Historische Entwicklungslinien und zentrale sozialpolitische Bereiche
In der Forschung zum US-amerikanischen Wohlfahrtsstaat dominierte lange Zeit die Auffassung von den beiden außergewo¨ hnlichen sozialpolitischen ‚big bangs' (Leman 1977). Demnach war der New Deal in den 1930er Jahren eine Art
verspateter Urknall, der die rechtlichen und strukturellen Grundlagen fur zentrale Sozialleistungen legte. Diese wurden dann in den 1960er Jahren im Zuge des War on Poverty und der Great Society erganzt. Spatestens seit den 1990er Jahren wird diese Interpretation der nicht linearen Herausbildung des Wohlfahrtsregimes in den USA immer haufiger in Frage gestellt und relativiert (vgl. z. B. Weir u. a. 1988; Skocpol 1992; Amenta 1998; Thelen 1999). So konnten Studien zeigen, dass bereits vor der New Deal Gesetzgebung in vielen Bundesstaaten wichtige Vorlaufer nationaler Sozialprogramme existierten, die der stark fo¨deralen Staatsform ent-
sprachen und zum Teil weit mehr Personen umfassten, als die europaischen A¨ qui-
valentprogramme (Orloff 1993, 136). Zum anderen ruckte auch die private und steuerbasierte Sozialpolitik starker in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Forschung, die einem komplett anderen Entwicklungsmuster als die o¨ffentlichen Wohlfahrtsprogramme folgte. Letztere Bereiche des Wohlfahrtsregimes versuchte man in der Forschung mit unterschiedlichen Begriffen zu fassen: der franchise state (Wolfe 1975), der shadow state (Wolch 1990), der ‚hidden welfare state' (Howard 1997) oder der submerged welfare state (Mettler 2011). Bislang fehlt in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung noch eine systematische Abbildung des besonderen welfare mix, der das Wohlfahrtsregime in den USA von seinem europaischen Gegenpart so deutlich unterscheidet.
In Abb. 5 wird das Wohlfahrtsregime in drei Saulen dargestellt, die nicht nur den o¨ffentlichen Teil umfassen, sondern auch die private und steuerbasierte Sozialpolitik in den Blick nehmen, die den spezifischen welfare mix in den USA ausmachen. Im Folgenden soll an den Bereichen Alters- und Gesundheitspolitik sowie dem Sozialhilfebereich dieses spezifische Mischungsverhaltnis sowie der fragmentierte Charakter der US-Sozialpolitik exemplarisch skizziert werden. Einige andere wichtige sozialpolitische Bereiche (Arbeitsmarkt-, Familien-, Bildungs- und Wohnungspolitik) mussen dabei aus Platzgrunden außen vor gelassen werden (vgl. zu diesen Bereichen Grell und Lammert 2013).
4.1 Gesundheit: O¨ ffentliches oder privates Gut?
Die Gesundheitspolitik geho¨rt sicherlich nicht nur wegen der jungsten Reformen der Obama-Administration zu den besonderen sozialpolitischen Bereichen. Lange Zeit wurde der Ausnahmencharakter des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates mit dem Fehlen eines universellen o¨ffentlichen Krankenversicherungssystems begrundet (Be´land und Hacker 2004; Quadagno 2004). Bis zur Verabschiedung des Patient Protection and Affordable Care Acts von 2010 gab es nur einen eingeschrankten Schutz gegen das Risiko Krankheit. Das etablierte US-amerikanische System teilte sich in einen staatlich organisierten Bereich, der fur eine Grundversorgung von meist mittellosen Bevo¨lkerungsgruppen (Mediciad) sowie Behinderten und Rentner (Medicare) aufkam, und in einen weitreichenden und wenig regulierten privaten Versicherungsmarkt fur den Rest der Bevo¨lkerung. Dieser private Versicherungsbereich ist uberwiegend uber den Arbeitsplatz organisiert. Das heißt, wer einen Job hat, hatte im Regelfall auch einen Krankenversicherungsschutz. Das Ausmaß des Schutzes war abhangig vom Versicherungsprogramm, das der Arbeitgeber angeboten hat. Nach Daten der Zensusbeho¨rde hatten kurz vor der Obama Reform rund 56,1 % der US-Burger eine Krankenversicherung uber den Arbeitgeber abgeschlossen und etwa 30 % qualifizierten sich fur ein o¨ffentliches Gesundheitsprogramm (Blank 2010). Die Probleme im Gesundheitssektor, die dann schließlich auch zur Reform unter der Obama-Administration fuhrten, lassen sich mit zwei Worten umreißen: Kostenentwicklung und NichtVersicherte. Obwohl der Staat in den USA einen Großteil der medizinischen Versorgung und Absicherung dem privaten Markt uberlasst, sind in kaum einem anderen Land die o¨ ffentlichen Gesundheitsausgaben in den letzten Jahren derart explodiert wie hier. Betrug ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1980 noch 3,7 %, so waren es 2007 bereits 7,2 % (OECD 2011). Damit ist das US-System das teuerste Gesundheitssystem aller entwickelten OECD-Staaten. Im Jahr 2010 gaben die US-Burger pro Kopf 8.402 US-Dollar (USD) fur ihre Gesundheitsversorgung aus, doppelt soviel wie beispielsweise die Burger in Deutschland. Inzwischen verschlingt das Gesundheitssystem – rechnet man private und o¨ ffentliche Ausgaben zusammen – fast 20 % des BIP (Centers for Medicare und Medicaid 2010).
Neben der Kostenentwicklung zahlt das hohe Ausmaß an Nichtbzw. UnterVersicherten zu den zentralen Problemen. 2010 hatten 16,2 %, das sind annahrend 50 Millionen Menschen in den USA, keine Krankenversicherung (Blank 2010). Aber selbst bei vielen Haushalten und Individuen, die uber eine Versicherung verfugen, stellt ein Unfall oder eine Erkrankung ein erhebliches finanzielles Risiko dar, weil sie als unterversichert gelten und die Versicherungspolicen extreme Eigenbeteiligungen bei medizinischen Behandlungen, Operationen und Krankenhausaufenthalten verlangen. Zwei-Drittel aller privaten Haushaltsinsolvenzen gehen in den USA auf Krankheiten, bzw. die dafur notwendigen Behandlungskosten zuruck (Himmelstein u. a. 2009). Allerdings ist es nicht so, dass NichtVersicherte und undokumentierte Migranten – wie haufig kolportiert wird – vollstandig von jedweder Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind. Seit dem Emergency Medical Treatment and Labor Act von 1986 sind die meisten Krankenhauser gesetzlich verpflichtet, eine Notfallbehandlung vorzunehmen, auch wenn keine Krankenversicherung vorliegt.
Wie sehen nun die einzelnen Programmstrukturen und -leistungen im Gesundheitsbereich der USA aus? Wie bereits erwahnt, ist der Großteil der US-Bevo¨lkerung uber eine betriebliche Gruppenversicherung abgesichert. Zwischen 70 % und 85 % der anfallenden Pramien ubernimmt dabei in der Regel der Arbeitgeber, der auch die Vertrage mit den privaten Versicherungsunternehmen aushandelt. Im Schnitt lag die jahrliche Versicherungspramie 2012 bei 12.745 USD fur eine Familie mit zwei Kindern, wovon der Arbeitgeber 11.429 USD ubernahm und der Arbeitnehmer die restlichen 4.316 USD zahlen musste (Kaisers Family Foundation 2012, S. 83). Fur beide Seiten sind diese Kosten steuerlich absetzbar.
Durch die Koppelung des Versicherungsschutzes an den Arbeitsplatz ergeben sich allerdings grundlegende Probleme: Wer die Firma verlasst oder entlassen wird, verliert in der Regel zumindest kurzfristig seinen Versicherungsschutz. Wer erwerbslos ist, kann sich fur gewo¨hnlich keinen privaten Versicherungsschutz leisten. Zudem ist der Abdeckungsgrad in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich rucklaufig. Zwischen 2000 und 2008 sank er um rund funf Prozentpunkte (Holahan
u. Cook 2009, S. 2). Als Hauptgrund dieses Ruckgangs mussen an erster Stelle die gestiegenen Versicherungspramien genannt werden. Nach Angaben des ‚National Compensation Surveys' mussten die Arbeitgeber 2009 bereits 2 USD pro Arbeitsstunde fur die Krankenversicherungen ausgeben (YI 2010).
Die privaten Krankversicherungen lassen sich danach unterscheiden, wie das Verhaltnis zwischen Patienten, Versicherungen und medizinischen Dienstleistern (A¨ rzte, Krankenhauser) geregelt ist. Bei dem traditionellen Versicherungstyp
bezahlt der Patient die Behandlungskosten aus eigener Tasche und lasst sich diese dann durch die Versicherung zuruckerstatten. Viel verbreiteter sind inzwischen allerdings Versicherungssysteme, die auf einem festen Pool medizinischer Dienstleister basieren und zu festgelegten Konditionen bestimmte medizinische Versorgungsleistungen abdecken. Generell werden solche Netzwerke von Versicherungs- und Leistungsanbietern unter dem Begriff managed care gefasst. Hauptmotiv ist hier vor allem die Kostenkontrolle, ohne dabei die Qualitat der medizinischen Leistungen zu reduzieren. Als Pionier in diesem Bereich gelten die Health Maintenance Organizations (HMOs). Seit den 1970er Jahren haben diese und ahnliche Organisationen einen festen Platz im privaten Gesundheitsbereich der USA. Sie sind vertraglich verpflichtet, ihre freiwilligen Mitglieder mit ambulanten, stationaren und zum Teil auch zahnarztlichen Leistungen zu versorgen und hierfur den Versicherungsschutz zu ubernehmen. Der monatliche Beitrag ist fix und unabhangig von der Inanspruchnahme der Leistungen.
Fur alle Personen uber 65 Jahren und diejenigen, die Aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung langfristig erwerblos sind, existiert seit 1965 das nationale, vom Bund verwaltete Sozialversicherungsprogramm Medicare. Finanziert wird es uber Beitrage der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch uber allgemeine Steuermittel. Seit den 1960er Jahren sind die Kosten fur Medicare kontinuierlich angestiegen, sowohl in absoluten Zahlen als auch in Relation zum BIP. 2010 kostete Medicare den US-Staat „524 Milliarden und macht damit rund 15 % aller vom Bund finanzierten Sozialleistungen aus“ (Kaiser Family Foundation 2011, S. 1).
Das ebenfalls 1965 eingefuhrte Programm Medicaid sorgt fur eine medizinische Grundversorgung fur Personen und Kinder in Haushalten, die unter eine bestimmte Einkommensgrenze fallen. Die Leistungen werden weitgehend anteilig aus Steuermitteln des Bundes und der Einzelstaaten finanziert, aber auf der subnationalen Ebene verwaltet. In den meisten Einzelstaaten darf das Haushaltseinkommen nicht 133 % der Armutsgrenze uberschreiten, um Anspruche geltend zu machen. Daruber hinaus mussen weitere Voraussetzungen erfullt sein, wie z. B. eine ko¨rperliche Behinderung, eine Schwangerschaft oder Erziehungspflichten gegenuber minderjahrigen Kindern. Rund 60 Millionen US-Burger qualifizieren sich derzeit fur Leistungen aus Medicaid, annahrend die Halfte davon ist minderjahrig, rund ein Viertel sind Rentner und Menschen mit Behinderung. Fur Kinder existiert in allen Staaten seit 1997 daruber hinaus das State Children's Health Unsurance Programm (SCHIP). Anspruchsberechtigt sind hier Minderjahrige, deren Eltern ein Einkommen haben, das fur Medicaid zu hoch ist, aber zu niedrig, um eine privaten Krankenversicherung abzuschließen.
Unter Medicaid und SCHIP wird eine breite Palette von Leistungen angeboten. Zusatzlich zu einer medizinischen Notversorgung ko¨nnen auch Kosten fur Langzeitbehandlungen ubernommen werden, die von Medicare oder von privaten Versicherungen uberhaupt nicht oder nur zum Teil abgedeckt sind. Obwohl der offizielle Leistungskatalog recht vielfaltig ist, ist der Zugang vielerorts de facto eher eingeschrankt. Das hangt damit zusammen, dass aufgrund der reduzierten Vergutung nur wenige A¨ rzte Anreize haben, Medicaid-Patienten zu behandeln.
Mit dem 2010 mit knapper Mehrheit verabschiedeten Patient Protection and Affordable Care Act war das Ziel verbunden, in allen Einzelstaaten neue Versicherungsmarkte (Health exchanges) zu schaffen, die private Versicherungspolicen zu moderaten Preisen und nach gesetzlich geregelten Kriterien anbieten sollten. Hiermit sollen alle US-Burger mit einem Einkommen von bis zu 400 % der Armutsgrenze, die uber keine betriebliche Krankenversicherung verfugen und keinen Anspruch auf staatliche Leistungen haben, eine erschwingliche Krankenversicherung erwerben ko¨ nnen. Die Grundstruktur, dass eine Krankenversicherung vorrangig an den Arbeitsplatz gekoppelt und wichtiger Teil der unternehmerischen Sozialpolitik ist, bleibt erhalten. Allerdings wurde der Schutz der Individuen gegenuber den Versicherungsunternehmen gestarkt. Diese durfen beispielweise nicht mehr aufgrund von Vorerkrankungen (preexisting conditions) einen Versicherungsschutz verweigern. Zudem ko¨nnen die Vertragsbedingungen nicht mehr einseitig aufgekundigt oder abgewandelt werden, falls sich die Gesundheitssituation des Versicherungsnehmers verandert hat.
Der starkeren Regulierung der Versicherungsbranche steht die Einfuhrung einer allgemeinen Versicherungspflicht gegenuber, was in der Geschichte der USA einmalig ist und die dem privaten Versicherungsmarkt nach Schatzungen rund 30 Millionen neue ‚Kunden' bringen wird. Ab 2014 muss jeder Burger und auch Unternehmen mit mehr als 50 Beschaftigten, die ihren Angestellten keine Gruppenversicherung anbieten, eine Strafe zahlen. Auch wenn die duale Struktur des Gesundheitssektors mit ihrem Schwerpunkt auf den privaten Versicherungsmarkt weiter fortgeschrieben wird, kann Obamas Gesundheitsreform von 2010 als weit reichendste Sozialreform seit der A¨ ra der Great Society in den 1960er Jahren betrachtet werden. Zahlreiche Defizite im privaten System wurden entscharft und die Rechte der Versicherten wurden gestarkt.
4.2 Social Security – Third Rail of American Politics
Die Alterssicherung geho¨ rt traditionell zu den Kernbereichen staatlicher Sozialpolitik und auch in den USA steht die Alterssicherung seit jeher im Zentrum sozialpolitischer Aktivitaten und Auseinandersetzungen. Wie im Gesundheitssektor hat sich auch hier ein komplexes System o¨ffentlicher aber auch privater Leistungen herausgebildet, die sich zum Teil gegenseitig bedingen und erganzen. Die erste und staatlich organisierte Saule besteht aus der gesetzlichen Renten- und Invalidenversicherung (Old Age and Survivors Insurance and Disbaility Insurance, OASID), umgangssprachlich einfach Social Security genannt. Sie gilt als das Herzstuck des Social Security Acts von 1935 und wurde in den Nachkriegsjahren kontinuierlich ausgebaut. Die zweite Saule bildet der Bereich der betrieblichen oder berufsbezogenen Rentensysteme, die sich zurzeit in einem Umbruch befinden und immer mehr mit der dritten Saule, der rein individuellen Altersversorgung, die vorrangig uber die Kapital- und Versicherungsmarkte organisiert wird, verschmilzt. Beide Formen der privaten Absicherung werden mit erheblichen Steuerbegunstigungen staatlich gefo¨ rdert.
Zur Erfolgsbilanz von Social Security zahlt, dass sich mit ihrer Einfuhrung und Expansion das Problem der Altersarmut erheblich verringert hat. In Kombination mit Medicare hat sich die Rentenversicherung im laufe der Jahrzehnte zu einem der erfolgreichsten sozialstaatlichen Programme entwickelt. Lag die Armutsrate im Alter in den 1960er Jahren noch mit rund 35 % doppelt so hoch wie beim Rest der Bevo¨lkerung, ist sie bis 2010 auf 9 % gesunken und liegt damit deutlich unter dem Durchschnittswert bei der Bevo¨lkerung. (DeNavas u. a. 2013, S. 15). Kein Wunder also, dass die gesetzliche Rente zusammen mit Medicare in der Bevo¨lkerung auf eine sehr breite Unterstutzung sto¨ßt und sich mit der AARP (vormals American Association of Retired People) eine außerst einflussreiche Lobbygruppierung herausgebildet hat, die bislang verschiedene Reforminitiativen abwenden konnte.
Social Security ist ein beitragsfinanziertes Sozialversicherungssystem, in das fast alle US-Burger wahrend ihres Arbeitslebens einzahlen, um so Anspruche auf Lohnersatzleistungen im Alter zu erhalten. Das offizielle Renteneintrittsalter liegt derzeit bei 65,5 Jahren und wird bis 2002 graduell auf 67 Jahre angehoben. Die
gesetzliche Rentenversicherung kann annahrend als universell charakterisiert werden, da inzwischen rund 96 % der Arbeiter und Angestellte beitragspflichtig sind und somit in das System einbezogen sind. Derzeit betragt der Arbeitnehmerbeitrag (Payroll tax) 6,2 % des monatlichen Gehalts bis zu einem Jahreseinkommen von 90.000 USD. Der Arbeitgeber zahlt den gleichen Betrag in die Versicherungskasse. Organisiert ist das System nach dem Pay-as-you-go Prinzip: Die gegenwartigen Rentenzahlungen werden aus den Beitragen der heutigen Arbeitnehmer finanziert. Die Ho¨he der Rentenleistung orientiert sich am Durchschnittsverdienst der letzten 35 Jahre. 2012 erhielt ein Rentner im Schnitt monatlich 1.230 USD als Rente aus dem Programm (Social Security Administration 2012).
Mit Blick auf den privaten Altersvorsorgebereich haben die USA den weltweit gro¨ßten Rentenmarkt, dessen Anlagevermo¨gen 2007 auf 6,1 Billionen USD geschatzt wurde (US Department of Labor 2010, 1). Insgesamt lasst sich seit Ende der 1970er Jahre eine erhebliche Ausdifferenzierung und Individualisierung der privaten Altersversorgung konstatieren. Etwas mehr als die Halfte der Beschaftigten arbeitet in Unternehmen, die ihnen zusatzlich zur gesetzlichen Rente eine private Altersabsicherung anbieten; im o¨ ffentlichen Dienst sind dies gar 80 % (Copeland 2010, S. 9). Diese Werte sind seit den 1970er Jahren weitgehend konstant geblieben, wahrend sich die Art der Vorsorgeplane und -leistungen stark gewandelt hat und der Anteil der Beschaftigten, der tatsachlich in ein Betriebsrentensystem eingebunden ist, abgenommen hat (Munnell u. Quinby 2009, S. 2). Von staatlicher Seite werden die finanziellen Aufwendungen fur die betriebliche Altersvorsorge seit 1913 relativ großzugig durch Steuerfreibetrage begunstigt. Die betrieblichen Pensions- und Vorsorgeplane unterliegen zudem einigen gesetzlichen Mindestanforderungen (Employee Retirement Income Security Act), die eine gewisse Aufsicht, Kontrolle und Transparenz fur die Arbeitnehmer garantieren sollen. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium fur die verschiedenen betrieblichen Vorsorgesysteme ist die Art und Weise, wie die Chancen und Risiken verteilt sind. Generell unterscheidet man zwischen Vertragen, die dem Arbeitnehmer im Voraus festgelegte Leistungen zusichern (defined benefit plans), und solchen Planen, bei denen die spater Pensionsho¨he durch marktabhangige Verzinsung des Rentenguthabens bestimmt wird (defined contribution plans). Zusatzlich existieren noch Individual Retirement Accounts (IRAs). Als diese Anlageform 1974 mit dem Employer Retirement Income Security Act (ERISA) eingefuhrt wurde, richtete sie sich ausschließlich an diejenigen Beschaftigten ohne einen Zugang zu employer-sponsored pensions, wie z. B. Mitarbeiter kleinen Firmen oder Selbststandige.
Das Alterssicherungssystem geho¨ rt sicherlich zu den erfolgreichsten Bereichen im Wohlfahrtssystem und genießt innerhalb der Bevo¨ lkerung große Unterstutzung. Allerdings erweist sich auch ein solch populares Programm nicht sakrosankt gegenuber der horrenden Staatsverschuldung in den USA. Zwar betonte Obama bei seinem Amtsantritt, dass seine Administration keine Privatisierung von Social Security anstreben werde, allerdings hat Obama eine Kommission eingesetzt, die Maßnahmen zur Reduzierung des Haushaltsdefizites erarbeiten soll und dabei wurden auch konkrete Vorschlage erarbeitet, die aus dem Ausbau der privaten Saule der Versorgung Einsparungen im o¨ffentlichen Haushalt generieren sollen (Nichols 2011).
4.3 Armutsbekampfung
Das Gesundheits- und Altersvorsorgesystem in den USA wird dominiert durch das Prinzip der Sozialversicherung und wird maßgeblich mitbestimmt durch einen privaten Bereich der sozialen Absicherung, der wiederum uber das Steuersystem vom Staat subventioniert wird. Einer ganz anderen Logik folgt hier der Sozialhilfe-, bzw. Fursorgebereich. Diese Art von o¨ ffentlicher Unterstutzung wird aus allgemeinen Steuermitteln bestritten und das nicht nur in monetarer Forms (cash assistance), sondern haufig auch als Sach- und Dienstleitung (in-kind assistance). Voraussetzung fur den Leistungsbezug ist in der Regel der Nachweis einer besonderen Notlage oder Bedurftigkeit, die zumeist anhand von bestimmten Einkommens- und Vermo¨gensgrenzen gemessen wird. Zu den wichtigsten Einkommensbeihilfe-Programmen geho¨ ren gegenwartig: die Familienfursorge fur Eltern mit Minderjahrigen Kindern, seit 1997 Temporary Assistance for Needy Families (TANF) genannt, Ernahrungsbeihilfen, Wohngeld, Einkommensbeihilfen fur bedurftige Senioren und ko¨rperlich Behinderte, verschiedene steuerbasierte Sozialleistungen wie der Earned Income Tax Credit (EITC) sowie kleinere einzelstaatliche Sozialhilfeprogramme, die unter der Rubrik General Assistance zusammengefasst werden. Seit 1990 haben sich die Ausgaben fur diese Einkommensbeihilfen von 63 auf 217 Milliarden USD mehr als verdreifacht und machen zusammen rund 10 % der gesamten sozialen Transferleistungen aus.
Sozialhilfeleistungen geho¨ren traditionell zu den umstrittensten sozialpolitischen Instrumenten, obwohl die Ausgaben fur diese monetaren Hilfen gemessen am BIP und an der Kostenentwicklung im Bereich Gesundheit und Altersvorsorge in den USA immer eher bescheiden ausfallen. Dies hat mit der Wirkmachtigkeit des dominanten kulturellen Leitbildes der Eigenverantwortung zu tun. Dem entspricht eine starke Erwerbsorientierung des Individuums sowie eine gesellschaftliche Stigmatisierung aller Personengruppen und Lebensweisen, die mit schlechter, das heißt selbstverschuldeter psychologischer, o¨konomischer und sozialer Abhangigkeit in Verbindung gebracht werden. Abhangigkeit kann man daher als einen ideologischen Schlusselbegriff in der US-amerikanischen Politik (Fraser und Gordon 1997, S. 180) betrachten, insbesondere mit Blick auf die Entwicklung und Ausrichtung von Sozialhilfeleistungen. Der Streit darum, wer wirklich bedurftig ist und wie diesen legitimen Bedurftigen – den deserving poor – geholfen werden kann, ohne sie von staatlicher Unterstutzung abhangig zu machen, durchzieht die gesamte Entwicklung der US-amerikanischen Armutspolitik.
Auch deshalb hat sich ein relativ schwaches, fragmentiertes und dezentralisiertes soziales Auffangnetz etabliert, in dessen Mittelpunkt die Familienbeihilfe
Temporary Assistance for Needy Families (TANF) steht. Dieses Programm ging 1997 aus dem bereits in der New Deal Gesetzgebung implementierten Sozialhilfeprogramms Aid for Families with Dependent Children (AFDC) hervor. Zielgruppe dieses Programms waren mittellose alleinerziehende Mutter und deren minderjahrige Kinder. Auch wenn die Leistungen aus diesem Programm oftmals nicht ausreichten, um die Leistungsempfanger uber die Armutsgrenze zu heben (Albert 2000, 304), bot das AFDC-Programm den Einzelstaaten und Kommunen die Option, zumindest einen Teil der Armutsbevo¨ lkerung vom Arbeitszwang zu befreien und deren Einkommen mithilfe von Bundes- und Landesmitteln zu alimentieren. Angesichts drastisch steigender Bezugszahlen (US House of Representatives 2012, Table 7–9) geriet die Familiensozialhilfe immer mehr unter die Kritik konservativer Politiker, die Kostenargumente mit dem Vorwurf verbanden, mit dem Programm wurde uber eine zu große Permissivitat in der Sozialpolitik traditionelle US-amerikanische Normen und Werte wie individuelles Leistungsstreben, o¨konomische Selbststandigkeit und der Familienzusammenhalt unterminiert (Weaver 2000). Es war dann schließlich der demokratische Prasident Bill Clinton, der 1996 den Personal Resonsibility and Work Opportunity Act (PRWORA) unterzeichnete. Als wichtigste Neuerungen mussen sicherlich die Abschaffung des Rechtsanspruchs auf staatliche Unterhaltszahlungen, eine zeitliche Befristung der Sozialhilfeleistungen des Bundes auf maximal funf Jahre sowie die Ausgrenzung von neu zugewanderten Migranten und ihren Familien aus der sozialpolitischen Verantwortung genannt werden.
Zu den wenigen bundesweiten Sozialhilfeprogrammen, die sich als krisentauglich erwiesen und auf die in den letzten Jahren immer mehr Haushalte zuruckgegriffen haben, zahlen die Ernahrungsbeihilfen. Insgesamt existieren in den USA momentan 15 Food-Aid Programme, von denen das bekannteste das Food-StampProgramm ist, im Jahr 2008 in Supplemental Nutrition Assistance Programm (SNAP) umbenannt. Im Jahr 2012 bezogen 46,4 Millionen US-Amerikaner, das heißt annahrend jeder sechste Burger, Ernahrungsbeihilfen, wobei sich die Zahl bedingt durch die allgemeine Wirtschaftskrise und die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit, seit 2005 fast verdoppelt hat. Bei schatzungsweise sechs Millionen Personen stellen Food Stamps das einzige Einkommen dar (Eslami u. a. 2011). Daneben existiert in den USA seit den 1970er Jahren eine neue sozialpolitische Einkommensbeihilfe, der viel zitierte Earned Income Tax Credit (EITC). Dieses Programm ist zwar keine Sozialhilfe im klassischen Sinne, muss aber in diesem Kontext genannt werden, weil er sich spatestens seit den 1990er Jahren zu einem der wichtigsten Instrumente zur Reduzierung der Armutsraten entwickelt hat. 1978 wurde der anfangs nur als eine temporare Krisenmaßnahme gedachte EITC von der Carter-Administration auf eine dauerhafte Basis gestellt. In den 1980er Jahren entwickelte er sich dann zu einem zentralen Element der Doppelstrategie der Bundesregierung, bestehend aus Welfare to Work und Making Work Pay, die fur Sozialhilfeempfanger und andere Erwerbslose verschiedene Anreize zur Arbeitsaufnahme schaffen wollte und darauf bedacht war, dass Erwerbstatige im Niedriglohnsektor dazu in der Lage sein wurden, eine Familie zu ernahren (Peter 2005). Seitdem hat sich der EITC zum Anti-Armuts-Programm in den USA mit der breitesten politischen Unterstutzung und der ho¨chsten Steigerungsrate entwickelt. Allein zwischen 1990 und 1994 wuchs die Zahl der Begunstigten um 50 %. Bereits 1996 ließ der EITC die Sozialhilfe TANF in Bezug auf Finanzvolumen und Empfangerzahlen hinter sich(Center on Budget und Policy Priorities 2012).