Der Kongress im Zeitvergleich
Der Kongress ist aus einer international vergleichenden Perspektive ein sehr besonderes Parlament. Betrachtet man die skizzierten Eigenarten jedoch im Zeitvergleich, dann werden durchaus Unterschiede und Entwicklungen deutlich. Dies betrifft vor allem die Rolle der Parteien im Kongress, die zu unterschiedlichen historischen Phasen unterschiedlich geschlossen und polarisiert sind.
Die wechselhafte Rolle der Kongressparteien wird bereits Ausgangs des 20. Jahrhunderts durch Lowell (1901, S. 336) thematisiert, der in einer Untersuchung zu parlamentarischen Parteien in den USA und Großbritannien feststellt, dass der Grad an Parteigeschlossenheit im Kongress stark zwischen Legislaturperioden variiert. Seine Analyse entstand unter dem Eindruck einer Phase der Parteistarke, die in die Literatur als „Zarenherrschaft“ eingegangen ist. Diese Phase erstreckte sich auf die Jahre zwischen 1890 bis 1911. Sie ist durch die Amtsperiode zweier Sprecher des Reprasentantenhauses (speakers) gekennzeichnet, die an der Spitze der damaligen Republikanischen Mehrheit standen, und deren aktiver und parteiorientierter Fuhrungsstil maßgeblich zur Disziplinierung der Republikanischen Parlamentsfraktion beitrug. Bei diesen Sprechern handelte es sich um Thomas Reed (R – ME) und Joseph Cannon (R – Ill). Die Fuhrungsstrategien, die in beiden Fallen zum Tragen kamen, umfassten u. a. die weitgehende Kontrolle der Vergabe von Ausschusssitzen durch den jeweiligen speaker, teilweise unter Absehung der Senioritatsregel. Mitglieder des Reprasentantenhauses, die in einen Konflikt mit den gesetzgeberischen Vorhaben der Parteifuhrung gerieten, wurden vielfach anderen, weniger ‚sto¨renden' Ausschussen zugewiesen. Weiterhin unterwarfen Reed und Cannon als Vorsitzende des Geschaftsordnungsausschusses das Gesetzgebungsverfahren im Plenum ihrer vollstandigen Kontrolle (Smith und Gramm 2013, S. 172f.). Die Fragen, welche Gesetzgebungsvorhaben unter welchen Regeln wann im Plenum beraten und welchen Ausschussen zugewiesen werden konnten, waren in dieser Phase ‚Chefsache', d. h. in starker Weise von der Parteifuhrung beeinflusst.
Auf der Ebene des Abstimmungsverhaltens der Kongressmitglieder druckte sich die Starke der Parteigruppierungen in dieser Phase in einem hohen Grad an Geschlossenheit aus, insbesondere in den Reihen der Republikanischen Mehrheit im Reprasentantenhaus. Der entsprechende Wert liegt mit einem Mittel von 85 % fur die Phase zwischen 1896 und 1906 an einer oberen Grenzen im Vergleich uber Zeit (Brady et al. 1979, S. 384). Diese Phase der Parteidominanz im Reprasentantenhaus endete mit einem innerparteilichen Konflikt in der Republikanischen Partei, der zu der Ablo¨ sung von Joseph Cannon fuhrte. Die Bedeutung der Parteien entwickelte sich in der Folge zuruck und die Kongressausschusse gewannen wieder an Autonomie, u. a. durch die konsequente Umsetzung der Senioritatsregel im Verfahren der Vergabe von Ausschusssitzen.
Die Literatur zum Kongress ist sich einig darin, dass die 1950er bis 1970er Jahre durch eine außergewo¨hnliche Schwache der Parteigruppierungen gekennzeichnet waren und damit in einem deutlichen Kontrast zur Phase der ‚Zarenherrschaft' stehen. Die Befunde zur Geschlossenheit der Parteien im Plenum sprechen hier eine deutliche Sprache. Die Analyse von Brady et al. (1979, S. 385) findet fur die Phase von 1956 bis 1966 fur die Demokratische Mehrheitsfraktion im Reprasentantenhaus eine mittlere Geschlossenheit von 68 %. Das heißt, dass im Mittel 32 % der Mehrheitsfraktion nicht mit der Parteimehrheit gestimmt hat. Einschlagige Analysen zu den Strategien der Parteifuhrungen in dieser Phase betonen die Dominanz ‚weicher' Fuhrungsstrategien wie die Organisation sozialer Zusammenkunfte und die argumentative Einwirkung auf die Mitglieder der jeweiligen Parlamentsfraktion (Davidson et al. 2013, S. 152f.). Diese Schwachephase der Parteien geht mit einem Bedeutungszugewinn der Kongressausschusse einher, die in den 1950er und 1960er Jahren als Steuerungszentren im Kongress gelten (Fenno 1973). Dieser Phase der
‚Ausschussregierung' im Kongress wird durch weitgehende Strukturreformen in den 1970er Jahren ein Ende gesetzt, die zu einer Starkung der Unterausschusse bei gleichzeitiger Schwachung der Ausschussvorsitzenden fuhren. Die Hauptintention dieser Reformen lag in der Starkung der Kontroll- und Gesetzgebungskapazitaten der Institution (Sundquist 1981). De facto fuhrten sie zunachst zu einer weiteren Zergliederung und Individualisierung in der Binnenorganisation des Kongresses. Ihre Ironie liegt in dem Umstand begrundet, dass sie die fruchtbare Grundlage fur eine neue Phase der parteipolitischen Polarisierung boten.
Mit dem Beginn der Prasidentschaft Ronald Reagans im Jahr 1981 sehen viele Beobachter den Beginn einer neuen Phase der Parteidominanz und der parteipolitischen Polarisierung eingeleitet (Rohde 1991, S. 51). Mitte der 1990er Jahre verweisen Beobachter in diesem Zusammenhang auf Veranderungen auf der Ebene der Einstellungen der Kongressmitglieder, die sich u. a. in der verringerte Bedeutung informeller Normen der U¨ berparteilichkeit und der Reziprozitat ausdrucken (Uslaner 1996). Die Haushaltsblockaden von 1990 und 1996, die massiven Konflikte um die gesetzgeberische Agenda zwischen Prasident Clinton und dem 1994 gewahlten Sprecher des Reprasentantenhauses Newt Gingrich (R – Ga), und vor allem das impeachment-Verfahren gegen Prasident Clinton in 1998, gelten als fallbezogene Beispiele fur den zunehmenden Konflikt zwischen zunehmend disziplinierten Parteien (Ware 2010, S. 58f.). Damit verbunden ist das gesteigerte aktive Bemuhen der Parteifuhrungen um die Herstellung von Parteigeschlossenheit. Als vielzitierte Beispiele gelten entsprechende Maßnahmen Gingrichs, der in aktiver und entschlossener Weise die Vergabe von Ausschusssitzen und die Steuerung des Gesetzgebungsprotesses seiner Kontrolle unterwarf (Smith und Gramm 2013, S. 182f.; Ware 2010, S. 59).
Die einschlagigen quantitativen Indikatoren dokumentieren die anwachsende Parteigeschlossenheit im Kongress seit den 1980er Jahren bei zunehmender parteipolitischer Polarisierung (Mann 2010, S. 118f.; Theriault 2006; Fleisher und Bond 2004). Fur das Reprasentantenhaus und das Jahr 2011 dokumentieren Davidson et al. (2013, S. 255) mit 76 % ein historisches Hoch von Abstimmungen, die nach der gangigen Definition als parteibezogen bezeichnet werden. Gleichzeitig bewegt sich der Grad an innerparteilicher Geschlossenheit zu Beginn der 2010er Jahre auf einem Allzeithoch. In den Jahren 2011 und 2012 haben im Mittel 92 % der Mitglieder der Demokratischen Partei im Reprasentantenhaus und im Senat mit ihrer Partei gestimmt. Die entsprechenden Werte fur die Republikanische Partei liegen nur unwesentlich unter diesen Werten. Lediglich die Republikanische Fraktion im Senat weicht mit einer mittleren Geschlossenheit von 80 % in 2012 von diesem Muster ab (Davidson et al. 2013, S. 256f.). Diese Abweichung andert nichts an dem Umstand, dass sich der Kongress in einer neuen Phase der parteipolitischen Polarisierung bei hoher Parteigeschlossenheit befindet, die in die Richtung einer Europaisierung des US-amerikanischen Gesetzgebers deutet (Uslaner und Zittel 2006).