Formale Gleichheit und deren Defizite

Die USA gelten weitlaufig als geradezu paradigmatisches Beispiel einer liberaldemokratischen Gesellschaft, gepragt durch eine Regierung, die die Interessen der Bevo¨lkerung vertritt und die gleiche Rechte aller Staatsburger respektiert. Demokratische und republikanische Prinzipien bestimmen die politische Entwicklung des Landes, illiberale Tendenzen und undemokratische Ideen scheinen marginal und unbedeutend. Sozialwissenschaftler und Autoren wie Hector St. John Crevecoeur im 18. Jahrhundert, Lord Bryce im 19. Jahrhundert sowie Gunnar Myrdal (1944) und Louis Hartz (1955) im 20. Jahrhundert verfestigten und starkten dieses Narrativ uber die Zeit hinweg. Auch fuhrende Sozialwissenschaftler aus der Gegenwart wie z. B. Samuel P. Huntington (1981) und Ira Katznelson (1981) argumentieren stark in der Traditionslinie, die bereits Tocqueville mit seinem Klassiker ‚Democracy in America' etabliert hat. Und in der Tat finden sich in Tocquevilles These einige wichtige Elemente zum Verstandnis des US-amerikanischen Liberalismus: die USA sind stark gepragt von den Ideen der Freiheit und Gleichheit sowie den materiellen Bedingungen, die im Kontext der Staatsgrundung dominant waren. Allerdings verstellt eine solch verengte Interpretation den Blick auf nichtegalitare Ideologien und Bedingungen, die ein immanenter Bestandteil der politischen Entwicklung in den USA sind (Smith 1997). So wurden in den USA uber einen langen Zeitraum hinweg bestimmten Bevo¨lkerungsgruppen aufgrund von ‚Rasse' und Geschlecht elementare staatsburgerliche Rechte verwehrt. Tocquevilles Charakterisierung der Freiheitsrechte entwickelte er anhand eines relativ kleinen Kreises von US-Burgern (zumeist weiße Manner nordeuropaischer Herkunft), die er mit Kategorien beurteilte, die er aus den stark hierarchisierten politischen und o¨konomischen Statusmodellen Europas ableitete.

Aus einer solchen Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass die USA als

‚neue' Nation (Lipset 1979) insbesondere durch das Fehlen solcher traditionellen Hierarchien beschrieben werden und im Vergleich zu Europa weit egalitarer erscheinen (siehe Vormann 2012). Allerdings haben sich in den USA um diesen Kern demokratischer Gleichheitsrechte auch eine Reihe sozio-kultureller Systeme von Ungleichheit erhalten: die Dominanz von Mannern gegenuber Frauen sowie Unterschiede zwischen ‚Rassen' und Religionszugeho¨rigkeiten mussen hier an erster Stelle genannt werden. Diese Ungleichheitssysteme ko¨nnen dabei nicht nur als emotionale Vorurteile oder Einstellungen betrachtet werden. U¨ ber die Zeit haben sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung und auch unter politischen Eliten in den USA unterschiedliche Rechtfertigungsmuster fur diese askriptiven Systeme herausgebildet, so z. B. der wissenschaftliche Rassismus der ‚American School' im 19. Jahrhundert, rassistische und sexistische darwinistische Ansatze und der romantische Kult um das ‚Anglo-Saxonism' in der amerikanischen Historiographie. All diese unterschiedlichen Diskurse vereint im Kern eine Vorstellung des ‚Amerikanischen' als spezifische Form kultureller, religio¨ ser, ethnisch-‚rassischer' und geschlechtlicher Hierarchien (Smith 1993, S. 550).

Es sind also nicht nur die etablierten Vorstellungen eines allumfassenden Liberalismus (Hartz 1955), die den American Exceptionalism erklaren. Die USA wurden auch konstituiert durch Ideologien und Praktiken, die die Beziehungen zwischen einer weißen, mannlichen Minderheit mit untergeordneten sozialen Gruppen und dieser Gruppen untereinander bestimmen. Ruckt man diese Elemente mit in die Betrachtung, so relativiert sich Tocquevilles Vorstellung von Egalitarismus. Und auch wenn die genannten Ungleichheitssysteme an Wirkungskraft verlieren, so durfen diese Traditionen und zum Teil noch konkreten Manifestationen von Ungleichheit in ihrer Bedeutung fur die hier analysierten neuen Ungleichheiten nicht vernachlassigt werden. Die U¨ berlegungen des britischen Soziologen T.H. Marshall zum Zusammenhang von Staatsburgerschaft und sozialen Klassen ist ein guter Analyserahmen ([1949] 1992), um diese Problematik in ihrer Entwicklungsdynamik zu veranschaulichen. Nach Marshall impliziert der Burgerstatus gleichermaßen burgerliche, politische und soziale Rechte, die sich historisch herausgebildet haben und gegenseitig bedingen. Marshall diskutiert diese drei Dimensionen des Burgerstatus sowohl hinsichtlich des Zusammenhanges zur Demokratisierung und sozialer Sicherung als auch der Frage, ob und wieweit diese Rechte ausgebaut werden ko¨nnen, ohne dabei in Widerspruch zu o¨konomischen Freiheitsrechten zu geraten.

Burgerliche Rechte bei Marshall sind notwendig, um die individuelle Freiheit zu sichern. Dazu geho¨ren u.a. die Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums und das Recht auf ein Gerichtsverfahren. Das letzte Recht ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, da es ein Recht ist, die vorher genannten Rechte auf der Grundlage von Gleichheit und einem rechtsstaatlichem Verfahren zu verteidigen. Mit dem politischen Element beschreibt Marshall das Recht auf politische Teilhabe, entweder als Mitglied einer politischen Ko¨rperschaft oder als Wahler. Mit dem sozialen Element bezeichnet Marshall letztendlich eine ganz Reihe von Rechten, die vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Mitglied der Gesellschaft reicht. Alle drei Rechtsdimensionen, die den Burgerstatus ausmachen, beschreiben Inklusionsmechanismen, die, so das gangige Argument, uber die Zeit hinweg graduell aber stetig ausgebaut werden. Diese immanente Entwicklungslogik von burgerlichen uber politische bis zu sozialen Rechten kann allerdings nur idealtypisch verstanden werden, denn in der Realitat sind diese Entwicklungen keinesfalls abgeschlossen. Als idealtypischer Prozess einer progressiven Entwicklung treffen diese drei Dimensionen sicherlich auch im Fall der Vereinigten Staaten zu. Auf der anderen Seite zeigt sich jedoch auch, dass ein Defekt in fruheren Entwicklungsstufen sich auch auf spatere auswirkt.

Die Sklaverei, die nur stufenweise Ausweitung politischer Partizipationsrechte

und auch die unvollstandige Herausbildung moderner o¨ffentlicher sozialpolitischer Strukturen verdeutlichen die Komplexitat und die Probleme, die mit der Realisierung dieser verschiedenen Rechtsdimensionen einhergehen. Zum Beispiel wurde Schwarzen lange Zeit das Eigentumsrecht verwehrt. Nach dem funften Verfassungszusatz wurden Sklaven als sachlicher Besitz definiert. Erst mit dem Ende des Burgerkrieges (1861–1865), in der sogenannten A¨ ra des Wiederaufbaus (reconstruction era), wurden den befreiten Sklaven gewisse Burgerrechte verliehen. Mit dem 13. Verfassungszusatz von 1865 verbot der US Kongress endgultig die Sklavenhaltung auf dem gesamten Staatsgebiet. Der 14. Zusatzartikel (1868) fuhrte die Gleichbehandlungsklausel (equal protection clause) und das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren in allen Bundesstaaten ein (due process clause). Daruber hinaus wurde allen in den USA geboren Personen unabhangig von „Rasse, Hautfarbe und fruherer Knechtschaft“ die Staatsburgerschaft mit entsprechenden Grundrechten zugesprochen (privilege clause). Mit der Verabschiedung des 15. Verfassungszusatz 1870 gewahrte die Bundesregierung auch den ehemaligen Sklaven mannlichen Geschlechts das volle Wahlrecht. Trotz dieser formalen Emanzipation, wurden insbesondere in den Sudstaaten, basierend auf einer Ideologie der weißen Herrschaft (white supremacy), die Burgerrechte nicht umgesetzt oder wieder beschnitten. Die Jim-Crow-Gesetze des spaten 19. Jahrhunderts verscharften die Segregation von weißen und schwarzen Bevo¨lkerungsgruppen. Gleichzeitig wurden die Hurden zur politischen Partizipation dadurch erho¨ ht, dass die Wahlberechtigung an spezifische Bedingungen gekoppelt wurde (z. B. Wahlsteuern und Rechtschreib- und Lesetests), die systematisch die schwarze Bevo¨lkerung von den Wahlen ausschloss (Perman 2001). Diese Emanzipationsbarrieren wurden im Zuge des 20. Jahrhunderts Schritt fur Schritt abgebaut, sowohl mit Blick auf Eigentums- und politische Rechte (Voting Rights Act 1965) als auch im sozialpolitischen Bereich mit dem New Deal und dem War on Poverty der Lyndon B. Johnson Administration. Als wegweisend erwies sich der Civil Rights Act von 1964, der nicht nur die Einzelstaaten ihre Beho¨ rden und o¨ffentlich finanzierte Einrichtungen zur Einhaltung des Diskriminierungsverbots verpflichtete, sondern sich gezielt auch an Unternehmen und Gewerkschaften richtete. Das Gesetz ero¨ ffnete auch eine neue Phase in der Geschichte der USA, die manche als second reconstruction bezeichnet haben (Foner 2006). Mit Abschnitt 7 untersagte der US Kongress erstmals auch in der Wirtschafts- und Arbeitswelt eine direkte Benachteiligung aufgrund von Hautfarbe, Religion, nationaler Herkunft oder Geschlecht (siehe Grell und Lammert 2013). Zum Ende des Jahrhunderts lasst sich also, wenn nicht die vollstandige Umsetzung sozialer Burgerrechte, so doch eine deutliche Verbesserung der sozioo¨konomischen Lage afroamerikanischer Burgerinnen und Burger in den USA konstatieren (Katz et al. 2005).

A¨ hnliche Entwicklungslinien lassen sich in groben Zugen auch bei der Ausweitung von Rechten fur Frauen nachzeichnen. Auch Frauen blieb der Zugang zu elementaren Burgerrechten lange verwehrt. Resultierend aus der britischen Common Law Tradition verlor die Frau in den USA bei der Eheschließung jede eigene Rechtsstellung; hier insbesondere ihr Recht auf ein eigenes Vermo¨gen, aber auch deren Rechts- und Geschaftsfahigkeit. Diese Bestimmungen blieben trotz gewisser Beschrankungen (Married Women's Property Act von 1839) in einigen Einzelstaaten sogar bis in die 1960er Jahre (!) wirksam (Carls und Kramer 2013). Erst funfzig Jahre nach der Einfuhrung des allgemeinen Mannerwahlrechts erhielten auch Frauen 1920 mit dem 19. Verfassungszusatz dieses politische Partizipationsrecht. Auch wenn die Herausbildung des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates in weiten Teilen als eine Expansion sozialer Rechte verstanden werden kann, der auch zahlreiche soziale Sicherungsprogramme insbesondere fur Frauen einfuhrte, lassen sich mit Blick auf die Struktur der implementierten Sozialprogramme die Widerspruche und die Unvollstandigkeit der eingeraumten Rechte fur alle Burgerinnen und Burger aufzeigen. So wird aus feministischer Perspektive die Entstehung eines „gendered two-channel welfare state“ kritisiert (Nelson 1990). Gemeint sind hier großzugige Versicherungsleistungen (social security) fur die meist mannliche Industriearbeiterschaft auf der einen und Sozialhilfe (welfare) in erster Linie fur Frauen auf der anderen Seite (Fraser und Gordon 1992). Mit der erwerbszentrierten Struktur des Wohlfahrtssystems auf der Grundlage des mannlichen Ernahrermodells sei der rechtliche und gesellschaftliche Status von Frauen und ethnischen Minderheiten nachhaltig geschwacht worden (Skocpol 1992; Fraser 1993).

Der gebrochene Universalismus der New Deal Politik zeigte sich spatestens in den 1960er Jahren, als Berichte uber „das andere Amerika“ (Harrington 1962) oder

uber den „Zusammenbruch afroamerikanischer Familien“ (Moynihan 1965) die Scharfe weiterhin bestehender materieller und gesellschaftlicher Ungleichheiten mitten in der U¨ berflussgesellschaft (affluent society; Galbraith 1958) sichtbar

machten. Weitgehend ausgeschlossen vom Wohlstand blieben neben den Bewohnern infrastrukturschwacher landlicher Regionen insbesondere die Nachfahren der Sklaven, die entweder konzentriert in Innenstadtghettos im Nordosten des Landes lebten oder weiterhin unter der rassistischen Segregation in den Sudstaaten litten. Als zentrales Instrument zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Slums der Innenstadte galt der 1964 verabschiedete Economic Opportunity Act. Dieser setzte nicht langer auf finanzielle Hilfen zur Bekampfung von Armut, sondern auf eine verbesserte soziale Infrastruktur, mehr Aus- und Weiterbildungsangebote sowie die Bekampfung von rassistischer Diskriminierung. Bis heute erhalten geblieben sind beispielsweise die Bundesprogramme Head Start und Job Corps, die die Bildungschancen fur Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien verbessern helfen, sowie das Department of Housing and Urban Development, das gegrundet wurde, um sich der Wohnungssituation von armeren Bevo¨lkerungsgruppen anzunehmen.

Auch die aktive Gleichstellungspolitik (affirmative action) ist eine Konsequenz der mit der Great Society ins Leben gerufenen Sozialprogramme. So unterhalt heute

fast jede gro¨ ßere Beho¨ rde eine Abteilung, die mit Gleichstellungs- und Burgerrechtsfragen befasst ist. Die beiden wichtigsten nationalen Kontrollinstanzen sind neben der Civil Rights Division des Bundesjustizministeriums die unabhangige Equal Employment Opportunity Commission und das Office of Federal Contract Compliance Program des Bundesministerium fur Arbeit. In gewisser Weise ko¨ nnte man die Great Society Gesetzgebung insgesamt als historischen Kulminationspunkt in der von Marshall beschriebenen Entwicklung unterschiedlicher Rechtsdimensionen verstehen. Die graduelle Ausweitung von Burgerrechten, sozialen Sicherungs- und Gleichstellungsprogrammen schlugen sich nieder in der Entwicklung der Armutsraten und sozialen Ungleichheiten. Dies gilt fur weite Teile der Gesellschaft und insbesondere fur altere Menschen. Deren Armutsrate lag bis in die 1960er Jahre noch deutlich uber dem nationalen Durchschnitt, konnte

jedoch durch die etablierten sozialen Sicherungsprogramme fur A¨ ltere deutlich

reduziert werden und liegt seit dem Beginn der 1980er Jahre sogar unter ihm (Gabe 2013).

Auch marginalisierte und historisch benachteiligte Personengruppen haben vom Umbau des Sozialsystems profi allerdings ohne dabei bestehende Ungleichheitsmuster zu uberkommen. Die Armutsrate bei von Frauen gefuhrten Haushalten fiel von 62 % 1940 auf 37,4 % 1970 (im Vergleich zu respektive 37,7 % und 9,5 % bei Mannern). Armutsraten bei afroamerikanischen Frauen, die konsequent zwanzig Prozent uber den Armutsraten des Durchschnitts aller ethnischen Gruppen liegen, sind in demselben Zeitraum von 83,6 % auf 56,3 % gefallen. Auch in den mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Innenstadten sanken die Armutsraten innerhalb von vierzig Jahren im Zuge des sich konsolidierenden Sozialsystems von 30,0 % im Jahre 1940 auf 16,7 % im Jahr 1970; verglichen mit 28,7 % und 7,5 % in den uberproportional von weißen Bevo¨ lkerungsgruppen bewohnten suburbanen Gebieten (siehe Katz und Stern 2001, S. 35–38).

Trotz dieser Defizite kann insgesamt dennoch, auch aufgrund veranderter Umverteilungssysteme, von einer gesellschaftlichen Annaherung der unterschiedlichen Einkommensgruppen sowie von einer inklusiveren Gesellschaft gesprochen werden, die in den 1960er Jahren begann, sich auch fur traditionell ausgeschlossene Bevo¨lkerungsgruppen zu o¨ ffnen. Paul Krugman spricht angesichts dieser neuen gesellschaftlichen Gleichheit in Anlehnung an Claudia Goldin und Robert Margo (1992) von einer great compression. Diese bis in die 1970er Jahre andauernde Entwicklung zu mehr Gleichheit in der Einkommensverteilung fuhrt Krugman zuruck auf eine insbesondere wahrend des Weltkriegs stark erho¨ hte progressive Einkommensteuer und die im Zuge des New Deal gestarkten Kollektivverhandlungen der Gewerkschaften. Daruber hinaus zogen Lohn- und Preiskontrollen des National War Labor Board eine Angleichung der Einkommen nach sich (Krugman 2007). Angesichts dieser Kombination eines ausgebauten Umverteilungssystems, o¨konomischen Wachstums in der Nachkriegsara und spezifischer staatlicher Regulations- und Interventionssysteme haben manche ruckblickend von einem goldenen Zeitalter der Gleichheit gesprochen, in dem Demokratie und Kapitalismus vereinbar, ja komplementar schienen (Reich 2007).

 
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