Kritik an der Differenzierungstheorie

In der seit den siebziger Jahren in der deutschen Soziologie stattfindenden konstruktiven Neuaneignung von Webers Rationalisierungsthese – aber auch der Durkheimschen Theorie – ist Münch der einzige Autor, der die Interpretation von Rationalisierung als intellektuelle Rationalisierung (Differenzierung zwischen Welt und Überwelt, Heiligem und Profanem, Religion und Theodizee) (J. Habermas, W. Schlucher, F. H. Tenbruck, auch B. L. Berger und andere) und als wachsende Entfaltung eigengesetzlicher, sich differenzierender sozialer Handlungssphären kritisiert und als erklärungsinadäquat zurückgewiesen hat. Schluchter hat sich dieser Kritik an der Differenzierungstheorie insoweit angeschlossen, da nach seinem Ansatz die Theorie der institutionellen Differenzierung „fundamentale Interpenetrationsbeziehungen“ zwischen Kultur und Gesellschaft nachzuweisen hat, weil sich „Lebensordnungen“ (Weber) in Interpenetrationszonen zwischen Kultur und Gesellschaft entwickeln. [1]

Münch führt einen Differenzierungsbegriff ein, der gegenüber den vorliegenden Ansätzen in der Differenzierungs- und Modernisierungstheorie neu ist: „Die Bindung eines analytisch-funktionalen Systems an konkrete soziale Einheiten muss aufgehoben werden, so dass jedes analytisch-funktionale Subsystem mehrere konkrete empirische Einheiten in dem durch das analytisch-funktionale Subsystem bestimmten Aspekt einschließt. Differenzierung [hat] als Merkmal der Evolution genau diesen Sinn: die Differenzierung analytisch-funktionaler Systeme mit eigenen Leistungen von konkreten sozialen Einheiten und gerade nicht die gegenseitige empirische Isolierung der analytisch-funktionalen Systeme gegeneinander durch die Verteilung auf exklusive soziale Einheiten. Die Kultur ist in diesem Fall [in modernen Gesellschaften, d. V.] nicht nur Sache einer exklusiven Priesterkaste, die politische Herrschaftsausübung nicht nur Sache einer politischen Kaste oder Amtspfründnerschicht, das Gemeinschaftshandeln nicht nur auf die Sippengenossen begrenzt und der ökonomische Tausch nicht nur der Beziehung zu Sippenfremden Vorbehalten. Die Erfüllung der entsprechenden analytisch differenzierbaren Funktionen wird dadurch von den Bindungen an solche konkreten Einheiten befreit und generalisiert.“ [2]

Die Innovation von Münchs Entstehungs- und Entwicklungstheorie moderner Gesellschaften besteht meines Erachtens darin, dass er die Entstehungsgeschichte der modernen Institutionen auf der Basis eines interkulturellen Vergleichs nicht aus der Entwicklung der inneren Eigengesetzlichkeit von Handlungssphären erklärt, sondern durch die Interpenetration von Strukturbestandteilen von Handlungssphären. Dies gilt auch dann, wenn wir auf der analytischen Ebene der Handlungssysteme systemtypische Codes und Operationen auszeichnen. In der Radikalisierung der Interpenetrationstheorie besteht das Neue an der Darstellung der gerichteten Auswirkung des Rationalisierungsvorgangs (Weber). Sie betrifft die für moderne Gesellschaften typische Umwandlung der „Differenzierungen der Orientierungen des Handelns“.[3] Hierbei empfiehlt es sich, von den Orientierungen des Handelns am „intellektuellen resp. kognitiven Rationalismus“, am „Gemeinschaftshandeln“ (ethischer Partikularismus, Pietät, Brüderlichkeit, repressive Sanktion), am „Utilitarismus“ (adaptives/ökonomisches Handeln) und an der „Zwecksetzung“ (situativer Aktivismus) auszugehen. Der Lernschritt zu den modernen Gesellschaften führte zu einer Umwandlung dieser einzelnen Orientierungen.

Der übergreifende Umwandlungsvorgang betrifft die Orientierung des Handelns an „Standards des rationalen Denkens“ als einer Übertragung der kognitiven „Rationalität des Handelns“ auf das durch „ethischen Partikularismus“, „Pietät“, „Brüderlichkeit“ und „repressive Sanktion“ geregelte soziale Handeln einer Gemeinschaft. Das „Gemeinschaftshandeln“ wird in Richtung auf eine „Universalisierung von Gemeinschaftspflichten“ und auf „individuelle Entscheidungsfreiheit“ umgebildet, das heißt auf Enttraditionalisierung, Intellektualisierung, Versachlichung und formale Rechtlichkeit der Gemeinschaftspflichten. Der „Utilitarismus“ des ökonomischen Handelns wird seinerseits in eine „temperierte Selbstverantwortung“ und die „Brüderlichkeit“ durch die „versachlichte Regel der Equity“ umgebildet. Der „situative Aktivismus“ wird in einen „methodisch-systematischen Aktivismus“ umgewandelt und die „repressive Sanktion“ durch das moderne (formale) Recht in eine „restitutive Sanktion“ – im Sinne der Regelung freiwillig eingegangener Zweckkontakte – transformiert. An die Stelle der Pietät tritt ein „institutioneller Individualismus“ (Parsons). Dieser Umwandlungsprozess führte als Endzustand zu der Verständigungsform der modernen Kultur und den für sie typischen Institutionen, die sich aus der Umstellung der kulturellen auf die gesellschaftliche Rationalisierung entwickelt haben. Die Entwicklung ist kein Ergebnis einer Entwicklungslogik, sondern der besonderen historischen und sozialstrukturellen Bedingungen:

1. einer Relativierung zwischen Innen- und Außenmoral (Weber),

2. der Anwendung wissenschaftlichen Wissens auf die Lösung technischer Aufgaben und seiner Nutzung für das Erwerbsleben und

3. einer Versachlichung und rechtlichen Normierung des Gemeinschaftshandelns.

Typisch für moderne Gesellschaften ist somit nicht die Differenzierung, sondern ihre differentielle Ordnung. Die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems basiert – auch im Sinne einer evolutionären Höherentwicklung – auf einer Interpenetration zwischen den funktionsspezifischen Handlungsbereichen, die dadurch ihre Leistungen steigern; das schließt jedoch eine unkontrollierbare Komplexitätssteigerung nicht aus. Das heißt aber, dass auch die Marktordnung und die wirtschaftliche Ressourcenkalkulation ein durch Normen geregelter Handlungsbereich ist, dass zum Beispiel das Vertrauen in die vertraglichen Regelungen und Obligationen, die Verpflichtungen zwischen Geschäftsfreunden und die Verantwortung für Mitarbeiter nicht allein aus den Eigeninteressen ihrer Teilnehmer zu erklären sind: Die Interessensorientierung (der Nutzen) ist von den bindenden sozialen Normen zu unterscheiden. Das funktionale Erfordernis für die Institutionalisierung des Vertrages und der restitutiven Sanktion des modernes Recht betrifft die „alle“ Handlungsfelder (-bereiche) übergreifende Geltung sozialer Normen und Regelungen.

Der rationale Kapitalismus und die moderne Unternehmensführung bilden sich durch die Interpenetration mit den nichtökonomischen Sphären aus: 1. dem soziokulturellen Diskurs und der diskursiven Begründung des ökonomischen Handelns, 2. der universellen Vergemeinschaftung und ihrer Partikularisierung, 3. den normativen Regelungen und 4. den kollektiven Zielsetzungen. Die Interpenetration der ökonomischen Sphäre und der nichtökonomischen Sphäre wird von Münch als Prozess der Integration und der Differenzierung von Handlungssphären rekonstruiert. Eine Interpenetration zwischen den Handlungssphären bauen in Münchs Sicht auch die anderen Institutionen auf: 1. die moderne Demokratie mit Verfassung, Recht, Bürokratie und politischem Austausch, 2. die modernen kulturellen Institutionen der Wissenschaft, der Professionen, der diskursiven Konsensbildung und der Sinnkonstruktion und 3. die moderne Gemeinschaft. Einschränkend nimmt er an, dass die empirische Behauptung der Interpenetration unterschiedlicher Strukturbestandteile in den modernen Institutionen – im Anschluss an die Ergebnisse von Webers vergleichenden religionssoziologischen Studien – in vergleichender Perspektive formuliert wird. Die relevanten Ergebnisse von Webers Studie werden für die konstruktive Vorgehensweise herangezogen.

Die Interpenetrationsannahme wird weiter zur Kennzeichnung von Problemlösungsalternativen im Falle von „Konflikten“, „Friktionen“, „Isolierungen“ und „Übersteuerungen“ zwischen Handlungssphären verwendet. Der Übergang der kulturellen zur gesellschaftlichen Rationalisierung ist nach Münch ein Gesichtspunkt der übergreifenden Interpenetration der Handlungssphären im Sinne einer Spezifikation der wissenschaftlichen, der normativen und der professionellen Rationalität und kein Impetus zur Entfaltung der Eigengesetzlichkeit der Handlungsbereiche (Wirtschaft, Staat/Verwaltung und Wissenschaft). Das funktionalistische Differenzierungstheorem ist für die Rekonstruktion der strukturbildenden Auswirkung des Rationalisierungsvorgangs methodologisch und sachlich unbrauchbar (Kritik an Luhmann, Habermas, teilweise auch an Schluchter). Die Entwicklung des kulturellen Codes (kulturelle Rationalisierung) und der Übergang zur gesellschaftlichen Rationalisierung werden von Münch mit Fallstudien zu den Gesellschaften exemplifiziert, aus denen sich die moderne Kultur entwickelt hat. Leitfaden dabei ist das charakteristische Verhältnis zwischen Protestantismus und Gesellschaft am Beispiel Englands, der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands sowie zwischen Katholizismus und Gesellschaft in Frankreich. Münchs Fallstudien sensibilisieren uns für die soziokulturellen und soziostrukturellen Hintergründe moderner Gesellschaften, da in England, Amerika, Deutschland und Frankreich die Entstehung und die Entwicklung der modernen Gesellschaften von unterschiedlichen besonderen Anfangsbedingungen geprägt wurden und die soziale Integration von Gruppen über die Prestigeordnung und die Askription der sozialen Schichtung begrenzt ist.

  • [1] Vgl. W. Schluchter, Religion und Lebensführung, a.a.O.
  • [2] R. Münch, „Von Parsons zu Weber: Von der Rationalisierung zur Theorie der Interpenetration“, in: Zeitschrift für Soziologie 9 (1980), Heft i, S. 39; vgl. dazu auch die zusammenfassende Darstellung zur Differenzierungstheorie mit Bezugnahme auf Luhmann, Schluchter, Habermas: ders., „Die dialektische Konstitution der modernen Gesellschaft“, in: ders., Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, a.a.O.
  • [3] Vgl. R. Münch, „Von Parsons zu Weber“, a.a.O.
 
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