Die soziale Dimension der Emotionen
Der Anspruch auf eine spezifisch soziologische Dimension emotionaler Phänomene gegenüber biologischen und psychologischen Theorien individueller Emotionalität ist natürlich zu begründen. Dabei müssen drei Aspekte auseinandergehalten werden. Erstens wird in der Psychologie zwischen einer Theorie der Aktivierung bzw.
Beruhigung und einer Theorie der Ausdrucksformen unterschieden. Ähnlich kann die Soziologie das Problem der Emotionalität einerseits im Sinne der Mobilisierung sozialer „Energien“ behandeln und andererseits eine differentielle Theorie spezifischer Gefühle und ihres Bezugs zu sozialen Kontexten anstreben. In der Regel beschränken sich soziologische Autoren auf sehr allgemeine Gefühlslagen wie kollektive Zufriedenheit oder Protest und sind vorrangig an der Intensität oder dem Aktivierungspotential in Hinblick auf bestimmte kollektive Aktionen interessiert.
Soziale Energien in diesem Sinne entsprechen unter anderem der emotionalen Dimension sozialintegrativer Prozesse – den „Kollektivströmungen“ der Solidarität bei Durkheim. Soziologische Ansätze zu einer differentiellen Gefühlstheorie sind demgegenüber selten und jüngeren Datums, obwohl sie beispielsweise in Simmel einen Vorläufer haben.
Zweitens lassen sich Gefühle auf unterschiedlichen Ebenen in der Mehr-Ebenen-Struktur sozialer Phänomene verankern: Organismus, Person, Interaktion oder Organisationen. Jenseits der personalen Ebene können soziale Normen dann den Affekten und Emotionen nur aufgesetzt werden, so dass sie „gefühlsleitend“ wirken können, wie Heller (1980, S. 49) in ihrer soziologischen Gefühlstheorie sagt. Soweit Gefühle sozial nur interpretiert werden, werden sie dem Individuum zugeordnet und können als „vorübergehende Rollen“ (transitory roles) aufgefasst werden (Averill 1980). Betrachtet man demgegenüber die emotionalen Reaktionen als Eigenschaften sozial eingeübter Schemata mit verteilten Rollen, so sind Gefühle (auch) als eine genuin soziale Tatsache (Durkheim) zu verstehen. Die Rede von kollektiven Gefühlen gewinnt dann einen präziseren Sinn über die Struktur von Emotionen in solchen Schemata.
Drittens resultiert die tiefere Motivation für die Trennung der Gefühle vom sozialen Handeln und ihre Verweisung in die Natur auch bei Heller letztlich aus ethisch-moralischen Gesichtspunkten. Gefühle machen „unfrei“, sie unterliegen natürlichen Gesetzmäßigkeiten, während soziales Handeln die eigentliche „freie“ Lebensäußerung des Menschen ist bzw. sein soll. Der Dualismus von Regeln und Gesetzen soll ethisch-moralische Probleme im Bereich der Gefühle lösen helfen, indem er klare Verantwortlichkeiten schafft: Gegen unsere Natur kommen wir natürlich nicht an, weshalb wir immer wieder schuldig werden, aber es gibt auch noch das Reich der Vernunft, das uns eine ethische Disziplinierung erlaubt und uns auf ein Streben nach Emanzipation von der Natur verpflichtet. Eine solche „Lösung“ ist zweifellos nicht akzeptabel. Diese Gefangenheit des freien Willens (captivity of the will) in den Gefühlen orientiert uns insbesondere im Falle von Sympathie, Sorge und Mitleid auch moralisch; Handeln verliert nicht seinen moralischen Charakter, nur weil es nicht auf einer „Entscheidung“, sondern auf einer in moralisch beispielhaften Lernsituationen erworbenen Charaktereigenschaft beruht (Sabini/Silver 1985; Blum 1980).
Analog zum Verhältnis von individuellen Interpretationsmustern und kollektiven Interpretationsmustern oder zum Verhältnis von individueller Handlung und ihrer Rolle im Prozess der (Re-)Produktion einer sozialen Struktur sollen im folgenden auch individuelle Gefühle als konkreter Ausdruck oder als Element eines sozialen Prozesses betrachtet werden. Auch auf interaktiver und kollektiver Ebene kann man zunächst die Unterscheidung allgemeiner Aktivierungsphänomene und spezifischer Gefühle in der Charakterisierung eines sozialen „Klimas“ aufrechterhalten. Die Rede von sozialen Energien bezieht sich in der Regel auf die (Re-)Produktion von Aktivierungspotentialen, wobei die Frage nach der Qualität spezifischer Gefühle wie Angst, Ärger oder Freude in den Hintergrund tritt. Dennoch sind diese Prozesse in der Regel nicht ohne Struktur. Das Scheitern der sogenannten „Massenpsychologie“ ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sie die Strukturiertheit der „Masse“ und damit den Charakter kollektiver Gefühle als Ergebnis eines Strukturbildungsprozesses übersehen hat. Ihr Paradigma war deshalb ein Grenzfall, nämlich die Projektion diffuser Gefühle in einer unstrukturierten sozialen Situation, die anhand weitgehend zufälliger Einflüsse (zum Beispiel Richtung einer Panik) oder eines charismatischen Führers in einen „geordneten“ Zustand umschlagen kann (vgl. Pieper 1989).
Die Rekonstruktion differenzieller Gefühlslagen kann drei Wege beschreiten:
(1) Eine interaktionsbezogene Betrachtungsweise erklärt die Gefühle perspektivisch-distributiv aus der Position in einer Beziehung; (2) kollektive Gefühle in einem engeren Sinne ergeben sich aus dem gemeinsamen Erleben eines Ereignisses, dem Betroffensein von einer sozialen Lage oder der Erfahrung einer „transzendenten“ Autorität; (j) kollektive Gefühlslagen in einem weiten Sinne können als strukturelle Disposition für die Häufigkeit und Verteilung emotionaler Verhaltensweisen betrachtet werden. Vester (1991) beschreitet beispielsweise diesen Weg, wenn er Ereignisse wie Selbstmord, Krankheiten, Gewaltanwendungen etc. als Symptome gesellschaftlicher Prozesse – etwa der „Ansteckung“ – analysiert und Gesellschaften kollektive Befindlichkeiten zuordnet. In jedem Falle sollten die Gefühle nicht als Begleiterscheinung, sondern als ein inhärenter Bestandteil von Denken und Handeln betrachtet werden. Die Aufforderung, etwas Bestimmtes zu denken oder zu tun, ist zugleich die Aufforderung zu einer entsprechenden Empfindung.
Die Tatsache, dass wir solche Aufforderungen mit Erfolg an andere richten können, ist ein Beleg für den sozialen Charakter von Emotionen. DeSousa (1980) hat Emotionen deshalb mit Paradigmen verglichen; sie steuern die Haltungen und Orientierungen so, wie wissenschaftliche Paradigmen die Forschung anleiten. Sie sind intransparent in paradigmatische (Forschungs-) Praktiken eingebunden, man kann ihre Angemessenheit nicht zwingend begründen, und dennoch sind sie nicht völlig einer subjektiven, individuellen Willkür preisgegeben.
Die Effektivität sozialer Einflüsse, wie die Aufforderung zu bestimmten Gefühlen, resultiert aus dem Umstand, dass Emotionen weitgehend an symbolische Elemente gebunden sind, die nicht in gleichem Maße von der ursprünglichen Lernsituation gelöst und distanzierend betrachtet werden können, wie beispielsweise die kognitive Beschreibung der Situation. Vielmehr werden die paradigmatischen Situationen insgesamt auf eine aktuelle Situation angewendet, auch ohne dass eine bewusste Reflexion oder Interpretation erfolgt. Emotionen setzen in ihrer Genese instinkthafte oder affektive Dispositionen voraus, die dann in paradigmatischen Situationen aktualisiert und in sozial angemessener Weise in das Denken und Handeln integriert werden. Situationen können deshalb die entsprechenden Emotionen auslösen, auch wenn die Akteure auf der Ebene sprachlich vermittelter Kommunikation keine oder sogar andersartige Interpretationen in die „Definition der Situation“ einbringen. Wir sind allerdings nicht den frühkindlichen Paradigmen ausgeliefert. Man kann mit Emotionen Erfahrungen machen, Einfluss auf sie gewinnen, sie entwickeln, differenzieren und kulturell ausgestalten und sie in umfassenderen Strukturen organisieren, etwa in Form von persönlichem Charakter und sozialen Tugenden. Die emotionale Wertungen und inhaltliche Interpretationen stehen im Interaktionsprozess in einer Wechselbeziehung, die man unter dem Aspekt der Emotionen und dem der Interpretationen betrachten kann: Einerseits steuern Emotionen selektiv mögliche Erfahrungen und beeinflussen somit den Gegenstandsbereich rationaler Problemstellungen und -lösungen. Diese rationalen Strukturen steuern ihrerseits mögliche Erfahrungen und erlauben eine soziokulturelle Ausgestaltung und Ausdifferenzierung der Emotionen in typischen Ausdrucksformen, in persönlichen Charaktereigenschaften und sozialen Tugenden. Andererseits werden soziale Interaktionen durch mögliche thematische Gehalte initiiert und strukturiert. Mythen und Rituale werden in sozialen Situationen (teilweise bewusst und gezielt) aktualisiert, um bestimmte Gefühlslagen herbeizuführen. Dabei werden auch Emotionen und Handlungsbereitschaften im Kontext der Situationen mobilisiert, die nicht strikt auf das Thema bezogen sind und sich nicht völlig ausgrenzen lassen. Konnotationen und Assoziationen können das Thema im Verlauf der Interaktion modifizieren und zu neuen angemessenen, kontextbezogenen Interpretationen oder zu Konflikten führen. Die strukturierende Kraft der Emotionen (wie auch der Interpretationen) läuft dabei nicht nur über den individuellen Prozess der Handlungsgeneration, sondern auch über den Kontexteffekt, der sich aus den emotionalen Qualitäten gelungener und misslungener Interaktionen über einen Prozess der Selbstorganisation ergibt.
Simmel hat diesen Vorgang in paradigmatischer Weise anhand der Wechselbeziehung von Liebe und Treue beschrieben. Liebe als primäres individuelles Gefühl wird Anlass zu einer Beziehung der Treue, die als „strukturierender, fortwährend sich entwickelnder Lebensprozeß […] eine relativ stabile, äußere Form erhält; die soziologischen Formen des Miteinandergehens, der Einheitsbildung, der Darstellung nach außen können den Wandlungen ihrer Innerlichkeit, das heißt der auf den anderen bezüglichen Vorgänge in jedem Individuum, überhaupt nicht mit genauer Anpassung folgen, beide Schichten haben ein verschiedenes Entwicklungstempo […]. Die soziologische Verknüpftheit vielmehr, woraus auch immer entstanden, bildet eine Selbsterhaltung aus, einen Eigenbestand ihrer Form, unabhängig von ihren ursprünglich verknüpfenden Motiven. […] Und das erweitert den Begriff der Treue und bringt ein sehr wichtiges Moment hinzu: Der äußerlich bestehende soziologische Zustand, das Zusammen, kooptiert gewissermaßen die Gefühle, welche ihm eigentlich entsprechen, obgleich sie am Anfang und in bezug auf die Begründung der Beziehung nicht vorhanden waren. Der Prozeß der Treue wird hier gewissermaßen rückläufig“ (Simmel 1968, S. 442 und S. 439 f.). Das primäre individuelle Gefühl der Liebe und die sekundäre interaktive Gefühlsbindung der Treue (re)produzieren einander wechselseitig.
Interessant ist, dass Simmel hier explizit auf den Aspekt der Zeit bzw. auf das Entwicklungstempo in der Strukturbildung hinweist. Diese Differenzierung von Ebenen findet nicht nur im Verhältnis der psychologischen Innerlichkeit zur soziologischen Äußerlichkeit statt, sondern auch zwischen der interaktiven und kollektiven Ebene. Diesen Schritt vollzieht Simmel nicht. Er konzipiert den Strukturbildungsprozess sekundärer Gefühle als Wechselwirkung der primären Gefühle mit praktischen, zweckrationalen Interaktionen. Dadurch werden die primären Gefühle über Gewohnheitsbildungen und Ritualisierungen zu sekundären Gefühlen modifiziert und liefern als Sozialvertrauen den unentbehrlichen Kitt für soziale Bindungen. Für Simmel bleiben aber der individuelle Akteur, seine Beziehungsarbeit (Hochschild) und die Leistungen seiner differenzierten Persönlichkeitsstruktur die entscheidende Vermittlungsinstanz für soziale Integration.
Simmels Beitrag, charakteristisch für seine interaktionsorientierte Soziologie, ist die Analyse von Verkehrskreisen und ihren Schnittpunkten im Individuum. Diese Verkehrskreise sind aber in der Regel keine rein distributiven Vernetzungen, wie Simmel unterstellt, sondern werden auch durch relativ diffuse Symbole der Inklusion strukturiert. Sie sind Einflussbereiche oder Felder von identitätsstiftenden Normen und Werten, von Wissen und Mythen, deren Interpretationen über Prozesse der Selbstorganisation (re)produziert werden. Sie sind – in seinen Worten – ein Gefühle kooptierendes „Zusammen“ von höherer Ordnung als die jeweilige Interaktion oder Beziehung.
Den allgemeinen Zusammenhang von Interpretation und Emotion möchte ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen, sondern stattdessen den Gedanken der Perspektivität wieder aufnehmen.