Wenn abstrakte Items auf die Wirklichkeit der Stammtische treffen

Die lokale politische Kultur als begünstigender Faktor für die Herausbildung von Rechtsextremismus

Reiner Becker

Politische Einstellungen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum: Die Herausbildung rechtsextremer Orientierungen bei Jugendlichen vollzieht sich zunächst in einem Dreieck primärer Sozialisationsinstanzen von Familie, Schule und Peergroup (Möller, 2000), in der zunehmend auch die politische Kultur im sozialen Nahraum mit ihren gesellschaftlichen Wertevorstellungen, aktuellen aber auch tradierten Einstellungsmustern gegenüber so genannten gesellschaftlich schwachen Gruppen und den mit ihr einhergehenden Gelegenheitsstrukturen für die Aktivitäten von rechtsextremen Gruppierungen als eine nachgeordnete Sozialisationsinstanz von besonderer Bedeutung ist (Becker & Palloks, 2013). Die skandierten Vorurteile und Ressentiments der wiederholt reklamierten „Mitte der Gesellschaft“ an Stammtischen und in Vereinen – oder wie im Winter 2014/2015 auf vielen Straßen in deutschen Städten im Rahmen der so genannten Pegida-Demonstrationen – können rechtsextremen (jugendlichen) Akteuren die Bestätigung und ein angenommenes Mandat geben, das sie für ihre (gewaltorientierten) Aktivitäten benötigen. Ohne Blick auf die politische Kultur konkreter sozialer Nahräume lassen sich daher, so die erkenntnisleitende Perspektive dieses Beitrags, einerseits die Ursachen für Rechtsextremismus und die begünstigenden Faktoren für die Etablierung rechtsextremer Szenen nur unzureichend herausarbeiten und andererseits nur unzureichende Präventionsund Interventionsansätze konturieren.

Politische Kultur als Teil der politischen Sozialisation

Die Herausbildung und die Verfestigung von politischen Einstellungen ist ein komplexer Prozess und vollzieht sich zunächst auf der Individualebene und Mesoebene des institutionellen Lebens, dann auf der gesellschaftlichen Makroebene sowie auf Ebene der politischen Kultur.

Politische Sozialisation auf der Individualebene geschieht in der Abhängigkeit von den primären Instanzen der politischen Sozialisation wie Familie, der Peergroup und der Schule aber auch den Medien. Hier gilt es zwischen manifesten Gehalten der politischen Sozialisation (z. B. welche politische Einstellungen geben Eltern an ihre Kinder weiter, welchen Bestandteil nimmt das Thema Politik und Gesellschaft in den Unterrichtscurricula an Schulen ein) und Prozessen auf einer (eher) latenten Ebene zu unterscheiden. Bezogen auf die Familie weisen Forschungsbefunde etwa auf die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind als einen relevanten Faktor der politischen Sozialisation hin (Hopf, Rieker, Sanden-Marcus & Schmidt, 1995) oder zeigen den Zusammenhang von Erziehungsstilen, Beziehungsqualitäten und der Qualität der manifesten politischen Sozialisation (Becker, 2008). Die Sozialisationsinstanz Schule gewinnt z. B. über die Möglichkeit für Schüler und Schülerinnen an demokratischer Teilhabe oder Nichtteilhabe an Relevanz (Gänger, 2007). Die Peergroup bzw. Jugendcliquen bilden neben Familie und Schule einen weiteren lebensweltlichen Bezugspunkt für Affinisierungsprozesse und spielen insbesondere in der Abgrenzung gegenüber anderen Jugendlichen bzw. Jugendkulturen und den anderen primären Sozialisationsinstanzen eine wesentliche Rolle (Küpper & Möller, 2014, S. 37f.). In der Regel sind dabei rechtsextrem orientierte Jugendcliquen (zunächst) eher erlebnisorientiert und weniger ideologisiert und sie werden eher in ländlichen Räumen wahrgenommen (Hafeneger & Becker, 2007).

Politische Sozialisation auf der interaktiven Individualebene zu betrachten, bedeutet allerdings nicht, dass es sich dabei um rein individualisierte, isolierte Prozesse handelt. Vielmehr werden sie von institutionell vermittelten Prozessen auf gesellschaftlicher Ebene beeinflusst. So führt eine tatsächliche bzw. wahrgenommene relative Deprivation als Folge des ökonomischen Wandels zu höheren Anfälligkeiten für rechtsextreme Ideologien bei bestimmten Bevölkerungsgruppen (Hofstadter, 1964). Scheuch und Klingemann haben im Rechtsextremismus eine „normale Pathologie von freiheitlichen Industriegesellschaften“ gesehen (Scheuch & Klingemann, 1967, S. 13), nach der ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, Anomie (vgl. Durkheim, 1993; Merton, 1995), rigiden Handlungsweisen und der Unterstützung von rechtsextremen Parteien besteht. Erfahrungen von unterschiedlichen Formen von Desintegration als Folge des sozialen Wandels (vgl. Heitmeyer, 1997) und der Pluralisierung bzw. Individualisierung von Lebenslagen (Beck, 1986) verweisen ebenfalls auf die Einflüsse von gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen auf die individuellen Dispositionen.

Eine dritte Ebene der politischen Sozialisation stellt die politische Kultur dar. Diese bezieht sich „auf unterschiedliche politische Bewusstseinslagen, ‚Mentalitäten', ‚typische' bestimmten Gruppen oder ganzen Gesellschaften zugeschriebene Denkund Verhaltensweisen“ (Nohlen, 1998, S. 499). Dabei unterscheidet sich politische Kultur von einer allgemeinen Kultur ebenso wie von Formen des politischen Verhaltens. Sie beschreibt vielmehr Präpositionen politischen Handelns auf der Ebene von Meinungen (Beliefs), Einstellungen (Attitudes) – demnach auch Einstellungen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen – und Werten (Values), wobei die Ebene der Werte die intensivste und beständigste darstellt. Almond und Verba (1963) sehen einen engen Zusammenhang zwischen der politischen Kultur und der Stabilität des politischen Systems: Das Beispiel der Weimarer Republik zeigt, dass ein demokratisches System sich nur dann schwer etablieren und stabilisieren kann, wenn wesentliche gesellschaftliche Eliten und Bevölkerungsgruppen ein solches System ablehnen. Dieser Aspekt verweist auf ein weiteres wesentliches Element der politischen Kultur, das der Beständigkeit. Mentalitäten, Einstellungen und Werte sind nicht (nur) abhängig von den Konjunkturen aktueller ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Großwetterlagen, vielmehr werden sie auf individueller und auch auf kollektiver Ebene tradiert (vgl. Becker, 2008, Rosenthal, 1990, 1999; Welzer, Moller & Tschuggnall, 2003) und werden Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses (Assmann, 1992). Politische Kultur ist also sowohl das Produkt kollektiver als auch individueller Geschichte (Pye, 1968). Dabei produzieren Gruppen kollektive Erinnerungen, indem alle Gesellschaften ein Bewusstsein von „ihren“ Vergangenheiten haben, um sich in dieser zu vergegenwärtigen (Halbwachs, 1967, 1985; Hobsbawm, 1998). Jede Generation verschafft sich somit die Erinnerungen, die sie zur Bildung ihrer Identität benötigt und es besteht „kein Vergangenheitsbild ohne Gegenwartsbezug“ (François & Schulze, 2005).

 
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