Erhebungsinstrument und -methode

Qualitative Forschung nähert sich offen aber niemals ohne Vorannahmen ihrem Untersuchungsgegenstand. Sie formuliert zwar keine Hypothesen, die an der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit überprüft werden, klärt dennoch Vorwissen und Thesen, die zum Forschungsgegenstand bestehen und macht sich damit vor allem den Standpunkt der eigenen Betrachtung klar. Die ausführliche Erörterung unterschiedlichster Perspektiven in den vorangegangenen Kapiteln, mit denen in der vorliegenden Arbeit das zu untersuchende Phänomen unternehmensethischer Managementkonzepte betrachtet wurde, versteht sich in diesem Sinne. Die ursprünglich offene Frage welche Wirkmächtigkeit unternehmensethische Managementkonzepte erreichen, wurde durch die Erörterung im Theorieteil kanalisiert und in die drei oben einleitend wiederholten forschungsleitenden Thesen pointiert. Das Bezugsproblem der Wirkmächtigkeit wurde dabei theoriebezogen in drei Teilprobleme gegliedert: Identifikation von Erwartungsadressierung an Unternehmen, Rekonstruktion der WMS Implementierung im untersuchten Fallbeispiel und Rekonstruktion von Deutungs- und Handlungsmustern von Mitarbeitern im berufsalltäglichen Kontext des untersuchten Geschäftsprozesses. Diese drei Teilprobleme wurden anhand von Daten analysiert, die mithilfe qualitativer teilstrukturierter, leitfadengestützter Experteninterviews erhoben wurden. Die Erhebungsmethode orientierte sich am Vorgehen des problemzentrierten (vgl. Witzel 1982, 2000) und des diskursiven Interviews (vgl. Ullrich 1999).

Das problemzentrierte Interview ist ein qualitatives Interviewverfahren, das Leitfragen verwendet, die sich an theoretisch begründeten Vorinterpretationen orientieren. Das Interview selbst wird prozessorientiert geführt, d.h. das Gespräch sollte sich ausgehend von der Eingangsfrage möglichst frei entwickeln können. Im Idealfall beendet der Interviewte selbst eine Erzählpassage, erkennbar durch eine sogenannte Erzählcoda (Absenkung der Stimme, Signalworte wie „das war's“ „ne?“ oder ähnliches) (vgl. Schütze 1983: 285; Kleemann et al. 2009: 212).

Im Interviewverlauf werden Redundanzen und Pausen vom Interviewer ebenso zugelassen wie Widersprüche oder Gedankensprünge. Begründungen und Stellungnahmen werden als besonders vielversprechende Kommunikationsformen zur Analyse von Handlungsorientierungen und Deutungsmustern angesehen, denn hier greift der Sprechende in der Regel auf Wertüberzeugungen und Deutungsmuster zurück (vgl. Ullrich 1999). Ullrich unterscheidet in seinem Vorschlag zur prozessorientierten, diskursiven Interviewgestaltung neben Fragen zum Gesprächseinstieg, Wiederholungs- und Nachfragen, Wissensfragen und Erzählaufforderungen auch Aufforderungen zu Stellungnahmen und Begründungsaufforderungen. (vgl. Ullrich 1999: 438f). Durch die Formulierung hypothetischer Situationen („Was würde geschehen im Falle …“), Zusammenfassungen („Wenn ich jetzt richtig verstanden habe ist ….“) oder auch die Verwendung von Konfrontationsfragen und Polarisierungen („Weshalb braucht ein Unternehmen ein Instrument wie das WMS?“) wurden die Gesprächspartner auch in der vorliegenden Studie zu Stellungnahmen und Begründungen aufgefordert, die sie unter Rückgriff auf internalisierte Schemata formulierten. Ullrich geht sogar so weit zu ihrer Evokation bewusste Suggestivfragen (vgl. grundlegend Richardson et al. 1979; Ullrich 1999: 440) systematisch im Interviewverlauf vorzuschlagen:

„Wie dargelegt besteht die Grundidee des diskursiven Interviews in der Annahme, daß Deutungsmuster kommunikativ validiert werden müssen und daß dieser Umstand für die Erfassung sozialer Deutungsmuster genutzt werden kann.“ (Ullrich 1999: 442)

Das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit ist an Ullrich anschlussfähig. Es wird hier deutlich, dass die oben ausführlich erörterten theoretischen Grundlagen einen hohen und ganz forschungspraktischen Stellenwert für die Analyse haben. Nicht nur das oben skizzierte Sampling ist theoretisch verortet sondern vor allem die Methode der Datenerhebung und – wie noch gezeigt werden wird – der Auswertung folgt logisch aus den oben gewonnenen theoretischen Erkenntnissen, denn die vorliegende Analyse adressiert die Identifikation von Signifikations- und Legitimationsmustern. Diese Muster werden als handlungsleitende Sinnstrukturen im Unternehmen angenommen, d.h. was im Unternehmenssinn rational ist, woran sich das alltägliche Handeln ausrichtet und ob dabei die im Managementsystem formulierten Normen eine handlungsleitende Rolle spielen, kann in Anlehnung an die hier vorgestellte Erhebungsmethode über Begründungsstrukturen und Stellungnahmen aufgeschlossen werden.

Auch vor dem Hintergrund des oben bei Schütz erörterten Handlungsverständnisses (der Unterscheidung zwischen Handlungsentwurf und –vollzug, siehe Abschnitt 4.5.1) und der These, dass Handlungsgründe über vergangenheitsbezogene „Weil-Motive“ zu erschließen sind (v.a. Abschnitt 4.5.2) erscheint die diskursive Methode zur Evokation von Begründungen und Stellungnahmen zielführend. Handlungsstrukturierende Muster können zwar nicht durch Beobachtung erschlossen werden, sind aber durch die kommunikative Rekonstruktion von Handlungsentwurf und –vollzug im Interview einer deutenden Erschließung zugänglich. Es erscheint auch plausibel, dass die Interviewten ihre (Letzt-) Begründung unter Bezugnahme auf signifikante Schemata formulieren. Geht man – wie in Bezugnahme zur Strukturationstheorie ausgeführt (vgl. 4.3) – davon aus, dass soziales Handeln nicht nur durch Schemata sinnhaft vorstrukturiert ist, sondern sich soziale Ordnung umgekehrt in Handlungspraxis (re-)produziert (vgl. 4.3.2), dann muss die empirische Frage danach, wie wirkmächtig ein unternehmensethisches Managementkonzept (als innovatives Programm strukturellen Charakters) ist, über die Erschließung von Handlungsorientierungen im arbeitsalltäglichen Kontext erfolgen.

Die dominierende Leitidee wirtschaftliches Handeln im Unternehmenskontext wird hier als der nicht zu hinterfragende Handlungskontext im Alltagsbezug der Fallstudie aufgefasst (vgl. dazu Staffhorst 2010), d.h. hinter dieser Sinnfolie tritt das unternehmensbezogene Handeln nicht zurück. Im Detail wird aber zu fragen sein, welches Rationalitätskriterium (ökonomische Zweckorientierung oder ethisch-moralische Orientierung) im Zweifelsfalle das Handeln der Mitglieder strukturiert. Wenn man sich zum Schluss noch die differenzierungstheoretischen Implikationen vergegenwärtigt (vgl. 4.1) wird deutlich, dass im Falle des unternehmensethischen Managementkonzepts zwei grundlegend unterschiedliche Ordnungsmuster erwartet werden können. Die vorherrschende Frage der Analyse lautet daher: Werden in erster Linie zweckoder auch wertorientierte Rationalitätskriterien im Hinblick auf die dominierende Leitidee von den interviewten Mitgliedern der Organisation benannt werden?

 
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