Soziale Bewegungen im Kontext der Neoliberalisierung
Die in den 1980er Jahren einsetzende Politik der Neoliberalisierung rief neue Wellen von Protest und Bewegungen auf den Plan, die – von rechts wie links – gegen die Auswirkungen von Deregulierung, Privatisierung, und Flexibilisierung mobilisierten. Genauso wie fur die liberale und fordistische Phase ist auch diese Phase von einer spezifisch amerikanischen Auspragung (neoliberaler) Regulation gekennzeichnet, in der ethnische Ungleichheit, v. a. im dualen System von Arbeits- und Wohnungsmarkten, eine große Rolle spielt.
Die Deindustrialisierung der spaten 1970er und fruhen 80er Jahre betraf weiße und schwarze Industriearbeiter gleichermaßen, aber schwarze konfrontierten weit mehr Hurden beim Versuch, alternative Mo¨glichkeiten zu erschließen, zumal
ihre Arbeitslosigkeitsraten konstant ho¨her waren (und sind). Die durch die Burgerrechtsrevolution initiierten Verbesserungen in der Lage der AfroamerikanerInnen fanden primar in den 15 Jahren nach der Bundesgesetzgebung 1964/65 statt– ab 1980 verlangsamte sich der Aufwartstrend deutlich.
Parallel zum Abbau von Sozialhilfe und sozialem Wohnungsbau und Verscharfungen im Strafsystem (Alexander 2010) intensivierte sich ein gesellschaftlicher Diskurs, in dem AfroamerikanerInnen als sto¨rrische Hemmnisse einer wiedererstarkenden (v. a. stadtischen) O¨ konomie dargestellt wurden: arme schwarze Frauen wurden als undeserving, als des sozialen Sicherheitsnetzes nicht wurdig verleumdet, junge schwarze Manner als tendenziell kriminell.
Die zunehmende Verlagerung industrieller Fertigung in billigere Lander fuhrte jedoch in breiten Schichten zu Arbeitsplatzverlusten und die unter Reagan einsetzende Austeritatspolitik produzierte ebenfalls in wachsenden Kreisen sozialen Abstieg oder zumindest die Furcht davor. Dadurch verbreiterte sich die soziale Basis fur Rekrutierungsversuche reaktionarer politischer Gruppen: Antistaatliche Steuerrevolten konnten in mehr und mehr Einzelstaaten Referenden, v.a. gegen die property tax, durchsetzen, bei denen konservative (suburbane) Eigenheimbesitzer oft Allianzen mit religio¨sen Fundamentalisten eingingen (Lo 1990). Auch breiteten sich in den 1990er Jahren sowohl die Christliche Rechte als auch rechtsradikale Militias aus, die an die Traditionen fruherer rechter populistischer Bewegungen anknupften – beides Bewegungen, die den Unmut uber Enteignungen und Entrechtung weg von wirtschaftlichen und politischen Eliten in Richtung xenophober, rassistischer und konspirativer Anschauungen kanalisierten.
Auf der anderen Seite produzierte die neoliberale Globalisierung eine neue, global-lokal ausgerichtete progressive Bewegung. Proteste gegen supranationale Organisationen wie WTO, IWF, Weltbank oder gegen Gipfeltreffen der G8, die in Europa als Antiglobalisierungsbewegung bekannt wurden, firmieren in den USA als global justice movement. Unterschiedliche Bewegungen brachten insbesondere bei Gipfeltreffen (1999 in Seattle, 2000 in Washington, 2003 in Miami) pluralen, breiten Widerstand gegen die Politik der neoliberalen Globalisierung zum Ausdruck und versuchten, die Treffen zu sto¨ren oder zumindest ihre Themen zu politisieren. In langen Vorbereitungen und wahrend der Tage des Protests entwickelten sich dabei Koalitionen und Netzwerke aus lokalen, regionalen, nationalen und globalen Organisationen, die bei Demonstrationen, Blockaden, Versammlungen, Workshops und Kulturveranstaltungen zusammen arbeiteten. Neben einigen transnationalen Netzwerkorganisationen (wie People's Global Action, Grassroots Global Justice) sind in den USA vor allem lokale Gruppen aktiv, in Seattle waren das neben alten linken und anarchistischen Gruppierungen und neuen Umwelt-, Frauen- und religio¨s-orientierten Gruppen auch die Hafenarbeiter, Teamster und Gewerkschaftsgruppen, die bereits die lokalen Streiks von 1919 und 1934 getragen haben (Levi und Olson 2000). Die global justiceBewegung richtet sich also nicht nur auf (gegen-)hegemoniale Globalisierung, sondern versucht auch vor Ort die negativen Auswirkungen des globalen neoliberalen Projekts deutlich zu machen und den Widerstand dagegen zu organisieren. Aus der Koalition globalisierungskritischer Gruppen in Seattle,
die den Anti-WTO-Protest vorbereitet und koordiniert hatten, bildete sich ein nordamerika-weiter Zusammenschluss ahnlicher lokaler, autonomer Gruppen, das Direct Action Network (DAN). Dieses Netzwerk spielte eine wichtige Rolle in der Verbreitung des ursprunglich von Quakern, Burgerrechtlern und Feministinnen entwickelten Modells der affinity groups und consensus decision making.
Im Gegensatz zu anderen globalisierungskritischen Bewegungen erlitt die US-amerikanische durch 9/11 einen massiven Ruckschlag. Im Kontext des amerikanischen ‚War on Terror' anderte sich die politische Gelegenheitsstruktur fur soziale Bewegungen dramatisch, der o¨ffentliche Diskurs wurde komplett vom Thema der bedrohten Homeland Security beherrscht (vgl. Gilham und Edwards 2011). Wahrend sich in anderen Landern die globalisierungskritischen Bewegungen im Gefolge des ersten Weltsozialforums 2001 in Porto Alegre auch regional und lokal in Sozialforen zu organisieren begannen, wandten amerikanische Aktivisten sich 2002-3 starker der Antikriegsbewegung (v.a. gegen den Irakkrieg) zu. In den USA fand zunachst keine vergleichbare Internalisierung des Sozialforumsprozesses statt, und als schließlich 2007 das erste US Sozialforum in Atlanta organisiert wurde, unterschied es sich, genauso wie ein folgendes 2010 in Detroit, in wichtigen Dimensionen von europaischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Foren. Statt transnationaler beziehungsweise globaler Themen standen vielfaltige innenpolitische single issues im Vordergrund, die obendrein kaum miteinander in Verbindung gebracht wurden. Im Gegensatz zum fur das WSF zentralen Open Space-Konzept, in dem die Vielfalt und die Differenzen der beteiligten Bewegungen als positiv und als potentielle Energiequelle fur eine progressive gesellschaftliche Transformation gelten, defi die amerikanischen AktivistInnen ihr Forum als intentional space – aus der Erfahrung heraus, dass offene, unstrukturierte Bewegungsarenen allzu leicht von ressourcenreichen Akteuren, in den USA also von weißen Mannern aus der Mittelklasse dominiert werden (Blau und Karides 2008; Juris 2008). Um dies zu vermeiden, bemuhten sich die VeranstalterInnen, v. a. Schwarze, Latinas, Indigene und andere marginalisierte Gruppen in die wichtigen Sprecherpositionen zu bringen. Dadurch forcierten sie die starke Vertretung von ethnisch-orientierten Community-Organisationen, die politisch haufi eine Distanz zu anarchistischen oder anderen linken Gruppen wie dem Direct Action Network, aber auch zu weißen Gewerkschaften pfl en. Spannungen zwischen diesen unterschiedlichen Akteuren innerhalb der amerikanischen sozialen Bewegungen wurden hier zwar bearbeitbar, tauchen aber auch im nachsten, durch die Occupy-Bewegung angestoßenen Bewegungszyklus wieder als charakteristisch und spezifi ch fur die US-Variante des ‚globalen Aufstands' auf.
Dennoch bot diese Phase sich intensivierender Neoliberalisierung auch eine Grundlage fur diverse Bewegungen, sich zu vernetzen und zu verbunden: zunehmend bildeten sich in den 1990er und 2000er Jahren neue Allianzen, von grunblauen (zwischen Umwelt- und ArbeiterInnen-Gruppen, vgl. Mayer et al. 2010) uber Allianzen zwischen Friedens- und Global Justice-Bewegungen (Beamish und Luebbers 2009) bis hin zu Koalitionen zwischen Frauen- und Gewerkschaftsbewegungen (Roth 2003).