Das Weltbild der Verschwörungsängste
Das Moment des Verschwörungsglaubens verbindet denn auch weltanschaulich beide Flügel der aktuellen Demonstrationen: die einen glauben an eine Verschwörung internationaler Mächte, die anderen an die einer multikulturellen Gesellschaft, beide phantasieren geheime Aktivitäten von Politik und Medien, die angeblich den Protest „des Volkes“ begrenze oder unterdrücke, wobei den Sicherheitsbehörden jeweils eine zentrale Rolle zugesprochen wird, weil sie entweder nicht (angemessen) handeln oder weil sie den Protest zu limitieren versuchen würden. Während demokratische Medien dabei als „Lügenpresse“ verunglimpft werden, nur weil sie die rassistischen Partikularinteressen eben auch als solche benennen, werden Propagandamedien wie dubiose Internetblogs oder das russische Fernsehen glorifiziert – weil sie den eigenen Wahn zur Wahrheit erklären.
Die konkreten Verschwörungsmythen werden dabei fast so schnell produziert, wie die Ereignisse stattfinden – was mit der Logik der Verschwörung zu tun hat: Sie bedarf keiner Fakten, keiner Realität, keiner Wirklichkeit außer ihrer selbst, um zu funktionieren. Es bedarf stets nur eines Anlasses, nicht einer Ursache, damit Verschwörungsphantasien formuliert werden – denn ihre jeweils eigene hermetische Wahnwelt funktioniert in ihrer Struktur ganz unabhängig von der Wirklichkeit, da sie in keiner Weise an empirische oder historische Fakten gebunden ist, sondern lediglich mit einem Phantasieweltbild korrespondiert, das jederzeit reformulierbar, jederzeit reproduzierbar und damit auch jederzeit in Variationen abrufbar ist.
Kaum ein politisches Ereignis bleibt frei von entsprechenden Verschwörungsmythen – mögen es so offensichtlich verrückte Ideen wie der Einfluss von außerirdischen Lebensformen auf die Weltpolitik sein oder auch die zahlreichen, bis ins minutiöse Detail ausphantasierten Wahnvorstellungen über die amerikanische Politik, insbesondere im Kontext mit dem internationalen Terrorismus (Beyer, 2014; Jaecker, 2014). Selbst nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris im Januar dieses Jahres dauerte es nur Stunden, bis dubiose Internetblogs voll waren mit antiamerikanischen und antisemitischen Verschwörungsmythen rund um die Anschläge. Aber auch der Glaube an eine „Islamisierung des Abendlandes“ gehört zu diesen Mythen, denn sind die Migrationsprozesse in Deutschland gegenwärtig zwar wieder deutlich wahrnehmbarer, aber doch sowohl im Vergleich mit den 1990er Jahren wie auch mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch andere, besonders außereuropäische Staaten als vergleichsweise gering zu bewerten.
Verschwörungsmythen werden dabei geglaubt, nicht obwohl, sondern weil sie erfunden sind und weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnissen stehen, die mit der Realität korrespondieren. Deshalb wird es auch nicht möglich sein, dem Anhänger einer Verschwörungsphantasie diese individuell zu widerlegen: Er glaubt sie, weil sie irrational ist – und jeder Beleg dieser Irrationalität wird wieder in das Wahnweltbild des großen Verschwörungsglaubens integriert. Genau deshalb bleibt die aktive Beteiligung an den gegenwärtigen Demonstrationen und Mahnwachen auch relativ konstant: weil sie den Teilnehmern die Möglichkeit gibt, in einem Weltbild, mit dem sie in ihrem normalen Leben als verrückt gelten, sozial und emotional durch die Verbindung mit anderen stabilisiert zu werden.
Dabei geht es um Phantasien von einer regredierten Welt, dem Traum von einem harmonischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem alles nur einer Logik gehorcht, nämlich der eigenen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen, nur Identität. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1900, S. 625) hat das begrifflich in der Unterscheidung von „materieller Realität“ und „psychischer Realität“ gefasst – die Verschwörungsphantasien als psychische Realität sind dabei nahezu hermetisch von der materiellen Realität abgekoppelt: als Wahnvorstellungen, die einer identitären und widerspruchsfreien Logik folgen, die nur in der Logik der jeweils eigenen Psyche funktioniert. Alles kreist um das überhöhte Selbst, das sich dem egoistischen Größenwahn hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die Welt zu deuten. (Salzborn, 2010, S. 317-342) Nur, und das macht den aggressiven Zorn vieler Verschwörungsphantasien aus, dass die Welt sich fortwährend nicht so verhält, wie es der Verschwörungsanhänger gern hätte, dass ihm niemand glaubt, wo doch er – und nur er – es besser weiß als alle anderen.