Sozialpolitik zwischen Markt und Staat

Christian Lammert

Einleitung

Die USA gelten als das Land der unbegrenzten Mo¨glichkeiten, hier – so ein gangiges Klischee – kann man es vom Tellerwascher zum Milliardar schaffen. Auf der Liste der reichsten Menschen der Welt, die das Forbes Magazin regelmaßig publiziert, stehen dann auch regelmaßig US-Burger ganz weit oben. Allerdings gibt es auch das andere, das arme Amerika: Obdachlose, die sich im Winter unter den Zubringern der Highways in den Randgebieten der Großstadte an brennenden

O¨ ltonnen die Finger warmen, Suppenkuchen und extrem hohe Kriminalitatsraten.

Die USA, ein Land der großen Widerspruche: extremem Reichtum steht extreme Armut gegenuber. Im Jahr 2012 lebten 46,3 Millionen US-Burger unter der Armutsgrenze, das sind 15 % der Gesamtbevo¨ lkerung (DeNavas-Walt u. a. 2013). Die USA: das Land extremer Gegensatze, in dem man grandiosen Erfolg haben aber auch ganz leicht scheitern kann.

Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008, die immer wieder mit der Großen Depression in den 1930er Jahren verglichen wird, hatte sich die soziale Lage in den USA noch drastisch zugespitzt: Millionen von Familien haben im Zuge der geplatzten Immobilienblase ihre Wohnungen und Hauser verloren. Langzeitarbeitslosigkeit und ein mangelhaftes Krankenversicherungssystem haben die Anzahl privater Insolvenzen in die Ho¨ he getrieben, die ehemals breiten und selbstbewussten Mittelschichten, die fur das Selbstverstandnis der US-Gesellschaft so entscheidend sind, scheinen wegzubrechen oder zumindest schwer angeschlagen zu sein. Eine weitreichende Verarmung und Verelendung bei gleichzeitiger Konzentration des Reichtums in den Handen einiger weniger, wie sie die USA seit dem Ende des 19. Jahrhundert nicht mehr erlebt haben, wirft Fragen nach den sozialen Sicherungssystemen in den USA auf. Mit diesem Artikel sollen die Grundstrukturen, die ideologische Einbettung und die historische Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme in den USA skizziert werden, um so den spezifischen Charakter des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates besser erfassen zu ko¨nnen.

2 US-amerikanische Sozialpolitik in Perspektive

Um die spezifischen Muster sozialer Absicherung in den USA besser zu konturieren, ist ein konzeptioneller und vergleichender Blick auf Sozialpolitik notwendig. Insbesondere aus einer vergleichenden Perspektive haben sich zwei Interpretationen zur wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in den USA etabliert: Zum einen sei der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat im internationalen Vergleich ungewo¨hnlich schwach ausgepragt und zum anderen aus einer historischen Perspektive ein Nachzugler (vgl. Garfinkel u. a. 2010). Solche Einschatzungen und Deutungen erfordern naturlich ein genaues Verstandnis dessen, was man unter einem Wohlfahrtsstaat versteht und welche Funktionen Sozialpolitik uberhaupt zugeschrieben werden. Die Vertreter der beiden genannten Interpretationen verweisen zumeist auf das Ausgabenniveau, das die Staaten fur Soziales aufwenden und den Zeitpunkt, an dem die umfassenden o¨ffentlichen sozialen Sicherungssysteme etabliert worden sind. Und in der Tat kann der US-Wohlfahrtsstaat aus einem solchen Blickwinkel als ruckstandig, fragmentiert und unvollstandig charakterisiert werden. Von den großen Sozialversicherungsprogrammen war vor 1935 lediglich eine Unfallversicherung fur Arbeiter (workmen's compensation) eingefuhrt worden. Die gesetzliche Renten- und Arbeitslosenversicherung folgte in den 1930er Jahren im Zuge der New Deal Gesetzgebung, und erst in den 1960er Jahren wurde eine Krankenversicherung fur Senioren implementiert. Das hier erkennbare dominante Prinzip der sozialen Sicherheit, das zu einem Leitbild wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung geworden ist, kann allerdings nicht als einzige Ziel- und Werteidee gesetzt werden. Gerechtigkeit, Freiheit und Solidaritat sind alternative Ideale und Orientierungen, die genannt werden ko¨nnen. Solche unterschiedlichen Leitbilder und Vorstellungen von den primaren Aufgaben und Zielsetzungen der Sozialpolitik sind nicht uberall gleich ausgepragt und auch nicht statisch uber die Zeit, sondern unterliegen bestimmten nationalen und regional bestimmten ideologischen Denk- und Wertetraditionen und mussen in den entsprechenden Gesellschaften immer wieder neu ausgehandelt werden. Dabei ko¨nnen insbesondere drei Sektoren genannten werden, die im modernen Gesellschaften Wohlfahrt produzieren, bzw. Solidaritat stiften ko¨nnen: Der Markt, der Staat und die Familie (Esping-Andersen 2002).

Die USA unterscheiden sich von den meisten anderen westlichen Sozialstaaten darin, wie und welche Aufgaben und Relevanz sie diesen verschiedenen Sektoren zuschreiben. In der US-amerikanischen Gesellschaft mit ihrer starken liberalen Tradition und der damit verbundenen Betonung von Individualismus und Eigenverantwortung spielt der Markt eine zentrale Rolle bei der Verteilung von Lebenschancen und der Versorgung der Burger. Dem Staat wird hier weniger Vertrauen entgegengebracht. Er soll in erster Linie die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, damit der Markt ausreichend Reichtum und Wohlfahrt produzieren kann. Dieser Aspekt ist zum Verstandnis der US-Sozialpolitik ganz elementar und wird sowohl in der aktuellen politischen Debatte aber auch in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung nicht ausreichend thematisiert. Dies ist umso erstaunlicher, weil bereits in den 1970er Jahren der britische Soziologe Richard Titmuss die analytischen Konzepte erarbeitet hat, die diese Differenzen berucksichtigen. Titmuss (1976) unterscheidet idealtypisch drei Modelle, abhangig davon, welche Rolle dem Staat im Verhaltnis zu anderen Wohlfahrtsproduzenten zugewiesen wird: Im ersten Modell dominieren der Markt und die Familie als Wohlfahrtsproduzenten. Staatliche Institutionen springen erst ein, wenn die beiden ersten Instanzen versagen. Beim zweiten Modell besteht die Funktion staatlicher Sozialpolitik nicht vornehmlich darin, Luckenbußer zu sein, sondern vielmehr darin, den im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung erreichten sozialen Status der Burger abzusichern. Sozialversicherungsprogramme sind hierfur das zentrale Instrument. Dem dritten Modell liegt dann das umfassendste Verstandnis von staatlicher Sozialpolitik zugrunde. Der Staat stellt dem Burger hier Leistungen zur Verfugung, unabhangig von sozialen Statusunterschieden und ihrer Position auf dem Arbeitsmarkt. Die Leistungen sind universell und leiten sich aus dem Status als Staatsburger ab. Laut der gangigen Interpretation kommen die USA dem residualen Modell am nachsten: staatliche Instanzen greifen erst, wenn die anderen Instanzen versagen; zudem ist die staatliche Unterstutzung mit strikten Anspruchskriterien, Auflagen und Kontrollen verknupft.

Naturlich finden sich diese Idealtypen nicht in Reinform in der Wirklichkeit, alle Wohlfahrtssysteme sind ein spezifischer Mix aus den drei verschiedenen Modellen. Mit Blick auf die USA mussen die Sozialversicherungsprogramme genannt werden, um deutlich zu machen, dass es auch hier durchaus statuserhaltende Elemente gibt. Auch bei der notwendigen Feineinstellung in dieser Frage ko¨nnen wir auf Titmuss zuruckgreifen, der nicht nur die Institutionen der Wohlfahrtsproduktion, sondern auch die Art der Leistungen unterscheidet, die durch diese generiert werden. Soziale Wohlfahrtsleistungen sind bei Titmuss angelehnt an etablierte Definitionen: o¨ffentliche Sozialversicherungsprogramme, Gesundheitsprogramme und Sozialhilfe. In Abgrenzung dazu hebt er die Bedeutung von beschaftigungsbezogenen und fiskalen Wohlfahrtsleistungen hervor. Erstere umfassen soziale Transfer und Vorsorgeprogramme, die uber den Arbeitsplatz zur Verfugung gestellt werden und somit in erster Linie privat organisiert sind. Im Bereich der fiskalen Wohlfahrt kommen dann aber Markt und Staat starker zusammen: private bzw. beschaftigungsbezogene Sozial- und Versicherungsleistungen werden vom Staat uber das Steuersystem subventioniert. Sozialpolitik kann also nicht reduziert werden auf o¨ffentlich verwaltete und finanzierte direkte Transferprogramm; private und uber das Steuersystem indirekt subventionierte Sozialleistungen mussen mitberucksichtigt werden, um die spezifische Auspragung eines Wohlfahrtssystems zu erfassen. Aus einer solchen breiten Perspektive zeigt sich ein weit komplexeres Bild von Sozialpolitik in den USA. So finden sich hier im Prinzip die gleichen Strukturelemente und Merkmale wie in allen anderen entwickelten Demokratien. Die These vom American Exceptionalism in der Sozialpolitik muss also relativiert werden. Allerdings setzt sich der ‚Baukasten Sozialpolitik' in den USA doch deutlich anders zusammen als in Europa, und dies lasst sich primar aus der Geschichte, den dort dominanten Wertetraditionen, spezifischen politischen Konfliktlinien und Entscheidungsstrukturen sowie der Bevo¨lkerungszusammensetzung ableiten. Hier ist nicht der Raum, um die spezifischen Voraussetzungen zu erarbeiten, dies kann an andere Stelle nachgelesen werden (Grell und Lammert 2013). Im Folgenden wird vielmehr die spezifische institutionelle Auspragung der USA analysiert.

 
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