Die fundamentalistische Erweckung (1880 bis 1930)
Unter der Oberflache aber schwelten religio¨se Sehnsuchte weiter. Vor allem konsolidierte sich der Katholizismus in den USA. In den 1880er und 1890er Jahren kamen nicht mehr nur Iren und Deutsche, sondern auch Polen, Italiener, Spanier, Ruthenen und Franzosen. Der Katholizismus nahm trotz des weiterhin weit verbreiteten liberalen und protestantischen Antikatholizismus, organisatorisch Gestalt an. Er wurde zu der Religion der amerikanischen Arbeiterschaft. Gleichzeitig ubernahmen Bischo¨ fe und Theologen die konservative, allerdings fur die soziale Frage aufgeschlossene und kapitalismusskeptische Neuscholastik aus Europa, insbesondere den Neuthomismus nach der Enzyklika Papst Leo XIII. Aeterni Patris, womit sie zugleich den Anspruch auf eine autoritarere Fuhrung des amerikanischen Katholizismus erhoben als bislang (McGreevy 2003). Dies hing eng mit dem Ende der jahrzehntelang wahrenden Trustee-Streitigkeiten zwischen den katholischen Laienraten, die fur einen eher von Laien dominierten Reformkatholizismus eintraten, und dem Klerus zusammen, den vor allem die Iren zugunsten des Klerus entschieden hatten. Nun trat eine neue Konfliktlinie hervor, die zwischen den irischen Katholiken, die fur einen gemaßigt an den politischen Pluralismus angepassten, spezifisch amerikanischen Katholizismus pladierten, und eher konservativultramontanen deutschen Katholiken. Dieser Streit uberschnitt sich mit der Frage, ob Katholiken Mitglieder in nichtkatholischen Gewerkschaften sein durften. Als dann in den 1890er Jahren irische Katholiken damit begannen, in Frankreich den amerikanischen Katholizismus wegen seiner Nahe zu Demokratie, Religionsfreiheit und Pluralismus als Vorbild des Weltkatholizismus zu preisen, griff der Vatikan unter Leo XIII. ein und untersagte die weitere Verbreitung dieser „amerikanistischen“ Thesen. Allerdings bemuhte sich der Papst, weder das amerikanische politische System als solches zu verurteilen, noch zog er schmerzhafte perso¨nliche Konsequenzen. Die Vorkampfer des Amerikanismus im amerikanischen Episkopat konnten weiterhin in der Weltkirche und den USA Karriere machen.
Neben den Katholiken profitierte nicht zuletzt die judische Minderheit von der Masseneinwanderung des spaten 19. Jahrhunderts. Aus Deutschland, Russland und Polen stro¨mten Juden in die USA, ganz uberwiegend aus wirtschaftlichen Motiven.
Dort waren sie ebenso wenig willkommen wie die Katholiken. Unterstutzt von Industriellen wie Henry Ford, der die Protokolle der Weisen von Zion in den amerikanischen Markt einfuhrte, schlug der traditionelle christliche Antijudaismus in einen rassistischen Antisemitismus um. Organisationen wie die American Protective Association der 1890er Jahre und der zweite Ku-Klux-Klan der 1920er Jahre waren militant antisemtisch und antikatholisch. 1913 wurde mit Leo Frank erstmals in der amerikanischen Geschichte ein Jude gelyncht, weil er angeblich eine weiße Fabrikarbeiterin namens Mary Phegan vergewaltigt hatte (Dinnerstein 1987). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ließen der Antisemitismus und der Antikatholizismus der amerikanischen Gesellschaft nach, obwohl beide nie ganz verschwanden.
Die 1890er Jahre brachten ferner eine zusatzliche Ausdifferenzierung und Pluralisierung der religio¨sen Situation in den USA, allerdings eher im Bereich mikroskopisch kleiner Minderheitenreligionen. Zum einen kam es nachdem das sogenannte Weltparlament der Religionen aus Anlass der Columbian Exhibition 1893 in Chicago getagt hatte, erstmals dazu, kleinere buddhistische und (reform-) hinduistische Gemeinschaften in den USA dauerhaft zu etablieren. Seit den 1920er Jahren traten islamische Gemeinden auf den Plan. Wichtiger waren die ferno¨stlichen Einflusse fur theosophische und anthroposophische Sekten, die von Helene Blavatsky in Großbritannien und Rudolf Steiner in Deutschland inspiriert waren und gnostisches, buddhistisches, hinduistisches sowie christlich-mystisches Gedankengut synkretistisch miteinander verschmolzen. Gleichfalls auf diesen Pluralisierungsschub des ausgehenden 19. Jahrhunderts gingen zeitweilig recht erfolgreiche Kleinreligionen wie die Christian Science hervor, die sich als christliche Erneuerungsbewegung mit Heilungsanspruch verstand und sich kritisch mit der Apparate- und Schulmedizin der Epoche bis dahin, den arztliche Behandlungen zu verweigern, auseinandersetzte.
Aller Ausdifferenzierung zum Trotz blieben die USA ein protestantisch dominiertes Land. Und dieser Protestantismus war nach dem Ende der Nachburgerkriegsara und mitten in der Phase der Hochindustrialisierung wieder reif fur eine neue evangelikale Erweckungsbewegung. Diesmal ging es nicht in erster Linie um Gesellschaftsreform, sondern um die Frage, wie die amerikanische Gesellschaft die durch die unglaubliche Beschleunigung der kapitalistischen Industriemoderne ausgelo¨sten Krisenerscheinungen geistig bewaltigen ko¨ nnte. Im Hintergrund standen theologisch die Abkehr von der Fortschrittseuphorie und dem anthropologischen Optimismus des Postmilleniarismus und die Ruckkehr zum traditionellen apokalyptischen Pramilleniarismus. Allerdings wurde das Erbe der zweiten Erweckungswelle nicht einfach aufgegeben. Insbesondere blieben die Evangelikalen der in der ersten Erweckung angedeuteten und in der zweiten Erweckung vollends durchgefuhrten Wende zur vorbehaltlosen Akzeptanz des abstrakten Marktkapitalismus und der liberalen Idee, jeder sei des eigenen Gluckes Schmied und sozialer Aufstieg verdanke sich in erster Linie individueller leistungsbereitschaft und nicht sozialen Konstellationen, treu. Hatten evangelikale Prediger noch um 1810 ganz der biblischen Tradition gelehrt, Reichtum sei ein Hindernis auf dem Weg zur ewigen Seligkeit, so kam seit 1840 der Gedanke auf, Gott wolle den Reichtum seiner Anhanger, eine Idee, die ab 1880 massiv in Predigten einfloss.
Eigentum, Wohlstand und Konsum wurden so zu genuin christlichen Werten umgedeutet und–systematisch widerspruchlich–mit der anthropologischen Skepsis, dem pessimistischen, auf Gnadenbedurftigkeit des Menschen abhebenden traditionellen calvinistischen Weltbild verschmolzen. Diese Inkoharenz erlaubte es Wirtschaftsmagnaten wie dem Kaufmann John Wannamaker, evangelikale Prediger finanziell zu unterstutzen und zur Mitarbeitermotivation in ihren Firmen einzusetzen. Auf diese Weise glichen sich die arbeitsethischen Thesen der Evangelikalen vielfach an die sakulare Psychologie der zeitgeno¨ ssischen Mind Cure mit ihrem unreflektierten sozialen Optimismus an. Insofern blieb der Evangelikalismus weltzugewandt und mit einer demokratisch-kapitalistischen Marktgesellschaft unbedingt kompatibel. Parallel dazu begannen die Prediger, sich diesmal den Suden der USA als zentrale Region zu erschließen. Die Entstehung des spateren bible belt liegt im ausgehenden 19. Jahrhundert begrundet. Dort beschleunigte sich die Abkehr von gesamtgesellschaftlichen Reformanliegen im Evangelikalismus wegen des vorherrschenden konservativen Rassismus der sudstaatlichen Gesellschaft noch einmal (Hochgeschwender 2007, Noll 2002).
Parallel zu der neuerlichen Erweckungsbewegung im landlichen, zuruckgebliebenen Suden und im Mittelwesten entwickelte sich an den traditionsreichen Universitaten des Nordens eine ganz neue, eher intellektuelle Variante des Evangelikalismus, der Fundamentalismus. In den Jahren 1910 bis 1915 vero¨ffentlichte eine Gruppe hochangesehener calvinistischer Theologen eine Serie kleinere Schriften, die Fundamentals, in denen die Kernstucke der christlichen Orthodoxie gegen Angriffe der liberalen, kulturprotestantischen, aus Deutschland stammenden historisch-kritischen Schule verteidigt werden sollten, darunter die Go¨ttlichkeit Jesu Christi, die Jungfrauengeburt, die Wiederauferstehung nach dem Kreuzestod und die Unfehlbarkeit der wortwo¨rtlich auszulegenden Bibel. Der letzte Punkt erwies sich als besonders folgenreich, da der Calvinismus, anders als das Luthertum mit dem Vorrang der Kreuzes- und Gnadentheologie oder der Katholizismus mit seiner Idee der traditionsorientierten Bibelauslegung durch das authentische und autoritative, unfehlbare Lehramt der Kirche, keine Gewichtung biblischer Texte kannte. Alle Texte standen demnach gleichberechtigt nebeneinander. Dies war schon deswegen bedeutsam, weil zeitgleich die alte Reformkoalition aus Liberalen und Evangelikalen endgultig auseinanderbrach. Mit der Prohibition, dem landesweiten Alkoholverbot, hatten die fruheren Bundnispartner ein letztes gemeinsames Projekt durchgesetzt, dann aber trennten sich ihre Wege. Der Evangelikalismus orientierte sich politisch zunehmend am Populismus oder an der Demokratischen Partei, wahrend der liberale Reformismus sich in den progressivistischen Flugeln von Republikanern und Demokraten etablierte. Der Hauptgrund fur diese Spaltung lag zum einen im Aufkommen des Pramillenniarismus, zum anderen in der Rezeption der darwinistischen Evolutionslehre durch die Progressivisten. Der Darwinismus aber war fur Evangelikale und Fundamentalisten gleichermaßen problematisch oder gar inakzeptabel. Zugleich beschlich die Evangelikalen das ungute Gefuhl, von technokratischen und undemokratischen Experten aus den Diskussionen um die amerikanische nationale Identitat, an denen sie bislang federfuhrend beteiligt waren, ausgeschlossen zu werden. Zum symbolischen Ho¨hepunkt der
Konfrontation entwickelte sich der Scopes-Prozeß von 1925, der als Affenprozeß in die Geschichte einging. In vielen Sudstaaten, darunter Tennessee, wo der Prozeß stattfand, gab es Gesetze, welche es untersagten, die darwinistische Evolutionslehre zu unterrichten.
In Dayton, einem kleinen Ort in Tennessee, brach ein Biologielehrer bewusst das Gesetz, wozu er von der o¨rtlichen Handelskammer ermutigt wurde, die sich von einem Gerichtsverfahren eine touristische Blute erhoffte. Weder Evangelikale noch Fundamentalisten waren im Vorfeld an dieser Unternehmung beteiligt, zumal es in Dayton gar keine Fundamentalisten gab. Selbst das einschlagige Gesetz war nicht von Evangelikalen, sondern von konservativen Demokraten eingebracht worden. Erst als mit dem Rechtsanwalt Clarence Darrow und dem Journalisten
H.L. Mencken sich zwei bekannte Religionskritiker an die Spitze der Verteidigung
stellten und dann der populistisch-demokratische Politiker William Jennings Bryan, der sich zum Fundamentalismus bekannte, die Nebenklage ubernahm, erlangte der Fall nationale Beruhmtheit und wurde zum Symbol des Kampfes zwischen Moderne und Gegenaufklarung stilisiert. Faktisch endete das Verfahren mit einer
außerst milden Verurteilung des Biologielehrers John Scopes, in der kollektiven Erinnerung der Amerikaner aller Lager aber wurde er zu einer krachenden Niederlage der Evangelikalen und Fundamentalisten stilisiert. Dabei hatte der intellektuelle Fundamentalismus schon 1916/17 seine Bedeutung eingebußt, da ausgerechnet die Fundamentalisten, die eine amerikanische Theologie gegen die liberale deutsche Theologie etablieren wollten, im Ersten Weltkrieg als bekennende Pazifisten gegen den Krieg opponierten. Bryan war deswegen sogar als Außenminister Woodrow Wilsons zuruckgetreten. Mit dem Prozeß in Dayton verbanden sich Evangelikalismus und Fundamentalismus, ohne indes notwendig identisch zu sein (bis heute handelt es sich um zwei unterschiedliche Stro¨ mungen) und Fundamentalismus wurde zum Inbegriff der Gegenmoderne und Ruckstandigkeit und damit auch zu einem liberalen Kampfbegriff. Nach Dayton zogen sich die Evangelikalen in ihre nunmehrigen Kerngebiete im Suden und Mittelwesten der USA zuruck, wo gerade wahrend der Großen Depression der 1930er Jahre immer wieder kleinere Erweckungen stattfanden (Conkin 1998).
Fast unbemerkt, ganz am Rande dieser evangelikalen und fundamentalistischen Stro¨mungen hatte sich seit 1906 eine weitere christliche Bewegung etabliert, die gleichfalls Zuge von Erweckungsfro¨mmigkeit trug: das Pfingstchristentum beziehungsweise der Pentekostalismus. Im Gegensatz zu den Evangelikalen stand fur die Pentekostalen nicht das Wort der Bibel im Vordergrund, sondern die unmittelbare Begegnung mit dem Heiligen Geist, die sich in Einzelfallen in Wunderheilungen, ekstatischen Trancezustanden und dem Reden in Zungen, der Glossolalie, ausdrucken konnte. Das Pfingstchristentum war emotionaler, individualistischer, optimistischer und weniger apokalyptisch als das traditionelle evangelikale Milieu, es war uberdies in den ersten Jahrzehnten weniger rassistisch, duldsamer und, wie die fruhen Fundamentalisten, pazifistisch ausgerichtet (Hochgeschwender 2007).
Gleichfalls in Opposition zu den Evangelikalen und Fundamentalisten waren die sozialreformerischen Verfechter des social gospel angesiedelt, die ebenso wie die Anhanger der katholischen, neuscholastischen Soziallehre scharfe Kritik an den
Auswuchsen des radikalen und monopolistischen Kapitalismus der Epoche ubten. Teilweise vom Marxismus beeinflußt, strebten die Sozialprotestanten nach umfassender gesellschaftlicher Reform und einem erneuerten Liberalismus ohne Praktiken kapitalistischer Ausbeutung. In Fragen der Bibelauslegung waren sie von der deutschen liberalen Theologie beeinflußt, zugleich aber waren sie offen fur den militanten Nationalismus ihrer Zeitgenossen. Teilweise standen sie in der Tradition des Postmillenniarismus, mehrheitlich aber drehten sich ihre U¨ berlegungen eher um eine soziologische Gesellschaftsanalyse und eine Abkehr von der uberkommenen, rein individualmoralischen Deutung von Armut. In den Augen von Sozialprotestanten und sozial engagierten Katholiken war es in wachsendem Maße der Staat, der bei einem Versagen des kapitalistischen Systems in die Pflicht genommen werden mußte. Bis in die 1930er Jahre waren die Sozialprotestanten mit den progressivistischen Reformern eng verknupft und ubten noch Einfluss auf den New Deal Franklin D. Roosevelts aus. Danach verlor der social gospel seine politische Bedeutung, wahrend die katholische Soziallehre uber die Schuler von Msgr. John A. Ryan bis in die 1980er Jahre fur die katholische Kirche und die Demokratische Partei bedeutsam blieb (Hochgeschwender 2012).