Interessengruppen und das politische System der USA

Anders als in den korporatistischen Strukturen der Interessenvermittlung, wie sie in Teilen Kontinentaleuropas mit starken Dachverbanden, tripartistischen Arrangements und ‚konzertierten Aktionen' zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Staat lange vorherrschend waren, sind Interessengruppen in den USA seit jeher dezentral und staatsfern strukturiert. Diese nicht-korporatistische Struktur der Interessenvermittlung in den USA erklart die schiere Gro¨ße der Interessenlandschaft (Lo¨sche 2008, S. 274). Doch existieren noch weitere Grunde, weswegen Verbande, Interessengruppen und Think Tanks in den USA eine noch gro¨ßere Rolle spielen als in anderen westlichen Demokratien.

Der erste Grund ist sozio-kultureller Natur. Interessenvertretung und Lobbying sind in den Vereinigten Staaten von Amerika verfassungsrechtlich geschutzte Aktivitaten. Der erste Verfassungszusatzartikel schutzt ausdrucklich die Rede-, Vereinigungs- und die Petitionsfreiheit und besitzt innerhalb der Grundrechte einen kulturell erho¨hten Status (Eastman 1997). Zudem war die amerikanische Gesellschaft nahezu von Anbeginn entlang von dem Einkommen betreffender, beruflicher, religio¨ser, ‚rassischer', landsmannschaftlicher und kultureller Grenzen segmentiert und entsprechend organisiert. Schon Alexis de Tocqueville bemerkte 1835 die starke Neigung der Amerikaner, sich in freiwilligen Assoziationen zu organisieren. Auf Tocqueville geht auch die Tradition zuruck, das private Engagement der Amerikaner in Vereinigungen und freiwilligen Clubs per se als eine demokratiefo¨ rderliche Verhaltensweise zu betrachten.

Der zweite und vielleicht wichtigste Grund liegt in der gewaltenteiligen Struktur des amerikanischen Regierungssystems. Die Funktionslogik des Prasidialsystemsystems der USA bestimmt in hohem Maße die Struktur und die Arbeitsweise der organisierten Interessenvertretung und des Lobbyismus. Mit seinem stark fragmentierten Entscheidungsprozess im Kongress und geringem Fraktionszwang bietet es ho¨here Anreize fur die Vertretung von Einzelinteressen

als ein parlamentarisches System mit Gewaltenfusion und Fraktionszwang. In den USA ist somit institutionell der Anreiz gegeben, neben der Exekutive auch die Legislative – und dort einzelne Abgeordnete und Ausschussmitglieder – zum mindestens gleichberechtigten Adressaten, wenn nicht gar zum Hauptziel der Lobbybemuhungen zu machen.

Einen weiteren starken institutionellen Anreiz fur Mehrebenenlobbyismus bietet der amerikanische Wettbewerbsfo¨deralismus. US-Bundesstaaten nehmen zwar weniger Einfluss auf die nationale Gesetzgebung, jedoch besitzen sie erheblichen politischen Gestaltungsspielraum – insbesondere in der Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik, da Kompetenzen zuruckverlagert wurden und in den Einzelstaaten wichtige innenpolitische Experimente stattfinden. Die institutionellen Bedingungen der Politik in den Einzelstaaten wie beispielsweise selten und kurz tagende Legislativen, oder eine schwache Beratungsinfrastruktur der Exekutive bilden einen besonders guten Nahrboden fur lobbyistische Arbeit und machen die Detailkenntnis und das institutionelle Gedachtnis der professionellen Lobbyisten nahezu unentbehrlich.

Als dritter institutioneller Anreiz pragt das Wahlrecht in den USA die Strategien der organisierten Interessenvertretung. Samtliche Abgeordnete und Senatoren – egal ob auf Bundesoder Landesebene – werden direkt nach relativem Mehrheitswahlrecht gewahlt. Der Einzug in ein Parlament uber die Landesliste ist in einem solchen Wahlsystem nicht mo¨glich. Dies fuhrt zu einer engen Wahlkreisbindung der amerikanischen Volksvertreter. Verstarkt wird die enge Wahlkreisbindung durch die Praxis der namentlichen Abstimmung im Kongress und den Legislativen der Einzelstaaten. Der interessierte Wahler kann das Abstimmungsverhalten seines Abgeordneten genau nachvollziehen und bewerten. Daher besteht fur Interessenvertreter der Anreiz, auch die Stimmung in den Wahlkreisen zu beeinflussen und die Abgeordneten mit ihrem Abstimmungsverhalten zu konfrontieren.

Ein vierter institutioneller Anreiz fur bestimmte Erscheinungsformen des Lobbyismus sind die vielfaltigen Formen der direkten Demokratie, die in den USA auf Einzelstaatsebene praktiziert werden. So wird etwa in den westlichen Bundesstaaten der USA ein erheblicher Anteil der nicht-haushaltsrelevanten Gesetzgebung auf direktdemokratischem Weg entschieden.

Als letzter Grund fur die ausgepragte Rolle der Interessengruppen im politischen System der USA lasst sich die spezifische Organisationsform der amerikanischen Großparteien anfuhren, die in Verbindung mit dem kandidatenzentrierten System weiten Raum fur den Einfluss von Interessenverbanden und Think Tanks bietet. Politische Parteien sind auch in den USA die primaren Vehikel der politischen Willensbildung. In der US-Verfassung, aber auch im Selbstverstandnis der USA, besitzen die Parteien jedoch keine hervorgehobene Stellung, sind aber wahrend der Wahlkampfe in sehr hohem Maße von der Einwerbung privater Spenden sowie auf Unterstutzung durch befreundete Gruppierungen angewiesen. Daher ist die Wahlkampf- und Kandidatenfinanzierung eine besondere, aber auch sehr wichtige Art der Interessenvertretung in den USA, die in zahlreichen anderen Demokratien, mit ihren unterschiedlichen Modellen der Politikfinanzierung, keine echte Entsprechung findet.

 
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