Strukturprobleme der sozialen Integration in modernen Gesellschaften

Die askriptive Solidarität und ihre Differenzierung haben eine spezielle Signifikanz für die Relation zwischen dem adaptativen und integrativen Prozess in der Evolution des Gesellschaftssystems. [1] Der Wandel einer fortgeschrittenen differenzierten Gesellschaft kann in zwei Richtungen verlaufen: in die der Einrichtung einer Rangordnung in dem Schichtungsgefüge, das heißt einer exklusiven Askription, und in die der Herbeiführung einer qualifizierten Differenzierung von Gemeinschaften und Rollentypen, die gegenseitig unterschieden sind, im Sinne einer partikularisierten Askription. Die Differenzierung auf der horizontalen Achse ist für die Einrichtung einer höher integrierten Schichtungsordnung relevant. Hiervon unterscheiden sich die Netzwerkordnungen.

Für das moderne Gesellschaftssystem sind eine hohe und wachsende Komplexität und ein Auseinandertreten des „Gesellschafts-“, „Organisations-“ und „Interaktionssystems“ charakteristisch. In diesem Kontext entwickelte sich das globale Weltsystem. Die Differenzierung von Leitorientierungen folgt in diesem Fall der funktionalen Differenzierung. [2] Die Festlegung der Mitgliedschaftsbedingungen und ihre Codierung/Programmierung werden durch die (Teil-) Funktionssysteme sowie die formalen Organisationen vorgenommen und bleiben ihnen überlassen. Sie sind sowohl inklusiv und exklusiv; es gibt aber keine ausschließende Teilsystemmitgliedschaft. Was dieser Vorgang für die soziale Integration bedeutet, ist noch nicht hinreichend bedacht worden. Es lässt sich nicht ausschließen, dass Soziologen diesen Begriff für die Makrosoziologie aufgeben werden. Auf der Basis der Differenzierung der askriptiven Solidarität sind als strukturbildende Mechanismen für die Gemeinschaftsordnungen des modernen Gesellschaftssystems folgende Inklusionen im Sinne einer Erweiterung von Reziprozitäten wirksam geworden[3]:

1. die politische Inklusion, das heißt vermehrte Chancengleichheit bei der Teilnahme an kollektiven Entscheidungen,

2. die ökonomische Inklusion, das heißt vermehrte Chancengleichheit bei der Teilnahme am ökonomischen Austausch,

3. die soziale Inklusion, das heißt formale Rechtlichkeit des Gemeinschaftshandelns, Pluralismus, voluntaristische Assoziationen, Gleichheit der Bürgerrechte, ethische Universalisierung.

4. die soziokulturelle Inklusion, das heißt vermehrte Chancengleichheit bei der Teilnahme am soziokulturellen Diskurs, zum Beispiel durch die allgemeine Schulpflicht, leichteren Zugang zur Universitätsausbildung, aber auch durch die heutige Tele-kommunikation.

Die Inklusionen erfolgen jedoch nicht entwicklungslogisch und sind evolutionär eher unwahrscheinlich. Die Erweiterung der Reziprozitäten führt im Zuge der Expansion des modernen Gesellschaftssystems zu besonderen Steuerungserfordernissen, die nicht mehr trivial gelöst werden können, sondern sich als schwer handhabbare Herausforderungen erweisen. Es ist deshalb offen, ob die genannten Inklusionen in bezug auf die Globalisierung zweiter Stufe anschlussfähig sind. Die Inklusionen werden ihrerseits von „innen“ durch askriptive Solidaritäten begrenzt (Exklusionen), zum Beispiel durch Religions-, Schichtungs-, regionale und nationale Zugehörigkeiten; somit durch Gruppenzugehörigkeiten, die mehr oder weniger inklusiv oder exklusiv sind. Zudem entwickeln die einzelnen Subsysteme besondere Exklusionsmechanismen, zum Beispiel in Wirtschaftsunternehmen und in der öffentlichen Verwaltung, die Karrierewege und die damit verbundenen Eintrittsbegrenzungen eingerichtet haben. [4]

Der Rückgang von traditionaler Solidarität (Familie, Nachbarschaft, ethnische Gruppen) hat in den Wohlfahrtsstaaten dazu geführt, dass sie durch das Wohlfahrtssystem und Selbsthilfegruppen kompensiert wurde. Dieser Vorgang darf aber nicht in der Weise dargestellt werden, dass bei den Arten der traditionalen Solidarität ein „Mehr“ an Solidarität vorliegt, sondern Solidaritätsbeziehungen sind eine „freiwillige Verpflichtung“ zur Bereitschaft „einseitiger Unterstützung“ mit „latenter Reziprozität“, die als „eine spezifische Art sozialer Bindungen, historisch jüngeren Datums, ständig neu herausgefordert“ wird „und neu im Entstehen begriffen“ ist. [5] Bei dem Integrationsprozess spielen besondere Gruppen (Interessenvertretungen, Professionen, Bürgertum und andere), ihre Position und ihr Prestige, aber auch die Amtsorganisation eine entscheidende Rolle. Der soziale Status dieser Gruppen ist vermutlich als eine Faktorenkombination von Vermögen, politischer Macht und moralischer Autorität zu untersuchen (Parsons).

Der interkulturelle und gesellschaftliche Vergleich belegt verschiedene Arten von askriptiver Solidarität in modernen Gesellschaften. Zum Beispiel sind Münchs Fallstudien zu den Sozialstrukturen moderner Gesellschaften dahingehend instruktiv, da sie belegen, dass die soziale Integration von Gruppen über die Prestigeordnung und die Askription der sozialen Schichtung begrenzt ist. [6] Für die modernen Gesellschaften sind Falltypen der soziokulturellen Askription unterscheidbar. Sie begrenzen die Reziprozität der Gesellschaftsmitglieder und legen die Vorgaben für die Präferenzen/Diskriminierungen der Mitglieder der sozialen Einheiten fest. Tabuisiert sind dabei die gruppentypischen Rituale, mit denen die Gruppensolidarität und Zugehörigkeit erhalten wird.

Als Falltypen der askriptiven Solidarität liegt (strukturell) in England eine differenzierte Askription im Sinne einer ständischen – aber durchlässigen – differenzierten Gemeinschaft vor, die zu einer Verbindung zwischen Traditionalismus und Modernität führte (Variante des Universalismus: fairer Anteil; dieser Hintergrundkonsens wurde in der Thatcher-Ära in Frage gestellt). Für die USA ist eine partikularisierte Askription im Sinne eines Gemeinschaftspartikularismus (WASP) charakteristisch, für den jedoch die Vereinigungsfreiheit – freie vertragliche Bindung, freie Bildung des öffentlichen Geistes, Abstimmung der Freiheitssphären durch gerichtlichen Streit – und die Rechte der Bürger und ihrer örtlichen Selbständigkeit gegenüber der staatlichen Ordnung typisch sind – System der checks and balances, Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit vor staatlicher Willkür (Variante des Universalismus: Gleichheit der Chancen). In Frankreich entwickelte sich im Zuge der Modernisierung im Unterschied dazu eine exklusive Askription (geschichtete Gemeinschaft) im Sinne einer Hierarchie der Stände, Klassen und Schichten (Variante des Universalismus: Ungleichheit der Stände und administrative Nivellierung). Und für Deutschland war ebenfalls – bis zu den Umbrüchen in der Folge des ersten Weltkrieges – eine exklusive Askription im Sinne einer hierarchisch gegliederten Gemeinschaft zwischen Bauern, Arbeitern, Unternehmern, Beamten, Bildungsbürgern, Akademikern (Variante des Universalismus: kulturelle Universalität und bürokratische Gleichbehandlung, Resultatsgleichheit) charakteristisch. [7] Die deutsche Nachkriegsgesellschaft bis zur deutschen Wiedervereinigung ist dagegen durch eine nivellierte Askription einer Wirtschaftsgesellschaft ohne kollektive Traditionsbindung zu charakterisieren. Für Frankreich und Deutschland (und Italien) ist, stärker als in den anderen westlichen Gesellschaften, eine konfliktreiche Beziehung zwischen (religiösem) Traditionalismus und säkularer Modernität charakteristisch.

Der Fall Japan ist informativ, weil die Solidaritätsform der japanischen Gesellschaft durch eine durchlässige partikularisiert-exklusive Askription zu charakterisieren ist. Die japanische Gesellschaft setzt sich aus einer Menge von konkurrierenden Gruppen zusammen – ist somit horizontal differenziert; die Exklusion (Schichtung) erfolgt durch eine Statusordnung nach Altersgruppen (Seniorität), die ihrerseits nach innen nicht konkurrieren. Zum Beispiel ist das Bildungssystem – und damit der Zugang zu Statuspositionen – in seinen Eintrittsbedingungen hoch selektiv; ist man aber in der Abstufung Schule, Universität, Unternehmen, institutionenspezifische Altersgruppe in eine soziale Einheit eingetreten, so erfolgt die „Karriere“ sozusagen „von selbst“. Typisch ist zum Beispiel dabei, dass zum Beispiel in einem Unternehmen ältere Mitarbeiter nicht den jüngeren unterstellt sind. [8]

In modernen Gesellschaften lösen sich die durch Geburtstand bestimmten Solidargemeinschaften immer mehr auf. Der Vorgang wird durch die Entwicklung und Ausdehnung von Märkten und ökonomisch kalkuliertem Marktverhalten (Individualisierungsvorgang) ausgelöst; das heißt, es wird den Gesellschaftsmitgliedern zugemutet, ihre Interessen und Lebensperspektiven eigenverantwortlich zu verfolgen. Die soziale Inklusion ist so wie ein Netz, dessen Knoten von einer Menge sozialer Kreise gebildet werden (G. Simmel[9]). Es bildet sich ein Vereinigungsmarkt, der prinzipiell allen Gesellschaftsmitgliedern offensteht. Gleichzeitig wächst dadurch die Unverbindlichkeit der eingegangenen Kontakte, da auf der Basis kurzfristiger Interessengemeinschaften die Reziprozität begrenzt bleibt und längerfristig verbindliche Solidaritätsnormen nicht ausgebildet werden können. Auf dieser Basis restrukturiert sich die askriptive Solidarität in modernen Gesellschaften. Heute zeichnet sich ab, dass in den Ballungszentren der Weltgesellschaft die soziale Integration von Jugendlichen zum Beispiel in den Unterschichten weniger durch Familie, Vereine, Gruppen und Gemeinden erfolgt, sondern dass Banden an deren Stelle treten.

Zu den Strukturproblemen der sozialen Integration moderner Gesellschaften gehört es, dass sie ein nur kompensierbares, aber nicht zu beseitigendes Gefälle zwischen „Gleichheit versus Ungleichheit“ entwickeln. Der Wohlfahrtsstaat, vor allem derjenige der deutschen Nachkriegszeit, war eine solche Kompensation, die mittlerweile an ihre Grenzen gelangt ist. Im Anschluss an Parsons[10] können wir vermuten, dass die Rechtfertigung sozialer Ungleichheit zwei Kategorien betrifft; die Unterscheidung wird unter der Voraussetzung getroffen, dass soziale Gleichheit auf der Basis der Normen der legalen Ordnung in den modernen Gesellschaften institutionalisiert wurde:

1. Die Differenzierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft als soziales Milieu in Untergemeinschaften und die mehr funktionalen Beiträge der Unteroder Teilgemeinschaften für die gesellschaftliche Gemeinschaft im ganzen. Auf dieser Basis besteht eine Differenzierung des Prestiges als ein funktionaler Beitrag der Mitgliedschaft in einer Untergemeinschaft.

2. In den funktional differenzierten Untergemeinschaften ist die Mitgliedschaft der Personen und Gruppen auf der Basis von Ungleichheit der Entscheidungskompetenzen über den Einsatz von Ressourcen, der Autorität, der Macht usw. differenziert. Der Einfluss der Personen und Gruppen ist ebenfalls als Faktor bei der Rechtfertigung der Allokation von Ressourcen einzustufen. Nach Parsons kann dann „Gleichheit versus Ungleichheit“ nach folgenden Merkmalen kategorisiert werden: Ungleichheit der bewertenden Leistungen, der Macht und der kollektiven Verantwortung, Gleichheit der Grundrechte und des staatsbür gerlichen Mitgliedschaftsstatus.

Für die Einstufung der Entwicklung der modernen Gesellschaften ist es entscheidend, dass der religiöse Pluralismus zur Differenzierung zwischen dem religiösen, dem politischen und dem professionellen Komplex gehört. Das Zentrum dieser Entwicklung waren im 17. Jahrhundert England, Holland, Frankreich und teilweise Deutschland. England, Frankreich und Holland übernahmen die Führungsrolle. Die Trennungslinie in der Entwicklung der modernen Gesellschaften wurde im 19. Jahrhundert durch die neuen Führungsgesellschaften (USA, Deutschland) in der Folge der industriellen und der demokratischen politischen Innovationen gezogen. Dies führte dazu, dass der institutionelle Rahmen der frühen Moderne umgestaltet und aufgelöst wurde. Die Durchsetzung der modernen Kultur hatte einen Rückgang des askriptiven Zuweisungsstatus des Adels, der Monarchie, der Staatskirche und der verwandtschaftlich organisierten Wirtschaft zur Folge. Entscheidend hierfür ist ihre Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert einschließlich des entstehenden postkonventionellen Rechts.

Das 19. Jahrhundert kann als das ideologische Jahrhundert charakterisiert werden, das mit seinen Ideologien das 20. Jahrhundert dominiert hat, zum Beispiel die von den Teilsystemen entworfenen Gesellschaftsbeschreibungen der Wirtschafts- und Staatstheorien und die Karriere der Inklusionsbegriffe „Gemeinschaft“, „Genossenschaft“, „Solidarität“, „Demokratie“.[11] Die Neuerungen in der gesellschaftlichen Gemeinschaft betreffen den Vereinigungsgrundsatz als moderne Form der askriptiven Solidarität, die Nationalstaatlichkeit, die Staatsbürgerschaft und die repräsentative Regierungsform. Die relevanten Neuerungen auf wirtschaftlichem Gebiet waren die entstehenden verschiedenen Märkte für die Produktionsfaktoren, die betriebliche Erbringung von beruflichen Dienstleistungen und die nach wirtschaftlichen Maßstäben organisierte Verwaltung. Für die amerikanische Gesellschaft der USA ist vor allem ihr Vereinigungscharakter (association) [12] und die frühe Entstehung von Berufsrollen – auf der Basis von Beschäftigung und nicht nur von Besitz – hervorzuheben. Seit dem 19. Jahrhundert setzte sich in den modernen Gesellschaften ein neues Schichtungsmuster durch, in dem Verantwortlichkeit und eine bedingte Chancengleichheit institutionalisiert sind. Beide Institutionalisierungen können als funktional adäquat eingestuft werden. Sie führen ihrerseits zu einer Restrukturierung der askriptiven Solidarität.

In den neunziger Jahren wird den Sozialwissenschaftlern immer mehr bewusst, dass wir uns in einer neuen Entwicklungsphase moderner Gesellschaften befinden, die wegen des „Kalten Krieges“ bisher zu wenig wahrgenommen wurde. Nach dem Ende des „europäischen (Welt-) Bürgerkrieges“ 1989, mit der deutschen Wiedervereinigung und der damit einhergehenden neuen Konstellation in der Europäischen Gemeinschaft sowie der neuen wirtschaftlichen Regionalisierung und Internationalisierung (Europa, USA, Japan) liegt die Annahme nahe, dass wir in den westlichen Ländern in einer neuen Art von Übergangsgesellschaft leben. [13] Durch die modernen Kommunikationstechnologien entstehen neue Formen wirtschaftlicher Kooperation und Organisation, politischer Regelungen und Kommunikationsstrukturen (Vernetzung). Durch die moderne Informationstechnologie entwickelt sich zunehmend eine Delokalisierung – Durchsetzung der Weltzeit und Medienzeit –, die alle Handlungsbereiche verändern und restrukturieren wird (P. Virilio). Wirtschaft, Recht und Politik sind Funktionsbereiche des sozialen Handelns individueller und kollektiver Akteure, in denen sich variierte Formen der askriptiven Solidarität ausbilden, zum Beispiel zwischen Kollegen, Interessengruppen, Freundschaften, Alterskohorten. Die Leitorientierungen und Regeln dieser Handlungsfelder haben sich in der Gesellschaftsgeschichte der modernen Gesellschaft entwickelt, und ihre Mitgliedschaftsbedingungen sind sowohl inklusiv als auch exklusiv; sie sind aber auch immer den sozialen Konflikten und dem Management von Risiko unterworfen. Für die erkennbare Entwicklung der Handlungsbereiche im Zuge der Globalisierung zweiter Stufe sind systemübergreifende Prozesse, Aushandlung und Kompromissbildung, aber auch die gegenseitige Vernetzung der Teilsysteme typisch; das heißt aber zum Beispiel nicht, dass die Interkoordination der Funktionsbereiche durch Aushandeln geregelt werden kann (N. Luhmann: Kluft zwischen Interaktionssequenzen, die durchlebbar sind, der Komplexität des Gesellschaftssystems sowie der differenzierten Zeithorizonte). Aushandeln ist die Indikation von Problemlagen, aber nicht ihre Lösung, da die jeweiligen Lösungen, zum Beispiel Rechtsprechungen, Investitionsentscheidungen, Eheschließungen und Scheidungen und anderes, sich in ihren Folgen nicht nur der Planung entziehen, sondern vor dem Erfordernis stehen, Entscheidungen zu implementieren, die ihrerseits von einer Ressourcenallokation abhängig sind.

Für die Analyse der Integrationsprobleme empfiehlt es sich – in einer realistischen Sicht –, soziale Integration als ein Netzwerk zu untersuchen, in dem sich neue und eigene Inklusions- und Exklusionsmechanismen entwickeln, die von Außenfaktoren tendenziell unabhängig und nicht mehr von Institutionen auf der Makroebene gesteuert sind. [14] „Das Netzwerk verfügt selbst, und zwar auf der Ebene persönlicher Aktivitäten und Entscheidungen, über einen eigenen Mechanismus der Inklusion bzw. Exklusion. Mitmachen und Herausfallen – das ist eine Entscheidung, die laufend getroffen und erneuert werden muss, und dies, ohne dass Außenfaktoren (etwa durch Inflationierung der Möglichkeiten oder durch Ressourcenentzug) entscheidend eingreifen könnten.“ [15] Man könnte bei diesem Fall von einer Mitmach-Askription sprechen; wer nicht „mitmacht“, ist ein Outsider bzw. eine Privatperson. Die soziale Strukturierung ist in Netzwerken weder eindeutig horizontal noch vertikal. Der Nachteil der fehlenden Institutionalisierung, Zentralisierung, geringe Allokation von Ressourcen, ist die Stärke dieser Organisationsform. Institutionen (Organisationen) verfügen zwar durch Positionszuweisung über einen Stabilisierungsvorteil; sie immunisieren sich aber auch tendenziell gegenüber funktional erforderlichem schnellen Lernen. Wir leben heute in einer „mobilisierten Gesellschaft“ (R. Münch), von der Ökonomie, Politik, Solidarität und Kultur erfasst sind. [16] Sie tendiert zu einer Reinterpretation und einer Ablösung (Postmodernismus[17]) der kulturellen Ideen der Moderne und einer Restrukturierung der großen Funktionssysteme, die in der Expansion und Vernetzung der Teilsysteme neu interpretiert und verändert werden. Dabei verändert sich Gesellschaft und Interaktion derart, dass ein Gefälle zwischen beiden entsteht: Interaktionen müssen beendet und angefangen werden, Gesellschaft ist dagegen eine Ressource (Luhmann: ein Ökosystem), die garantiert, dass mit beendeten Interaktionen die Gesellschaft nicht aufhört. Dies erzwingt meines Erachtens die Dominanz von restrukturierten askriptiven Solidaritätsnormen. Die Belege sprechen dafür, dass die erforderliche soziale Integration in dem entstehenden Gesellschaftsmodell zu einer Restrukturierung der askriptiven Solidarität führt, zum Beispiel zum Austausch von bestimmter Leistung gegen bestimmte Anerkennung, zu Gruppenidentität durch ethnische und regionale, aber auch durch nationale Askription. Restrukturierte askriptive Solidarität erfüllt das strukturelle Erfordernis, dass Inklusionen auf der Ebene des Gesellschaftssystems schwach und Exklusionen stark ausgeprägt werden. In Europa zeichnet sich dabei ab, dass zwar die wirtschaftliche Integration wächst und sich globalisiert, aber die politische Integration und die tatsächlichen Regelungschancen im Konfliktfall, zum Beispiel der KSZE im ehemaligen Jugoslawien, geringer werden – das ist zunächst der Ist-Stand. Es wird abzuwarten sein, welche Entwicklungen und Innovationen durch diese Konflikte eintreten werden. Erkennbar ist zudem, dass soziale Evolution heute die „ökologische Problematik“ und die Nicht-Abstimmung der soziokulturellen Evolution mit natürlichen und menschlichen Ressourcen (Luhmann) bewältigen muss; Probleme, mit denen sie – bis jetzt – nicht fertig werden konnte und die nicht trivial zu lösen sind, sondern ein „Paradox der ökologischen Kommunikation“ darstellen.[18]

  • [1] T. Parsons, Social Systems and the Evolution of Action, New York 1977, Teil III: „The Evolution and Integration of Modern Societies“.
  • [2] Zur Analyse des die Systemdifferenzierung übergreifenden Orientierungssystems moderner Gesellschaften vgl. G. Preyer, „System-, Medien und Evolutionstheorie“, a.a.O.; ders., „Zwei Konstruktionsprobleme der ‚Theorie des kommunikativen Handelns'“, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (1996).
  • [3] R. Münch, Die Struktur der Moderne, a.a.O., S. 261-301
  • [4] B. Giesen, „Kollektive Identität und Exklusion“, in: D. Hoffmeister (Hg.), Festschrift zum Geburtstag von Heinz Hartmann, Göttingen 1995.
  • [5] K. O. Hondrich und C. Koch-Arzberger, Solidarität in modernen Gesellschaft n, a.a.O., S. 9; zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates vgl. V. Bornschier, Westliche Gesellschaft im Wandel, a.a.O., S. 307 bis 310. Zu den Problemen der moralischen Integration moderner Gesellschaften und ihrer Paradoxien vgl. R. Münch, „Modernity and Irrationality: Paradoxes of Moral Modernization“, in diesem Band, speziell zum Kommunitarismus: G. Preyer und J. Schissler, „Zivilgesellschaft: Eine neue Ideologie“, in: Die politische Meinung 294 (1994).
  • [6] R. Münch, Die Kultur der Moderne, a.a.O.
  • [7] Zu den Trägerschichten der Entwicklung des deutschen Nationenbegriffs und seiner Veränderung vor allem B. Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main 1993.
  • [8] Zu der Sozialstruktur Japans vgl. G. Preyer und J. Schissler, „Kulturelle und gesellschaftliche Voraussetzungen der japanischen lean production und ihre gegenwärtige Bedeutung“, in: asien afrika lateinamerika 23 (1995). Zum interkulturellen Vergleich zwischen Japan, USA und Europa im Hinblick auf die Umstrukturierungserfordernisse der deutschen Unternehmen vgl. G. Preyer und J. Schissler, Integriertes Management. Was kommt nach der Lean Production?, Frankfurt am Main 1996.
  • [9] Zu Simmel: R. Pieper, „Strukturelle Emotionen, elementare Strukturbildung und strukturelle Evolution“, in diesem Band.
  • [10] T. Parsons, „Equality and Inequality in Modern Society, or Social Stratification Revisited“, in: ders., Social System and the Evolution of Action System, a.a.O.
  • [11] N. Luhmann, „Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen“, in: P. Fuchs und A. Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994, S. 49.
  • [12] Zur Entstehung des neuen „Gesellschaftsmodells“: V. Bornschier, „Westeuropäische Integration als Gesellschaftsmodell im Zentrums-Wettbewerb“, in diesem Band, zu den Strukturen des Weltsystems: I. Wallerstein, „Evolution of the Modern World System“, in diesem Band.
  • [13] N. Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., S. 579.
  • [14] N. Luhmann, „Inklusion und Exklusion“, in: H. Berding (Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 2, Frankfurt am Main 1994, S. 342, hat dieses Modell nahegelegt und belegt es an den Untersuchungen zur Sozialstruktur Süditaliens; Luhmann vertritt eine Differenzierungstheorie der Inklusionsordnung.
  • [15] Ebd., S. 34.
  • [16] Zu den Ergebnissen der Mobilitätsforschung und der tendenziellen Konvergenz zwischen den westlichen Staaten B. Bornschier, Westliche Gesellschaft n im Wandel, a.a.O., S. 328-347; S. Langlois u. a. (Hg.), Convergence or Divergence? Comparing Recent Social Trends in Industrial Societies, Frankfurt am Main 1994.
  • [17] Zur Rolle des Postmodernismus im heutigen Weltsystem vgl. A. Bergesen, „Postmodernity: A World-System Explanation“, in diesem Band.
  • [18] Vgl. dazu im Zusammenhang mit einer Kritik an Luhmanns Wirtschaftssoziologie: R. Münch, „Zahlung und Achtung. Die Interpenetration von Ökonomie und Moral“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 5 (1994).
 
< Zurück   INHALT   Weiter >