Das Konzept der Nation und der Weltgesellschaft

[1]

Nach einigen wichtigen Arbeiten zum Nationalstaat innerhalb der Modernisierungstheorie Anfang der sechziger[2] Jahre, wurde mit der Kritik strukturell-funktionalistischer Konzeptionen zu Beginn der siebziger auch die Forschung über Nationalstaaten aus der Soziologie verdrängt[3]. Viele der Konzeptionen lebten jedoch, meist von Politologen vertreten, in der ‚Nation-building' -Forschung weiter[4]. Auch die eher an marxistischen Argumentationsfiguren anschließende Dependenz- und Weltsystemtheorie konnten den Nationalstaat nicht völlig übersehen[5]. In der ‚Mainstream'-Soziologie kehrte eine gewisse Stille zu diesen Themen bis etwa Mitte der achtziger Jahre ein. [6] Natürlich gab es in dieser Zeit einsame Rufer in der Wüste, für Deutschland sei hier Rainer Lepsius genannt, für den angelsächsischen Sprachraum Anthony D. Smith. Spätestens seit dem Ende der achtziger Jahre explodiert die Literatur zu diesem Thema wieder, wobei jedoch der Hauptteil einer eher bemüht ideologiekritischen Literatur einer geringen Anzahl von mehr an sozialen Wandlungsprozessen interessierten Literatur gegenübersteht. [7]

Ein Teil der eben genannten Forschungstradition thematisiert auch globale Sichtweisen. Im engeren Sinne wurden diese Ideen auch Anfang der sechziger Jahre hauptsächlich unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten beschrieben. [8] Neben diesem durchgehenden Forschungsstrang, hauptsächlich über die zunehmende mediale Vernetzung der Welt, waren es vor allem naturwissenschaftliche Modelle wie die des Club of Rome, die einen Interpretationsbedarf hinsichtlich

‚globaler Probleme' an die Soziologie anmeldeten. [9] Der einzige Theoretiker, der sich systematisch immer wieder auf globale Aspekte unter dem Begriff der Weltgesellschaft bezieht, ist Luhmann, der dieses Konzept als tragenden Pfeiler in seine Theoriearchitektur eingebaut hat. [10]

Forschungen über Nationalstaaten und Weltgesellschaft können also auf einen gewissen Fundus an Literatur zurückgreifen. Theoriegeschichtlich von Interesse ist nur, dass sowohl das Paradigma des sozialen Wandels in seiner Anwendung auf makrosoziale Einheiten wie auch die Beschäftigung mit askriptiven Merkmalen[11] sich in den letzten zwanzig Jahren einer gewissen Unbeliebtheit erfreuten. Diese Schräglage wird meist damit erklärt, dass die Entwicklung von Nationen als Form segmentärer Differenzierung sowie die weiterhin hohe Relevanz von askriptiven und partikularen Handlungsorientierungen nicht oder nur teilweise mit der Theoriearchitektur der gesamten klassischen Modernisierungs- und Differenzierungstheorie kompatibel sind. [12]

Die Definition von Weltgesellschaft „als jenem emergenten Sozialsystem, das weltweit alle denkbaren Kommunikationen zur Einheit eines und nur eines Systems zusammenführt“[13], ist relativ unproblematisch. „Nur die Weltgesellschaft ist heute noch in einem präzisen Sinn dieses Begriffs Gesellschaft, und sie schließt im übrigen als Weltgesellschaft alle Ungleichheiten in sich ein, die durch die soziokulturelle Evolution und das Operieren der Funktionssysteme hervorgebracht worden ist“.[14] Über den Begriff des Nationalstaates muss aber etwas mehr gesagt werden. An dieser Stelle soll nicht die inzwischen extensive Diskussion um die Definition von Begriffen wie Ethnie, Volk oder Nation wiederholt werden. [15] Unumgänglich ist es jedoch, einige Worte zu den Grundauffassungen des Begriffs Nation zu verlieren. [16] Im angelsächsischen Raum dominierend war und ist dabei die Gleichsetzung der Nation mit dem Staat bzw. dem Staatsvolk. Für Mittel- und Osteuropa, ebenso wie für Frankreich und Italien gilt jedoch, dass die Nation – sei es nun durch historisches Schicksal oder den freien Willen aller Beteiligten – gewissermaßen als vor und, wenn notwendig, auch gegen den Staat bestehend gedacht wird. Besonders deutlich wird dies in den Ideen der Aufklärung – etwa Rousseau –, in der die Nation gleichsam ein Verein zum wechselseitigen Nutzen ist, deren Willen in einem spezifischen Staat erst zum Ausdruck kommt. Zwischen den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Frankreich und Italien besteht insofern zumindest ein gradueller Unterschied, dass in Italien und Frankreich die Nation eher subjektivistisch, das heißt auf den Zugehörigkeitswillen des einzelnen, aufbaut. In Mittel- und Osteuropa herrschen eher objektivistische Definitionskriterien vor: Nation bestimmt sich über einen Nationalcharakter, der meist durch angebbare Faktoren bestimmt gedacht wird (Klima, gemeinsame Geschichte, „Rasse“, Herrschaftsoder Rechtsgemeinschaft). In den aktuellen Definitionen gibt es zum einen vor allem in der ‚Nation-building' -Forschung noch den Begriff der Staatsnation, der jedoch immer weiter ausgefeilt wird. Zum anderen gibt es Forscher (zum Beispiel Seton-Watson), die die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der Definition des Nationenbegriffs betonen bzw. auf den bloß fiktiven Charakter der Nation verweisen, wenn sie zu sehr vom Staatsbegriff gelöst wird. [17] Die meisten Bestimmungsversuche zum Nationenbegriff versuchen jedoch heute, ein Bündel von objektiven und subjektiven Kriterien zusammenzutragen, die eine Nation ausmachen. Subjektiv wird manchmal auch auf ein eher unpolitisches Zusammengehörigkeitsgefühl rekurriert. Es überwiegen jedoch Versuche, den politischen Willen kollektiver Selbstbestimmung hier zum zentralen Moment zu machen. Als weitere Ausdifferenzierung dieser Analyse-Modelle kann der Versuch von Smith gesehen werden, territoriale und ethnische Nationen zu definieren.

Smith[18] unterscheidet Staaten, die ihre Bürger in einem Homogenisierungsprozess erst zum Nationalstaat machten, von Staaten, bei denen die Existenz einer Nation zuerst postuliert und dann politisch umgesetzt wurde. Smith spricht von ‚territorialen Nationen' (Großbritannien, Frankreich, Spanien), wenn ein auf einer zentralen Ethnie beruhender Staat beginnt, andere Ethnien auf seinem Gebiet zu inkorporieren oder zu unterdrücken. Es entstehen Gesetze, Bürgerschaft und auch eine gemeinsame Kultur. Anders dagegen ethnische Nationen (Deutschland, Polen, auch Bulgarien, Tschechoslowakei oder Türkei): Indem sich diese Staaten erstarkenden Territorialnationen gegenübersehen, beginnen sie oft in einer Situation politischer Zersplitterung oder Destabilität ihr Mobilisierungspotential aus tatsächlichen oder vorgestellten pränationalen Konzepten zu entwickeln. Diese Unterscheidung wird dann fruchtbar, wenn man die etwas willkürliche Einteilung der einzelnen Staaten ignoriert und beide Konzepte als Idealtypen verwendet, die in verschiedenen Mischungsverhältnissen in einzelnen Ländern auftreten.

  • [1] Zu den hier angestellten Überlegungen zu den Theorien sozialen Wandels von makrosoziologischen Einheiten vgl. Alvin Y. So, Social Change and Development – Modernization, Dependency, and World-System Theories, London: Sage 1990, oder Hans-Peter Müller und Michael Schmid, „Paradigm Lost? Von der Theorie sozialen Wandels zur Theorie dynamischer Systeme“, in: dies. (Hg.), Sozialer Wandel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 9-55.
  • [2] Vgl. hierzu zum Beispiel die Werke von Karl W. Deutsch oder Daniel Lerner.
  • [3] Eine interessante Ausnahme ist Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaft n. Weinheim/München: Juventa 1985 (Original 1972).
  • [4] Vgl. hierzu die Arbeiten von Stein Rokkan, aber neuer auch Charles Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990-1990, Oxford: Basil Blackwell 1990.
  • [5] Wobei beide Theorietraditionen, zumindest in ihrer Frühphase, nicht gerade elaborierte Konzepte für nationalstaatliche Entwicklungsprozesse geliefert haben. War für die Weltsystemtheorie der Nationalstaat einfach nur die notwendige Binnenstrukturierung eines sich durchkapitalisierenden Weltsystems, so neigten Dependenztheoretike eher dazu, ihn als Machtinstrument westlicher Wirtschaftseliten zu stilisieren.
  • [6] So zeigt zum Beispiel ein kurzer Blick in die beiden die deutsche soziologische Theoriediskussion der achtziger Jahre beherrschenden Werke von Luhmann und Habermas, daß Nationalstaaten in der Welt der Soziologie keinen Platz mehr hatten.
  • [7] Vgl. hierzu etwa die Arbeiten von Bernhard Giesen oder Bernd Estel.
  • [8] Vgl. zum Beispiel Marshall McLuhans ‚global village'.
  • [9] Als leicht verspätete Antwort hierauf können wohl die Arbeiten Ulrich Becks gesehen werden.
  • [10] Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984, besonders Kapitel 10, VII . Allgemeiner auch Rudolf Stichweh, Zur Th orie der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1993.
  • [11] Dies gilt natürlich nicht für die genau in dieser Zeit erblühende feministische Forschung.
  • [12] Vgl. zum Beispiel Nassehi, „Zum Funktionswandel von Ethnizität“, a.a.O.; Jeffrey C. Alexander, „Core Solidarity, Ethnic Outgroup, and Social Differentiation: A Multidimensional Model of Inclusion in Modern Societies“, in: Jacques Dofny (Hg.), National and Ethnic Movements. London: Sage 1980, S. 5-28; zusammenfassend Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, Stuttgart: Enke 1992. Besonders Nassehi und Alexander machen auch Vorschläge, wie und an welchen Stellen Ethnizität in modernisierungs- und differenzierungstheoretische Überlegungen mit einbezogen werden können.
  • [13] Rudolf Stichweh, „Nation und Weltgesellschaft“, in: Bernd Estel und Tilman Mayer (Hg.), Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 83-96, hier S. 86.
  • [14] Ebd., S. 86.
  • [15] Einschlägige jüngere Literatur zu diesem Thema sind etwa Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, a.a.O., oder Bernd Estel, „Grundaspekte der Nation“, in: Bernd Estel und Tilman Mayer (Hg.), Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 13-82. Um auftretendem Klärungsbedarf zuvorzukommen, sei hier kurz die Webersche Definition einer ethnischen Gruppe wiederholt: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche aufgrund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitte oder beider oder von Erinnerung an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, dass dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftung wichtig wird … ethnische Gruppen nennen“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: J. C. B. Mohr 1922, 5. Aufl. 1985, S. 237). In der neueren Literatur wird oft darauf hingewiesen, dass der Abstammungsglaube bei manchen ethnischen Gruppe nicht vorzufinden ist bzw. in der Moderne typischerweise durch die wissenschaftliche Forschung widerlegt wird. Hier kann dann allerdings immer von einem notwendigen gemeinsamen Geschichtsbewusstsein gesprochen werden. Darauf aufbauend gibt Estel, „Grundaspekte der Nation“, a.a.O., S. 18, für ein Volk sechs Kriterien: „Ein Volk ist … eine ethnische Gruppe, die 1. nach der Zahl ihrer Angehörigen groß genug ist, um eine eigene, arbeitsteilige Gesellschaft auch modernen Zuschnitts zu bilden, die 2. über ein (Kern)Gebiet und mithin eine gewisse sozioökonomische und, im Regelfall, politische Selbstständigkeit nach außen verfügt, die 3. ein Minimum an interner, über bloße Verwandtschaftszusammenhänge hinausgehende soziale Differenzierung insbesondere politisch-rechtlicher Art kennt, die 4. eine kontinuierliche Zeugungsgemeinschaft und 5. eine relative Kulturgemeinschaft bildet, und die 6. ein die Gesamtgruppe umfassendes Bewusstsein der eigenen, eben ethnischen Identität zumindest bei ihren Macht- und Kultureliten kennt.“ Estel weist weiter daraufhin, dass für eine moderne Nation auch die Kriterien 1 bis 3 gelten, hier aufgrund des überethnischen Charakters von Nationen jedoch die Kriterien 4 und 5 zurücktreten, dafür aber das unter Punkt 6 erwähnte Wir-Bewusstsein mit stark egalitären Zügen an Bedeutung gewinnt.
  • [16] Vgl. zum Folgenden Estel, ebd., S. 20 ff.
  • [17] Aufgrund immer wieder engagiert vorgetragener Missverständnisse sei darauf hingewiesen, dass Benedict Anderson (Die Erfindung der Nation, Frankfurt am Main/ New York: Campus 1988) nicht in diese Gruppe gehört. Seine berühmte ‚imagined community“ bezieht sich lediglich auf das strukturelle Moment, dass sich die Angehörigen einer Nation notwendigerweise im Normalfall fremd bleiben müssen. Auch Gellner kann nur in seinen frühen Werken diesem Standpunkt zugerechnet werden und ist inzwischen in den sich herausschälenden ‚mainstream' von Nationsbestimmungen eingeschwenkt.
  • [18] Vgl. hierzu Anthony D. Smith, The Ethnie Origins of Nations, Oxford: Basil Blackwell 1986, S. 134 ff.
 
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