Hilfe für andere zwischen narzisstischen und altruistischen Motiven. Warum bietet man anderen Menschen Hilfe an?

Ein anderes Beispiel dafür, wie zu große (vermeintliche) Opferbereitschaft durchaus negative Konsequenzen haben kann, sehen wir, wenn wir uns Hilfssysteme aller Art ansehen: von individueller – zum Beispiel medizinischer – Hilfe bis zu großen Hilfssystemen, beispielsweise internationalen Entwicklungshilfeorganisationen. Es geht bei funktioneller Hilfe nämlich immer darum, das Optimum an Hilfe zu leisten, damit derjenige, dem geholfen wird, (wieder) auf eigenen Füßen stehen kann. Wird dieses Optimum mit einem Maximum (nämlich dem Maximum an möglicher Hilfe) verwechselt, entsteht oft eine paradoxe Wirkung. Die Hilfe macht abhängig, statt wirklich zu helfen. Bertolt Brecht hat ein Beispiel für gute Hilfe einmal recht drastisch in einem schönen Gedicht dargestellt:

Die Krücken

Sieben Jahre wollt kein Schritt mir glücken. Als ich zu dem großen Arzte kam

Fragte er: wozu die Krücken? Und ich sagte: ich bin lahm. Sagte er: Das ist kein Wunder. Sei so freundlich, zu probieren!

Was dich lähmt ist dieser Plunder, Geh, fall, kriech auf allen vieren! Lachend wie ein Ungeheuer

Nahm er mir die schönen Krücken Brach sie durch auf meinem Rücken Warf sie lachend in das Feuer.

Nun, ich bin kuriert: ich gehe. Mich kurierte ein Gelächter.

Nur zuweilen, wenn ich Hölzer sehe Gehe ich für Stunden etwas schlechter. (Brecht 1967)

Unter der Fahne des Altruismus werden gar nicht so selten Strukturen zementiert, die abhängige Hilfsempfänger geradezu dazu erziehen, Hilfsempfänger zu bleiben. Diese Form des Altruismus, die die ein oder andere Hilfsorganisation durchaus „auszeichnet“, dient nicht so selten mehr der Befriedigung der eigenen narzisstischen Bedürfnisse als dem Bedarf dessen, dem geholfen werden soll: Um als Hilfsorganisation eine Existenzberechtigung zu haben, muss es nämlich Hilfsempfänger geben, die der Hilfe durch diese Organisation bedürfen.

Im Extremfall werden sogar dysfunktionale Strukturen nur deshalb zementiert, weil die Helfenden sonst ihre Existenzberechtigung verlören. Eine Geschichte, die das beispielhaft illustriert, ist uns vor vielen Jahren im Sudan begegnet. Es gab dort christliche Organisationen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, südsudanesische Sklaven freizukaufen, die von nordsudanesischen Milizen gefangen genommen worden waren. Damals verstummten die Gerüchte nie, dass es die „Sklavenmärkte“ nur gebe, weil es diese Christen gebe, die die Sklaven freikauften. Wir konnten nie beweisen, dass dem wirklich so war, aber es hätte uns angesichts der florierenden „Helferindustrie“ nicht gewundert. Im Hinblick auf den Narzissmus ist es beim Thema „Hilfe“ – vor allem bei organisierter Hilfe – immer sinnvoll zu prüfen, inwiefern die narzisstischen Wünsche der Helfer nach Bewunderung im Mittelpunkt der Aktionen stehen oder es tatsächlich das Wohlergehen der Bedürftigen ist.

Dabei kann es durchaus passieren, dass einem „edle Helfer“ mit regelrechter Erbitterung begegnen, wenn man die nach außen scheinbar rein altruistische Motivation hinterfragt und die narzisstischen Motive des Helfens auch nur anspricht.

An diesen Beispielen kann man ganz gut zeigen, dass es nicht so recht weiterhilft, sich mit dem schlichten Werturteil „Egoismus ist böse, Altruismus ist gut“ zu begnügen. Wir benutzen Werturteile dieser Art ja gerne, weil sie die Komplexität reduzieren. Wenn ich einen einfachen Gut-böse-Kompass benutze, muss ich mich (vermeintlich) nicht mehr mit der Kompliziertheit des Einzelfalls auseinandersetzen. Es scheint, als ginge es um eine vernünftige Balance – um die Balance zwischen „Egoismus“ und „Altruismus“, und das immer im Hinblick auf einen bestimmten Kontext.

Dazu noch ein anderes Beispiel. Wenn in einer Masse von Menschen Panik ausbricht, könnte man davon sprechen, dass sich ein biologisch determinierter Egoismus Bahn bricht. Der Einzelne ist nur noch von einem blinden Überlebenswillen gesteuert, der enorme Kräfte freisetzen kann. Das führt in der Praxis dazu, dass Menschen, die beispielsweise in einem überfüllten Tunnel in Panik zum Ausgang drängen (wie etwa bei der Duisburger Love-Parade im Jahr 2010 geschehen), andere Menschen tottrampeln können. Wäre es gelungen, ohne Panik und geordnet bzw. geplant der Enge zu entgehen, hätten diese Menschen vermutlich überlebt. Wir sehen also, dass bis in biologische Mechanismen hinein – wie die Panikreaktion bei echter oder gefühlter Lebensgefahr – das Überwiegen eines Pols („nur für sich“ contra „nur für die anderen“) selten sinnvoll und hilfreich sein kann. Das gilt auch für die Frage nach dem Grad und der Ausprägung des Narzissmus.

 
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