Typologie von Deradikalisierungsprogrammen

Weltweit haben sich in den letzten Jahrzehnten etliche und vielfältigste Programme gebildet, die sich in den Bereich ‚Deradikalisierung' einordnen lassen. Dabei gehen moderne Deradikalisierungsim Kern auf Demobilisierungsprogramme der 1970er und 1980er Jahre zurück, welche oftmals im Rahmen langwieriger Bürgerkriege auf bestimmte Konfliktparteien ausgelegt waren. Die Demobilisierung des „Schwarzen Septembers“ der PLO zum Beispiel beinhaltete individuelle Anreize zu Heiraten und eine Familie zu gründen (vgl. Dechesne, 2011, S. 287). In Italien versuchte ein ähnliches Programm die Auflösung der „Roten Brigaden“ (ebd.) zu verstetigen, sowie es auch in Nordirland als Bestandteil des ‚Good Friday Agreement' von 1998 (Horgan & Braddock, 2010, S. 269) und in Kolumbien mit einem staatlichen Programm zur Entwaffnung und Reintegration ehemaliger FARC Mitglieder seit 1997 durchaus erfolgreich versucht wurde (ebd., S. 271). Diese Programme arbeiteten umfassend mit finanziellen Anreizen und Unterstützung bei der sozialen Reintegration. Bei späteren Programmen wurden auch ideologische oder theologische Elemente hinzugefügt, was die starke Beachtung der umfassend staatlich finanzierten und organisierten Deradikalisierungsprogramme im Nahen Osten und Süd-Ost-Asien erklärt. Sowohl in Indonesien als auch in Jemen („Religious Dialogue Committee“ ab 2002) und Saudi-Arabien (ab 2003) spielen theologische Argumentation und Deradikalisierung inhaftierter islamistischer Terroristen eine zentrale Rolle (vgl. Horgan & Braddock, 2010; Noricks, 2009; Rabasa, Pettyjohn, Ghez, & Boucek, 2010). Diese Programme wurden zu Vorbildern für ähnliche Initiativen in Ägypten, Jordanien, Algerien, Tadschikistan, Malaysia, Singapur, Irak und Thailand (ebd.). Unter dem Eindruck und der (positiven) Erfahrung der ideologischen Deradikalisierung (wenn auch unter umfassender wissenschaftlicher Kritik) wurden ebenfalls staatliche Programme mit vergleichbaren Ansprüchen in Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden gegründet. Auch in Norwegen, Schweden und Deutschland wurden seit 1998 (in Deutschland ab 2000) erste Erfahrungen mit Ausstiegsprogrammen für Rechtsextremisten gesammelt. Vergleicht man die zentralen Charakteristika entsprechender Programme weltweit, so lassen sich drei Kernlinien aufzeigen, welche für eine Typologisierung essentiell sind. Die hier skizzierten Typen sind notwendig, um bestimmte strukturelle Eigenschaften (Potentiale und Grenzen, Stärken und Schwächen), sowie Wirkungsweisen besser verstehen zu können. Zudem lassen sich aus den hier eingeführten Typen auch Kriterien zur Evaluation und fallbezogenen Vernetzung ableiten. Die drei Kernlinien sind: Trägerschaft (staatlich/nicht-staatlich), Kontaktstruktur (aktiv/passiv) und Rolle der Ideologie (zentral/nebensächlich). Streng genommen können nur Programme, die eine ideologische Aufarbeitung beinhalten, auch ‚Deradikalisierungsprogramm' genannt werden. Allerdings haben etliche Programme die ideologische Komponente ‚nachgelagert', bzw. sich auf geringer ideologisierte Zielgruppen spezialisiert.

Abbildung 1 Typologie von Deradikalisierungsprogrammen

Während Typ A und B nicht-staatliche Organisationen sind, die passiv (d. h. die Ansprache und Kontaktinitiative von Ausstiegswilligen oder vermittelnden Dritten voraussetzend) arbeiten, lassen sich nur selten nicht-staatliche Träger finden, die in der Lage zur aktiv-aufsuchenden Ansprache sind (Typ C). Üblicherweise ist es aufgrund von Datenschutzrichtlinien (zumindest in westlichen Ländern) für Nichtregierungsorganisationen nur sehr schwer möglich an Namen und Adressen von aktiven Extremisten und Terroristen zu kommen. In Deutschland praktiziert lediglich ein nicht-staatlicher Träger diesen Ansatz (vgl. Glaser, Hohnstein, & Greuel, 2014, S. 56). Programme vom Typ A sind dabei in Deutschland recht verbreitet und können teilweise auf langjährige Erfahrungen zurückblicken. International sind neben staatlichen Programmen in Haftanstalten Programme vom Typ B am weitesten verbreitet. Die Typen D und E sind klassischerweise umfangreiche staatliche Deradikalisierungsprogramme in Gefängnissen, wobei der Zugriff auf mögliche Teilnehmer automatisch gegeben ist. Die bereits oben genannten Programme z. B. in Saudi Arabien stützen sich dabei auf intensive theologische Diskurse, während wiederum westliche Programme (z. B. in Dänemark und Großbritannien) diese Komponente ausdrücklich nicht beinhalten, bzw. an nicht-staatliche Partner abgegeben haben. Ein deutscher Sonderfall sei hier genannt: Das Programm BigRex in Baden-Württemberg betreibt als staatliches Programm aktiv aufsuchende Arbeit und versucht zur Teilnahme in dem Ausstiegsprogramm zu motivieren. Ein Beispiel für Typ F wäre das Ausstiegsprogramm für Rechtsextremisten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, welches auf die Eigeninitiative der Ausstiegswilligen setzt. Inwiefern die ideologische Aufarbeitung hier eine Rolle spielt, ist leider aufgrund der Intransparenz unbekannt. Der Typ G steht für Public Private Partnerships, wie zum Beispiel das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Begreift man nun Deradikalisierung nicht lediglich als sozialpädagogische Einzelfallhilfe, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Teilaufgabe der Extremismusund Terrorismusbekämpfung, so ist auch eine neue Einordnung dieser Methodik notwendig.

Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung

Makrosozial

Mesosozial

Mikrosozial

Prävention

z. B. Bildung, Forschung, Jugendarbeit, Sozialarbeit

z. B. Communiy Coaching, LAPs, etc.

z. B. Workshops mit ehemaligen Extremisten in Schulen

Repression

Legislative, Exekutive, Bundesweite Sicherheitsarchitektur

z. B. Gruppenverbote, Stadtteilbeamte

z. B. Verhaftung, HD

Intervention

Gegennarrative

z. B. Familienberatung

z. B. Deradikalisierungsprogramme

Abbildung 2 Das Netzwerk der Terrorismusbekämpfung

Obwohl Deradikalisierungsbzw. Ausstiegsprogramme in Deutschland oftmals als „tertiäre“ oder „indizierte“ Prävention verstanden werden (z. B.: Baer, 2014, S. 59) und sich sicherlich jede sozialpädagogische Maßnahme als Intervention deuten lässt, zielt die hier vorgeschlagene Einordnung auf den gesellschaftlichen und systemischen Rahmen und sollte dementsprechend verstanden werden. Während Prävention Radikalisierungsprozesse frühzeitig verhindern soll, zielt Repression auf die Eingrenzung eines aktiven radikalen Milieus ab. Intervention dagegen beinhalten Maßnahmen, welche das aktive radikale Milieu gezielt ansprechen, um in Ergänzung zur Repression Strukturen aufzubrechen und eine individuelle oder kollektive Abkehr von der radikalen oder extremistischen Position zu ermöglichen – und dies auf vielfältigste Weise. Drei Größenordnungen (makro-, mesound mikrosozial) lassen sich dabei identifizieren. Grundsätzlich sollten die entsprechenden Methoden und Ansätze in einer partnerschaftlichen Ergänzung gedacht werden. So machen individuelle Deradikalisierungsprogramme keinerlei Sinn, wenn staatliche Strukturen Straftaten nicht entsprechend der Gesetzeslage ahnden oder sogar die gesetzliche Grundlage fehlt. Auch in der Prävention, z. B. der Schulbildung oder Ausbildung von Lehrkräften, ist ein dezidiertes Fachwissen über Radikalisierung zur frühzeitigen Erkennung notwendig, weshalb auch vielfältigste Träger, vom Staatsund Verfassungsschutz bis hin zu zivilgesellschaftlichen Initiativen, entsprechende Schulungen und Workshops anbieten.

 
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