Der Weg in die Gegenwart
Die Jahrzehnte zwischen 1930 und 1975 stellten den Ho¨hepunkt der moderaten Mainstream-Religiositat in den USA dar (Allitt 2003). In den 1950er Jahren wuchsen schließlich auch Katholiken und Juden unter antikommunistischen Vorzeichen in den Mainstream, der nun zur Mainline wurde, hinein. Prasident Eisenhower brachte es Mitte der 1950er Jahre, als weit uber 90 % aller Amerikaner einer etablierten Religionsgemeinschaft angeho¨rten, auf den Punkt: Ihm sei es egal, welcher Religion ein Amerikaner angeho¨re, Hauptsache er habe uberhaupt eine Religion. Dem in Schulen obligatorischen Fahneneid wurde der Gottesbezug (One Nation Under God) zugefugt. Der zivilreligio¨ se konstitutionelle Deismus wurde allgegenwartig. Die USA verstanden sich als den christlich-religio¨sen Widerpart zur atheistischen Sowjetunion. Erweckungsprediger wie Billy Graham fullten riesige Stadien mit seinen emotionalen, aber relativ konventionellen Botschaften, der katholische Bischof Fulton Sheen erfreute sich allwo¨ chentlich einer Fernsehzuschauergemeinde von rund 40 Millionen Menschen, dies einen neuscholastischen Ausfuhrungen uber Naturrecht und Moral begeistert folgten. In dieser Zeit ware niemand auf die Idee gekommen, in der amerikanischen Religiositat etwas Außerordentliches oder Besonderes zu sehen.
Verglichen mit dem Konfessionalismus in Deutschland erschienen die USA sogar relativ sakular. Religio¨se Aufbruche waren eher am Rande zu verzeichnen, etwa unter den intellektuellen Beatniks der 1950er und den gegenkulturellen Hippies der 1960er Jahren, die mit bewusstseinserweiternden Drogen und ferno¨stlicher Spiritualitat sowie einer neuen Hinwendung zu Jesus von Nazareth ohne kirchliche Institutionen experimentierten. Ebenfalls unter Hippies fanden sich esoterische New Age-Kulte, die oft mit Wellnessangeboten einhergingen. Zeitweise sorgten Jugendreligionen und Kulte fur Aufregung, aber all dies war weniger Vorbote eines neuen Zeitalters des Wassermanns, wie die New Age-Anhanger glaubten, sondern Ausdruck einer tief empfundenen emotionalen Kritik an der Konformitat, der Langweile und dem konsumistischen Materialismus der weißen Mittelklasse in den Vororten der großen Stadte, den suburbs (McGirr 2001). Eine echte Breitenwirkung blieb aus.
Viel wichtiger und folgenreicher waren die gesellschaftlichen Sturme der 1960er Jahre, die schwarze Burgerrechtsbewegung, die studentische Protestbewegung und das Entstehen zahlloser anderer emanzipatorischer Protestbewegungen von Frauen, Homosexuellen, Indianern, Puerto Ricanern und so weiter. In den Augen vieler frommer Evangelikaler und Pfingstchristen waren all diese Prozesse Ausdruck einer Entchristlichung der US-amerikanischen Gesellschaft. Fur sie waren die 1950er Jahre das Goldene Zeitalter von Wohlstand, burgerlicher Ordnung und Religiositat gewesen, ein Erbe, das jugendliche Liberale und Radikale nun zu zersto¨ren drohten. Sie fuhlten sich ausgeschlossen und von einer lautstarken, „unamerikanischen“ Minderheit uberrollt. Vor diesem Hintergrund trug die nun einsetzende vierte große Erweckungsbewegung, die sich in den 1950er und 1960er Jahren anbahnte, aber vor allem seit den 1970er Jahren Fahrt aufnahm, fruhzeitig politisch konservative Zuge und war ab der Regierungszeit Ronald Reagans eng mit der Republikanischen Partei verknupft. Dafur gab es, neben der generellen weltanschaulichen Opposition gegen die Protestbewegungen der baby boomer und deren Abkehr von der Welt der 1950er Jahre, eine ganze Reihe sozialer, politischer und religio¨ser Grunde. Zentral war etwa der wirtschaftliche Aufstieg des amerikanischen Sudens. Hatten bis in die 1960er und 1970er Jahre die traditionellen Produktionsstatten der Automobilindustrie und anderer Schwerindustrien im sogenannten Rostgurtel der USA o¨konomisch den Ton angegeben und eine bestimmte Form klassisch liberaler Arbeiterkultur hervorgebracht, die religio¨s oft im Katholizismus verwurzelt war, so gelang, ausgehend von Infrastrukturmaßnahmen und direkten Investitionen der Bundesregierung im Suden und Sudwesten im und nach dem zweiten Weltkrieg diesen bislang strukturschwachen Regionen ein triumphaler Aufstieg (Moreton 2009). Der sun belt wurde geboren. Hier konzentrierten sich neue, postfordistische Produzenten von Hochtechnologie, etwa im Bereich der Rustung, der Computerproduktion oder anderer Informationstechnologien. Gewerkschaften waren im konservativen Suden der USA nahezu unbekannt und wurden von den Facharbeitern der neuen Industrien als uberholt angesehen. Obendrein erkannten soziologische Beobachter bald einen gesellschaftlichen Trend, der in dieser Form unerwartet kam: Viele Amerikaner zogen aus dem niedergehenden Rostgurtel in den Suden und akzeptierten dann dessen konservativ-religio¨se Werthaltungen. Auf diese Weise wurden Evangelikalismus, Fundamentalismus und Pfingstchristentum allmahlich wieder gesellschaftlich salonfahig. Allerdings verlief diese kulturelle Southernization eher langsam und schrittweise. Sie bildete gleichwohl die Basis fur die nachfolgende politische Radikalisierung der erweckten Christen. Deren Auslo¨ser lag weder in den Jugendprotesten, noch im wirtschaftlichen Aufschwung des Sudens begrundet, sondern im juristischen Aktivismus der liberale dominierten Supreme Courts der 1960er und 1970er Jahre. Bereits 1948 hatte das Oberste Bundesgericht erstmals seit 1791 zur Frage der Trennung von Staat und Kirche Stellung bezogen und dabei den wall of separation zwischen beiden scharfer definiert, als es im 19. und fruhen 20. Jahrhundert gemeinhin ublich gewesen war (McCulloch-Urteil). In Engel v. Vitale von 1962 kam es dann zum Eklat, indem das Gebet an o¨ffentlichen Schulen fur verfassungswidrig erklart wurde. Bis zum heutigen Tag lehnt eine breite Mehrheit der Amerikaner dieses Urteil ab. 1973 folgte dann Roe v. Wade, ein Urteil, das die Abtreibung im ersten Schwangerschaftstrimester faktisch freigab und als Akt der Privatheit (privacy) im Sinne des Urteils Griswold v. Connecticut von 1965 einstufte. 2003 folgte dann Lawrence v. Texas, das alle gegen homosexuellen Geschlechtsverkehr gerichteten Gesetze der Einzelstaaten aufhob und damit den Weg zur Debatte um die Homosexuellenehe freigab. Fur konservative Christen, allen voran Katholiken und Evangelikale waren diese Urteile in ihrer Summe unertraglich. Gleichzeitig entfremdeten sie sich von der Demokratischen Partei, die sich nahezu vorbehaltlos hinter diese Urteile stellte Pratorius 2003, Marlin 2004, Wuthnow 2012). Nur noch eine Minderheit von Linksevangelikalen und die Masse der schwarzen Evangelikalen blieben den Demokraten dauerhaft treu. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand ab Mitte der 1970er Jahre weniger das Gebet an o¨ffentlichen Schulen, sondern zum einen die Abtreibungsproblematik, zum anderen der neofundamentalistische Kampf gegen die darwinistische Evolutionslehre an den o¨ffentlichen Schulen, sei es in Gestalt des Kreationismus, sei es in Form des an die britische Naturtheologie der Aufklarung anknupfenden Intelligent Design.
Erst im 21. Jahrhundert kam der Konflikt um die Homosexuellenehe beziehungsweise um die gesellschaftliche Gleichstellung von Homosexuellen hinzu. Allerdings identifizierten sich im konservativ-religio¨sen Segment jeweils ganz unterschiedliche Gruppierungen mit diesen Zielen. Interessanterweise waren es 1973 bis 1975/76 in erster Linie kirchentreue Katholiken, die in der ersten Reihe des Antiabtreibungskampfes standen. Erst mit den Publikationen des calvinistischen Theologen Francis Schaeffer, der die Frage der Abtreibung mit dem Ideal der christlich-judischen Nation verband, traten erweckte Protestanten auf den Plan. Seit den 1980er Jahren wurde die Abtreibungsfrage dann zum zentralen Mobilisierungsinstrument der religio¨ sen Rechten. In der Christian Coalition arbeiteten bis 2003 erstmalig konservative Katholiken, orthodoxe Juden und rechtsevangelikale Christen Seite an Seite, scheiterten aber an unterschiedlichen Auffassungen zur Todesstrafe, die von vielen Katholiken abgelehnt wurde, und zum Wohlfahrtsstaat, den die Evangelikalen zwar nicht ablehnten, aber zugunsten der staatsunabhangigen faith-based and community initiatives modifizieren wollten. Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil waren aber weder die Erweckten, noch die Katholiken maßgeblich an der Gewalt gegen Abtreibungsarzte und -kliniken beteiligt. Samtliche Gewalttater entstammten der ultrarassistischen Christian Identity, nicht den etablierten evangelikalen oder fundamentalistischen Denominationen und Freikirchen. Im Vergleich zur Abtreibungsdebatte wirkte das Ringen um Kreationismus und Intelligent Design kaum integrativ. Nur wenige, sehr randstandige Katholiken und Juden teilten die Sorge der Neofundamentalisten um die wortwo¨rtliche Auslegung des Buches Genesis. Diese Bewegungen erhielten zusatzlich 2005 einen schweren Schlag, als ausgerechnet ein konservativer Bundesrichter in Pennsylvania im Kitzmiller-Urteil sowohl den Kreationismus als auch das Intelligent Design als unwissenschaftlich und ungeeignet fur den schulischen Biologieunterricht erklarte.
Den Ho¨hepunkt ihres politisch-gesellschaftlichen Einflusses erreichte die religio¨se Rechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wahrend der Prasidentschaft des evangelikalen Republikaners George W. Bush. Doch unter seiner A¨ gide wurden zugleich die Grenzen ihrer Macht deutlich sichtbar. Zu keinem Zeitpunkt bestimmten, trotz der o¨ffentlichkeitswirksamen Agitation der Christian Zionists, die eine amerikanisch-israelische Kooperation im Angesicht der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse predigten, Angeho¨rige der religio¨sen Rechten den außenpolitischen Kurs der USA zwischen 2001 und 2009. Hier waren durchweg neokonservative Kreise und Wirtschaftskonservative federfuhrend. Obendrein gelang es den Republikanern nicht, die gesellschaftlich-kulturellen Ziele der religio¨sen Rechten uber den regionalen Rahmen hinaus auf nationaler Ebene zu verwirklichen. Im Kern blieb Roe v. Wade gultig; die Emanzipation der Homosexuellen schritt weiter voran und die kreationistische Bewegung stieß an ihre Grenzen. Noch problematischer aber war das Nachlassen der apokalyptischen Begeisterung ab circa 2000. Wieder verzo¨gerte sich die Wiederkunft Christi, die von vielen Predigern als unmittelbar bevorstehend geschildert worden war. Der religio¨se Enthusiasmus ließ schrittweise nach und begann, sich zu institutionalisieren. Viele Evangelikale kehrten an den rechten Rand der Mainline-Religiositat zuruck oder besannen sich mehr auf religio¨se als auf politische Werte. Weder 2008 noch 2012 hatten die Evangelikalen einen uberzeugenden Prasidentschaftskandidaten (Miller 2014). Zeitweilig wandten sie sich sogar dem konservativen Katholiken Rick Santorum zu. Politisch und gesellschaftlich desorientiert fand sich am Ende eine Vielzahl konservativer Christen in den Reihen des Tea Party Movement wieder, dessen politische Ideologie, der Libertarianism, von der atheistischen Philosophin Ayn Rand beeinflusst war. Die religio¨se Rechte in den USA wurde wieder politisch im engeren Sinn. Steuerfragen, die Krankenversicherungsdebatte, die Wirtschaftskrise nahmen nun einen wichtigeren Platz ein, als der Kulturkrieg der vergangenen Jahrzehnte (Putnam und Campell 2010).
Parallel dazu geriet die katholische Kirche infolge des 1998 einsetzenden sexuellen Missbrauchsskandals in eine schwere Krise. Zwischen 1950 und 2000, vor allem zwischen 1965 und 1985, hatte es uber 13.000 Falle sexuellen Missbrauchs in den Reihen der katholischen Kirche gegeben. Zwar durfte es in den protestantischen Denominationen ebenso viele, an weltlichen Schulen sogar noch mehr vergleichbare Falle gegeben haben, aber wegen der Vertuschungsversuche von Teilen der bischo¨flichen Hierarchie wurde das Ansehen des Katholizismus nachhaltig beschadigt. Obendrein fiel die Missbrauchskrise teilweise mit der seit dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) anhaltenden, allmahlichen Zersetzung des traditionellen irisch-katholischen Kernmilieus der katholischen Kirche zusammen, das mehr und mehr in die suburbanen Mittelklassen aufgestiegen war. Der neue soziale Status weckte bei den amerikanischen kircheninterne Teilhabe- und Reformwunsche, die sich in erster Linie an der naturrechtlichen Sexualmoral der katholischen Kirche stießen. Daneben kam es zu einer U¨ bernahme eines evangelikal anmutenden Biblizismus in der Laientheologie der USA sowie zu Anpassungen an das antihierarchische, kongregationalistische und antiritualistische Denken des amerikanischen Protestantismus, der das Gefuge der katholischen Kirche fundamental infrage stellte und zu internen Krisen lange vor der sogenannten Padophiliekrise fuhrte. Dennoch blieben Katholiken in der Politik und im Obersten Bundesgericht deutlich uberreprasentiert, da sie in der Regel zu Wechselwahlern geworden waren und in der Mitte des politischen Spektrums standen. 2014 waren sechs der neun obersten Bundesrichter katholisch. Zahlenmaßig wuchs die katholische Kirche infolge des Zuzugs von Lateinamerikanern, wodurch sie sich allmahlich wieder von einer Kirche der Mittelklasse zu einer Unterklassen- und Migrantenkirche entwickelte.
Wahrend der neofundamentalistische Evangelikalismus ab 2005 an Bedeutung und Einfluss rapide einbußte, wuchsen insbesondere pfingstchristliche Denominationen weiter. Auch sie bekamen lateinamerikanischen Zuwachs. Daneben profitierten in erster Linie die Mormonen von der Schwacheperiode der Evangelikalen. Neben den Pfingstchristen stellten sie um 2010 die am schnellsten wachsende religio¨se Gruppierung der USA dar. 2012 gelang es sogar, mit Mitt Romney einen mormonischen Prasidentschaftskandidaten bei den Republikanern zu installieren, was freilich in Kreisen der religio¨ sen Rechten auf keine sonderliche Begeisterung stieß. Weiterhin galten die Mormonen nicht als christliche Konfession, obwohl sie sich ihrerseits seit etwa 2000 zunehmen darum bemuhten, ihre Theologie am Vorbild der christlichen Orthodoxien auszurichten.
Eine Sonderrolle in der amerikanischen Religionsgeschichte nahmen die im spaten 18. Jahrhundert, ab etwa 1780 gegrundeten schwarzen Kirchen ein, die black churches. Sie bestanden ganz uberwiegend aus schwarzen Linksevangelikalen, die weniger in Kategorien der Apokalypse, als vielmehr der Befreiungstheologie des Buches Exodus dachten. Wahrend des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts stellten sie das Ruckgrat der schwarzen Burgerrechtsbewegung. Sie traten konsequent gegen die Todesstrafe und fur den Wohlfahrtsstaat ein und wahlten, 2012 zu 90 %, seit den 1930er Jahren die Demokratische Partei. Freilich schleppten auch die black churches ihr Problembundel mit sich herum. Zum einen waren sie haufig antisemitisch eingestellt, zum anderen ausgesprochen homophob. Homosexualitat galt ihnen regelrecht als Krankheit des weißen Mannes. In beiden Konfliktfeldern wurde sie an Radikalitat noch von ihrer schwarzen Konkurrenz, der Nation of Islam, ubertroffen. Diese von der Weltgemeinschaft des Islam nicht anerkannte sektenartige Bewegung war in den 1930er Jahren entstanden und rekrutierte sich nicht zuletzt aus schwarzen Gefangnisinsassen, auf die sie oft einen heilsamen erzieherischen Einfluss ausubte. Gleichzeitig aber war die Nation of Islam rassistisch, antiliberal, homophob und antisemitisch. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sie zu stagnieren. Dennoch behalten black churches und Nation of Islam weiterhin einen hohen gesellschaftlichen und kulturellen Stellenwert in der schwarzen Minderheit der USA.