu beschleunigen. Dieser religio¨se Perfektionismus wurde neben dem Heilsuniversalismus zur tragenden Saule der zweiten Erweckungswelle. Insbesondere in den Stadten des Nordens und Nordostens, auf welche die Bewegung in den 1820er und 1830er Jahren zunehmend ubergriff, fuhrte dies zu ganz konkreten gesellschaftspolitischen Forderungen der Erweckten, die in der Regel mit denen liberaler Reformer kompatibel waren, obwohl sie von den Evangelikalen meist radikaler vorgetragen wurden als von den liberalen Philanthropen der Zeit. Den Evangelikalen gelang es, ab den 1820er Jahren nicht nur, ihre soziale Basis bis weit in die stadtischen Mittelklassen hinein zu erweitern, sie schufen dank ihrer Affinitat zu modernsten Kommunikations- und Organisationsmethoden zudem mitgliederstarke Lobbyorganisationen, etwa der Sabbathobservanzbewegung der 1820er Jahre, die rund 10 % aller erwachsenen Amerikaner vereinigte. Politisch waren die Evangelikalen mehrheitlich eng mit der liberalkonservativen Whigpartei, die sich ab 1829 entwickelte, verbunden, in den 1850er Jahre liefen sie im Norden dann zu den neu gegrundeten Republikanern uber. Demgegenuber wurden die Demokraten zur Partei der Freigeister, der katholischen Arbeiter, der sklavenhaltenden Großgrundbesitzer und der Baptisten des Westens.
Zu den zentralen politischen Forderungen der radikalen Erweckten des Nordens zahlten neben der Sabbathobservanz, das heißt der Sonntagsheiligung, etwa die Abschaffung der Sklaverei (Hochgeschwender 2006). Wahrend die Erweckten im Suden eher in der Minderheit blieben und sich auf individualmoralische Vorgaben beschrankten oder die Sklaverei zu einem Institut go¨ ttlichen Rechts erklarten, forderten nordstaatliche Evangelikale mithilfe der abolitionistischen Bewegung das mo¨glichst schnelle Ende der Sklaverei, die als Sunde charakterisiert wurde. Allerdings lehnten die uberwiegend pazifistischen Erweckten Gewalt als Mittel im Kampf gegen die Sklavenhalter bis zum Ausbruch des Burgerkriegs konsequent ab und distanzierten sich zugleich vom abolitionistischen Terror des Altcalvinisten John Brown. Aus ahnlichen Motiven heraus lehnte sie den nationalistischen Expansionismus der freigeistigen Intellektuellen der Gruppe Young America um John L. O'Sullivan mit seiner Idee des Manifest Destiny der USA, also dem Glauben an eine naturliche Vormachtstellung der USA auf dem amerikanischen Doppelkontinent rigoros ab. Expansionismus war mit dem sozialen Perfektionismus der Bewegung nicht vereinbar, obschon O'Sullivan, der Agnostiker war, sein Programm in religio¨ser Begrifflichkeit formuliert hatte. Dafur traten die Evangelikalen fur weitere Sozialreformen ein, etwa die Temperenz im Kampf gegen den weit verbreiteten Alkoholismus, eine Gefangnisreform mit der Idee, Zuchthauser durch Arbeitshauser mit Gebetsstunden und klo¨ sterlichen Regularien zu ersetzen, die State Penitentiaries, der Kampf gegen die Todesstrafe und die Schulreform, wobei die Bibel als zentrales Unterrichtsmittel dienen sollte. Selbst an der fruhen Frauenbewegung waren Evangelikale beteiligt. Ihre perfektionistischen Sozialreformen trieben sie gleichwohl nicht nur in eine Frontstellung gegen die Sklavenhalter des Sudens, sondern auch gegen die Massen katholischer Migranten, vor allem aus Irland und Deutschland, die seit den 1840er Jahren in die USA stro¨mten. Der apokalyptische Evangelikalismus war traditionell eifernd antikatholisch. Der ro¨mische Papst galt politisch als Agent der finstersten Reaktion und der Tyrannei der heiligen Allianz, religio¨s als Antichrist und Hure Babylon. Das Auftauchen zahlreicher Katholiken wurde als Merkmal der kommenden Apokalypse gewertet. Umgekehrt machte der Katholizismus zu dieser Zeit mit dem Ultramontanismus selbst eine Art von Erweckungsbewegung durch, sofern man dies von dem notorisch unerweckten ro¨mischen Glauben sagen konnte. Immerhin waren katholische Laien dabei, selbstbewusster ihre Religion zu pflegen und sie aggressiver zu verteidigen. Dies verstarkte nur die antikatholische Hysterie der Evangelikalen und der liberalen Nationalisten, weswegen seit 1834, als erstmals ein Nonnenkonvent auf amerikanischem Boden niedergebrannt wurde, fremdenfeindliche Gruppen, die bald Know Nothings genannt wurden, den Antikatholizismus in Gewalt umschlagen ließen. Die Evangelikalen beteiligten sich nicht an dieser Gewalt, missbilligten sie aber auch nicht sonderlich.
Die zweite Erweckungsbewegung schlug noch an einem anderen Punkt in
Gewalt um. Aus seinen Reihen hatte sich in dem vom Erweckungsenthusiasmus besonders betroffenen westlichen New York eine ganz neue Religion gebildet, die nur noch dem Namen nach christlich war: das Mormonentum des John Smith (Bushman 2008). Diesem war angeblich von einem Engel eine neue schriftliche Offenbarung, das Buch Mormon, zuteil geworden. Dessen Lehren ließen sich mit dem Biblizismus der Evangelikalen ebenso wenig vereinbaren wie mit der Wohlanstandigkeit des liberalen Burgertums, weswegen Mormonen, vor allem nachdem sie die Vielehe eingefuhrt hatten, von allen Seiten, Nordstaatlern und Sudstaatlern, Mainstream, Erweckten, Katholiken und liberalen Freigeistern mit Hass und Gewalt verfolgt wurden. Evangelikale Prediger, etwa Alexander Campbell, der ansonsten eher zu den Moderaten zahlte, hetzten mit allen Mitteln gegen das Mormonentum und seinen Abfall vom Christentum. Zeitweise kam es in Utah, wohin die Mormonen sich mit ihren Milizen zuruckgezogen hatten, zu burgerkriegsahnlichen Unruhen. Die mormonischen Milizen beantworteten den Hass der Nichtmormonen mit dem Massaker von Mountain Meadow 1858, dass sie den umliegenden Indianerstammen, zu denen sie ansonsten ein gutes Verhaltnis pflegten, in die Schuhe zu schieben versuchten. Die US-amerikanische Armee marschierte daraufhin kurzerhand in das Mormonenterritorium ein und hangte die Verantwortlichen. Erst 1890 konnte Utah, nachdem die Polygamie offiziell abgeschafft worden war, der Union beitreten und erst im spaten 20. Jahrhundert wurden Mormonen allmahlich in die amerikanische Gesellschaft integriert.
Aber weder der gewalttatige Antikatholizismus noch der Kampf gegen die Mormonen beendete die zweite Erweckungswelle. Sie verlief sich seit den 1840er Jahren langsam, da erneut die Wiederkunft Christi nicht stattgefunden hatte. Einige Prediger, darunter der pramilleniaristische Begrunder der spateren SiebentageAdventisten William Miller hatten sogar das Datum der Apokalypse prazise fur 1843 vorausgesagt. Als nichts geschah, verflachte der Enthusiasmus, um dann 1857 und wahrend des Burgerkriegs von 1861 bis 1865 wieder kurz aufzuflackern. Aber die ungeheuerlichen Blutopfer des Burgerkriegs gaben dem Fortschrittsoptimismus der postmilleniaristischen Evangelikalen den Rest. Man hat zwar gesagt, die Burgerkriegsarmeen von Union und Konfo¨deration seien die fro¨mmsten Armeen der amerikanischen Geschichte gewesen, aber ihre Fro¨mmigkeit war doch wieder eher vom U¨ bergang in den Mainstream gekennzeichnet. Nach dem Ende des Burgerkriegs kam es zu einer Phase stabiler Sakularisierung, die sich mit dem aufkommenden Materialismus und Konsumismus des Gilded Age, des vergoldeten
Zeitalters der Hochindustrialisierung und der Monopole und Oligarchen verband.
Wie die Mormonen entstammte auch der Spiritualismus, der sich ab 1848 mit rasanter Geschwindigkeit vom westlichen New York aus ausbreitete, dem weiteren Umfeld der evangelikalen Erweckungsbewegung (Moore 1986). Allerdings hatte er mit dem Christentum nichts mehr gemein und bediente vor allem die religio¨sen Gefuhle modern-naturwissenschaftlich eingestellter Freigeister aus den
burgerlich-urbanen Mittelklassen, sprach aber auch traditionell geisterglaubige Angeho¨ rige der Landbevo¨lkerung an. Anders als etwa in Deutschland avancierte der Spiritualismus in den USA zu einer Art Volksreligion mit vermutlich mehreren Hundertausend Glaubigen und Anhangern. Er war vor allem fur Frauen attraktiv, weil er keine etablierte Priesterschaft und kirchliche Institutionalitat kannte, was
Frauen die Chance ero¨ffnete, sich als Medium zu gerieren. U¨ berdies versprach er
einen scheinbar naturwissenschaftlich-experimentellen, erfahrungsgesattigten Zugang zum Jenseits, obwohl die Botschaften, so wie sie die Medien vermittelten, ziemlich banal wirkten. Nach dem Burgerkrieg wurde der Spiritualismus als Schwindel entlarvt und verlor weite Teile seine Anhangerschaft, tauchte aber gelegentlich wieder auf.