Strukturbedingtheit sozialen Handelns
Den beiden dargestellten Handlungsmodi setzt Giddens zwei Strukturdimensionen entgegen. Das strukturelle Pendant zu Wissen sind demzufolge Regeln, der Handlungsdimension Können stehen Ressourcen gegenüber. Regeln differenziert Giddens in Signifikation und Legitimation. Erstere beschreiben die kulturell verankerten Interpretationsschemata, die reflexive Anwendung im Rahmen von Kommunikation finden. Als kulturelle Wissensvorräte konstituieren sie Sinn in sozialen Interaktionen und stellen Schemata bereit, die Ereignisse, Artefakte oder Interaktionen sinnhaft (typisch) erscheinen lassen. Die oben erörterten handlungstheoretischen Annahmen finden hier ihren strukturellen Anschluss. Giddens betont, dass Wissen keinen statischen, sondern dynamischen Charakter habe und im Alltagshandeln stets interaktiv neu verhandelt werde. Giddens folgt damit einer konstruktivistischen Auffassung, die soziale Wirklichkeit als Ergebnis einer Interpretation und Bedeutungszuweisung von Akteuren auffasst (vgl. Knorr-Cetina 1989). Gleichzeitig schränkt er die individualistische Perspektive ein, indem er die Strukturbedingtheit sozialen Handelns anerkennt. Schemata und Regeln sind nicht nur Produkt, sondern auch Bedingung sozialen Handelns. Erstere liegen dem Handeln unbewusst zugrunde (Signifikationen), letztere in Form von formalen oder informellen Normsetzungen (Legitimationen). Anders als Schemata können Normen vom Handlungssubjekt expliziert werden, d.h. sie können auf Nachfrage Gründe für Handlungsweisen oder –entscheidungen angeben.
Signifikationen sind handlungsstrukturierende Orientierungen, Normen sind handlungslegitimierende Strukturen. Demgegenüber stellen Ressourcen handlungsstabilisierende Momente dar. Giddens unterscheidet autoritative und allokative Ressourcen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie transformatives Potenzial haben, d.h. Handlungssubjekte können vermittels des Einsatzes von Machtressourcen ihren Willen in sozialer Interaktion auch gegen Widerstand durchsetzen – sie sind in diesem Sinne Herrschaftsmomente:
„Signifikationsstrukturen müssen immer als in Verbindung mit Herrschaft und Legitimation stehend konzeptualisiert werden. […] Herrschaft hängt von der Mobilisierung zweier unterscheidbarer Typen von Ressourcen ab. Allokative Ressourcen beziehen sich auf Fähigkeiten […] welche Herrschaft über Objekte, Güter oder materielle Phänomene ermöglichen. Autoritative Ressourcen beziehen sich auf Typen des Vermögens zur Umgestaltung, die Herrschaft über Personen […] generieren.“ (Giddens 1997: 84, 86)
Giddens distanziert sich hier von einem funktionalistischen Strukturbegriff, der Struktur als äußerliche Restriktion des menschlichen Handelns erscheint. Er orientiert sich an poststrukturalistischen Konzepten, die Struktur „als Schnittpunkt von Gegenwärtigem und Abwesenden“ auffassen (Giddens 1997: 68). Soziale Systeme fasst Giddens entsprechend als Strukturmomente auf und erkennt damit die Raum-Zeitliche Verfasstheit derselben an (virtuell existent in Erinnerungsspuren der Handlungssubjekte). Den virtuellen Charakter von Strukturen, die erst durch Handlungspraxis rekursiv reproduziert werden, arbeitet Giddens bereits in einer frühen Auseinandersetzung mit Vertretern interpretativer Soziologie in der Differenzierung zwischen äußeren Handlungsgründen und inneren Handlungsmotiven heraus. Soziale Ordnung sei demnach nicht automatisch durch sanktionierte Normen gewährleistet sondern erfordere die Anerkennung derselben durch die Akteure selbst (vgl. Giddens 1984: 130ff). Giddens verdeutlicht das am Beispiel moralischer Elemente von Interaktion. Genauso wie bei instrumentellen Forderungen gehe der Handelnde mit moralischen Forderungen kalkulierend um, d.h. er wäge mögliche Sanktionen ab und entscheide sich für eine Alternative gemäß oder gegen moralische Ansprüche.
„Es wäre ein elementarer Fehler, zu unterstellen, daß das Aufstellen einer moralischen Verpflichtung notwendigerweise auch eine moralische Bindung ihr gegenüber bedeutet. […] Da die Sanktionen für die Überschreitung moralischer Ansprüche […] die Reaktionen anderer voraussetzen, gibt es für den Überschreitenden typischerweise einen ‚Freiraum' der es – wenn er als solcher erkannt wird – ermöglicht, die Art der nachfolgenden Sanktion auszuhandeln“ (Giddens 1984: 132 (Herv. im Original)).
Giddens verdeutlicht damit die bereits erörterte Interdependenz von Handlung und Struktur. Obgleich normative Erwartungen Handlungschancen strukturell determinieren sind auch diese davon abhängig, in welchem Umfang sie von den betreffenden Akteuren beachtet werden. Anerkennt ein Akteur die Gültigkeit normativer Erwartungen, bewertet aber die mit ihr verbundene Sanktion als nicht bedeutsam, hat also kein individuelles Bedürfnis die Norm zu befolgen, so wird er sein Handeln wahrscheinlich auch nicht an ihr ausrichten. Giddens unterscheidet zwischen innerer Sanktion, verankert in Persönlichkeitsmerkmalen Handelnder (i.S.v. innerer Verpflichtung, Werthaltungen), und äußerer Sanktion, die im situativen Handlungskontext (i.S.v. Naturereignissen oder sozialen Reaktionen auf die ausgeführte Handlung) verortet ist.
Dieses Prinzip der Interdependenz, das Giddens für das Problem sozialen Handelns ebenso wie für soziale Ordnung erkennt, ist für ihn grundlegend. Soziale (strukturelle) Ordnung gründet also immer in Verfügungschancen über (allokative oder autoritative) Herrschaftsmittel, die als Herrschaftsmittel jedoch nur wirksam sind, wenn sie von Herrschenden und Beherrschten als solche anerkannt werden und in spezifischen Situationen Relevanz entfalten. Dieses dialektische Prinzip von strukturellen und interaktiven Momenten, die Giddens als „Verflechtung von Sinn, normativen Elementen und Macht“ beschreibt erkennt er als universelles Prinzip der Dualität von Struktur (Giddens 1997: 81).
Implikationen einer strukturationstheoretischen Forschungsperspektive für die Analyse
Giddens erkennt den Prozesscharakter sozialer Ordnung an. Nach dieser Auffassung wird soziale Wirklichkeit interaktiv (re-)konstruiert, d.h. Strukturen gelten nicht universell, sondern müssen sich stetig in diesem Prozess bewähren. Dieses Paradigma erlaubt die Betrachtung von Dilemmata, wie sie oben beispielsweise mit dem soziologisch begründeten Korruptionsbegriff beschrieben wurden (vgl. 2.2). Alltagsinteraktionen schreibt Giddens in diesem Zusammenhang vorrangige Bedeutung zu. Im Rahmen alltäglicher Interaktion würden durch gemeinsam geteilte Kontextinterpretationen („gegenseitiges Wissen“ (Giddens 1984: 129)) unbewusst Interpretationsschemata konstituiert, die soziales Handeln ordneten und sinnhaft anschlussfähig gestalteten. Dieser Aspekt hat für die vorliegende empirische Analyse unternehmensethischer Modelle forschungspraktische Konsequenzen. Die Wirkmächtigkeit derselben kann nach dieser Auffassung nur über die Rekonstruktion alltagsrelevanter Sinnstrukturen bewertet werden. Im Rahmen der methodischen Konzeption wird daher zu klären sein, wie der Alltagsbegriff operationalisiert werden kann (vgl. Kapitel 5.)
Eine weitere methodologische Konsequenz drängt sich in der Anerkennung dieser theoretischen Perspektive auf: Die eingangs bereits geäußerte Kritik an der Vorstellung eines Managen-Könnens von Werten wird bestärkt. Werte sind auf der Ebene grundlegender und stabiler Handlungsmotive zu verorten und müssen als eher unbewusst aufgefasst werden. Bewusst werden kann hingegen die Handlungsrationalisierung, d.h. der Begründungszusammenhang von Handlungsentscheidungen. Für die vorliegende Analyse bedeutet das, dass zu diskutieren sein wird, wie über Begründungskommunikation von Handlungsakteuren in Alltagssituationen auf zugrundeliegende Motivstrukturen als Indikator für Leitideen geschlossen werden kann.
Für die Analyse der Wirkmächtigkeit unternehmensethischer Managementmodelle ist der Machtaspekt von elementarer Bedeutung. Giddens betont, dass Macht bereits im Rahmen scheinbar nebensächlicher Kommunikation (beispielsweise small talk) sichtbar bzw. wirksam wird. Hier, auf der Ebene basaler Alltagsinteraktion werden organisationale Herrschaftsstrukturen reproduziert. In dieser (asymmetrischen) Praxis werden die Schemata des gegenseitigen Wissens produziert, die Grundlage von gemeinsam geteilten Sinnstrukturen ist. Es ist offensichtlich, dass neue Handlungserwartungen in Form von normativen Managementkonzepten (1) hier anschlussfähig sein müssen, um als relevant auf der Ebene der Signifikation wahrgenommen zu werden und (2) anschlussfähig an die normativen Strukturen des Kontextes sein müssen, um legitimierbare Handlungsoptionen bereit zu stellen.
Die Analyse der Wirkmächtigkeit unternehmensethischer Managementkonzepte muss diesem Verständnis folgend auf der Mesoebene der Organisation die handlungsbedingenden Strukturmomente rekonstruieren. Um zu bewerten, welche Chance handlungspraktischer Realisierung die mit dem Konzept verbundenen Normen haben ist es notwendig, die Repräsentationsformen des untersuchten Managementkonzepts aus zwei Perspektiven zu rekonstruieren: Zum einen in ihrer formal-strukturellen Erscheinung, thematisiert in offiziellen Dokumenten zum untersuchten WerteManagementSystemZfW (WMS). Diese Analyseperspektive gibt Auskunft über die strukturellen Handlungsbedingungen, die mit dem WMS im untersuchten Unternehmen verbunden sind. In welcher Weise auf diese Strukturen in der Handlungspraxis Bezug genommen wird muss die Rekonstruktion der wahrgenommenen Erscheinung des WMS durch die organisationalen Akteure erhellen. Nur wenn deren Wahrnehmung mit der formal-strukturellen Repräsentationsform korrespondiert können die WMS-bezogenen Strukturen im untersuchten Unternehmen als reproduziert gedeutet werden. Diese Wahrnehmung ist ein Indiz dafür, dass das WMS eine Chance hat, auf der handlungspraktischen Ebene wirkmächtig zu werden.
Erschließen lassen sich diese Fragen nur im Rahmen eines qualitativ-verstehenden Forschungsprogramms, das das Verständnis des Alltags in Organisationen aus der Perspektive der Handlungssubjekte deutet. Über vergleichende Alltagsanalysen kann die Kontextabhängigkeit sozialen Handelns kontrolliert werden und auf diese Weise intersubjektiv geteilte Signifikations- und Legitimationsstrukturen herausgearbeitet werden. Naheliegend ist ein Setting, das eine Aufgabe als gemeinsam geteilter Sinnkontext beschreibt und als Konsequenz daraus einen Geschäftsprozess als Untersuchungsgegenstand fokussiert. Soziales Handeln im Geschäftsprozess ist hierarchisch organisiert, d.h. es lassen sich Positionen mit unterschiedlichen Verfügungschancen über allokative und autoritative Ressourcen identifizieren.
Die Diskussion hat gezeigt, dass die Strukturationstheorie einen sehr guten Rahmen zur Entwicklung der Analyse bietet und die Frage der Wirkmächtigkeit auf der Mesoebene der Organisation aufzuklären vermag. Um die Wirkmächtigkeit auf der handlungspraktischen Mikroebene zu bewerten ist es notwendig, Giddens Ansatz zu erweitern. Zur Rekonstruktion handlungspraktischer Relevanz ist eine theoretisch begründete Heuristik notwendig, die darüber aufzuklären vermag, unter welchen Bedingungen spezifische Leitideen handlungsleitend für eine Vielzahl von Akteuren werden können. Diese Frage betrifft den Prozess der Institutionalisierung von Leitideen, der nachfolgend in Anlehnung an das institutionentheoretische Programm von Lepsius vorgestellt wird.