Verantwortung als wahrgenommener „Trend“ im organisationalen Feld
Im Material sind Äußerungen zum Thema ethischer Erwartungsadressierungen an Unternehmen dokumentiert, die Ethik und Compliance als aktuellen Trend in Unternehmen thematisieren. Die Argumentationsmuster entwickeln sich dabei typischerweise immanent aus Beschreibungen oder Begründungszusammenhängen zu Motiven oder Zielen der implementierten Ethikoder Compliancekonzepte. Beispielhaft wird das in folgender Sequenz deutlich:
„also jemand der in nem Unternehmen Verantwortung hatte, hatte schon immer die Verpflichtung Recht und Gesetz einzuhalten. Auch bevor es Compliance gab. Also insofern is es letztendlich auch nix Neues meiner Meinung nach. +++ Die, die ausufernde Explosion von Complianceabteilungen an der Stelle, denk ich mal, is auch etwas, was dann möglicherweise in drei, vier Jahren mal wieder in ne andere Richtung+++ gehen wird. Wird wieder 'n Stückweit schrumpfen. Aber es is natürlich 'n enormer Trend da, +++ das was && (Name Unternehmen) gemacht hat, im Sinne von Abwehrreaktion dann da drauf, is 'n Stückweit fast Benchmark geworden. Und die Justiz hat halt diesen hohen Maßstab was ja durchaus auch in Ordnung is zu sagen: "Ihr müsst Euch an bestimmten Dingen orientieren wenn ihr erfolgreich sein wollt in diesem Thema." Also da gilt 's natürlich auch 'ne Anforderungs+++haltung zu erfüllen. [2]“ (FN: 442-454)
Der Entscheider FN führt hier eine Stellungnahme zur rechtsgemäßen Orientierung selbstinitiativ fort. Er zögert in der sonst sehr flüssigen Elaboration kurz und wechselt dann den Themenschwerpunkt in Bezug auf die Reflexion der Beobachtung einer „ausufernden Explosion von Complianceabteilungen“, die FN als rein temporäres Phänomen bewertet, das „wieder 'n Stückweit schrumpfen“ werde. Bei dieser Darstellung drängt sich die Deutung auf, dass FN die strukturelle Entwicklung von Ethik und Compliance in Unternehmen als eine Trenderscheinung auffasst. Auch die Wortwahl stützt diese Deutung: FN wählt hier das Adjektiv „ausufernd“ und eben keine Adjektive wie „notwendig“, „wichtig“ oder „überfällig“. Das an eine Metapher erinnernde Adjektiv verdeutlicht die Zuschreibung, dass sich das Phänomen über das übliche oder normale Maß hinaus entwickelt hat und impliziert, dass es sich wieder auf ein geringeres Maß reduzieren wird. Das formuliert FN dann auch explizit mit der Angabe einer zeitlichen Erwartung von „drei, vier Jahren“. Diese Deutung wird durch die explizite Nennung der Wahrnehmung eines Trends im folgenden Satz weiter gestützt. Als Trendsetter benennt FN einen Konzern ganz konkret, dessen Compliancestrukturen zum Benchmark im organisationalen Feld geworden sei. Gestützt werde das durch gesetzliche Anforderungen, d.h. als Trägergruppe der Erwartungshaltung wird auch der Gesetzgeber wahrgenommen.
Diese Thematisierung von Compliance sowie Ethikmanagementkonzepten als aktueller Trend in Unternehmen äußern alle Entscheider und auch einige EFS-Mitarbeiter explizit oder als Hintergrundkonstruktionen. Ähnlich wie FN rahmt auch FA selbstinitiativ eine Trendwahrnehmung mit der Thematisierung eines „Zeitgeist … Compliance“ (FA1: 77) [1] zu Beginn des Interviews. Dieses Thema begründet er später mit der Stellungnahme, dass es sowohl Verbrechen als auch Integrität schon immer gegeben habe, neu sei die organisierte Kommunikation darüber: „Man kommuniziert das Selbstverständliche“ (FA1: 220). Diese Stellungnahme enthält eine Trendzuschreibung: Allgemein gängige Praxis sei die Normierung sozialen Handelns als nicht erwünscht (Verbrechen) beziehungsweise sozial erwünscht (Integrität). Die Form der Auseinandersetzung mit diesem Selbstverständlichen „von Amtswegen“ (FA1: 215) bewertet FA jedoch als neuartig. Dieses Attribut, das bestimmte, benennbare Aspekte einer bekannten Verhaltensweise im Zeitverlauf als besonders heraushebt, ist ein Hinweis auf die Deutung dieser Praxis im Sinne eines Trends. Diese Deutung wird durch weitere Äußerungen im Interview mit FA gestützt:
„Diesen, diesen Zeitungsartikel. In der && (Name überregionale Zeitung). Über meine Schulung. +++ Und aufgrund dieses Zeitungsartikels, meldeten sich die merkwürdigsten Leute. Ja? Unter anderem eine Redakteurin von der && (Name Tageszeitung) nee, von vom && Rundfunk, also Redakteure arbeiten ja meistens freiberuflich. +++ Und die Dame rief an und sagte: "Hallo. +++ Ja, ich wollte gern 'n Interview mit Ihnen machen, 'n Radiointerview, äh, zum Thema Wertemanagement, Compliance, Ethik und Wirtschaft. 's is ja grade so modern" Und so ->weiter und so fort<-.“ (FA1: 486-493)
In der zitierten Textstelle beginnt FA nach einer Gesprächsunterbrechung selbstinitiativ von Situationen zu erzählen, in denen er als Experte für das Thema Wertemanagement Interviews gegeben oder als Referent eingeladen war (FA1: 486-505). Als Anlass zur Kontaktaufnahme beschreibt er das Erscheinen eines Zeitungsartikels, in dem über seine Wertemanagementschulungen berichtet wurde. Dieser thematischen Einleitung folgen mehrere kurze narrative Erzählsequenzen, die Begründungen enthalten, die die Deutung eines thematischen Trends „Ethik und Moral in der Wirtschaft“ nahe legen: Im Erzählmodus formuliert FA in Form wörtlicher Rede die Anfrage der Reporterin und formuliert die Deutung der Vermarktung des Interviews. FA äußert weiter, dass er die zahlreichen Einladungen als Referent nicht alle annehmen könne, und schließt die explizite Vermutung an, dass andere Compliancemanager noch gefragtere Redner seinen als er (FA1: 520-529). Indikator für die Trendannahme ist das Interesse von Verbänden sowie Organisatoren privatwirtschaftlicher Veranstaltungen oder Institutionen an Organisationsexperten für Compliance und Unternehmensethik.
Vergleichbare Thematisierungen in den Äußerungen anderer Interviews rahmen die Trendwahrnehmung durch einen zeitlichen Aktualitätsbezug[2], zum Teil auch durch die Benennung eines thematische Labels („Collective Action Approach“ (VB: 37-50)) oder einer äquivalenten Trendwahrnehmung („Welle mit Ethik und Moral“ wie ISO 9000 Normen (FD: 822)).
In dieser Gruppe von Äußerungen tritt das Deutungsmuster eines wahrgenommenen Trends von Ethik und Compliance hervor. Die Relevanz der Themen wird in der Gruppe dieser Äußerungen ebenfalls mit ökonomischen Logiken begründet, hier jedoch in Bezug auf eine anschlussfähige Selbstpräsentation unternehmerischer Strukturen und Praxen in der Außendarstellung.