Welche Ausprägungen des Narzissmus gibt es und wie sind sie zu bewerten? Es gibt nach unserer Meinung hier kein Richtig oder Falsch. Die Frage ist vielmehr: Wie zeigen sich narzisstische Züge (einer Person, einer Kultur) in welchem Zusammenhang, und welche Konsequenzen hat das jeweils?

Wir wollen anhand von Beispielen untersuchen, wie sich das Phänomen

„Narzissmus“ hier und heute in unserer Lebenswelt abbildet und was das mit sich bringt. An dieser Stelle ist uns wichtig, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Maßstäbe dafür, wieviel Narzissmus zu tolerieren ist, stark davon abhängen, auf welche soziologische Gruppe von Menschen sich dieser Maßstab bezieht.

In einer klösterlichen Gemeinschaft etwa, die schon äußerlich durch die einheitliche Tracht individuelle Unterschiede ihrer Mitglieder nicht als wesentliches Merkmal der Gemeinschaft definiert, wird ein sich sehr narzisstisch (= ichbezogen) gebärdender Mensch schnell unangenehm auffallen. Quasi am anderen Ende der Skala, im Bereich des Showbusiness, das zu einem nicht unerheblichen Anteil vom Starkult lebt, gilt genau das Umgekehrte: das Herausragen, das „Seht-her-nur-ich-bin-so“, wird geradezu gefordert, wenn jemand Erfolg haben will. Das macht die Antwort auf die Frage, wo eigentlich der pathologische Narzissmus beginnt, nicht unbedingt einfacher.

Gibt es narzisstische Kulturen oder Zeitalter?

Die beiden letzten Beispiele (Mönche/Nonnen – Popstars) beziehen sich auf definierte Subgruppen der heutigen Zeit. Kann man auch von einer mehr oder weniger narzisstischen Kultur oder gar Zeitalter sprechen?

Es ist ja bemerkenswert, dass der Mythos, von dem das Phänomen seinen Namen erhält, 2000 Jahre alt ist und dem klassisch-griechischen Götteruniversum entstammt – also muss es wohl schon damals ein Phänomen gegeben haben, wie wir es heute klinisch als Störung kennen: den Menschen, der im Prinzip bindungsunfähig ist und nur sich selbst lieben kann. Die Frage bleibt, ob es Zeitalter gibt, die Narzissmus eher begünstigen und solche, in denen das nicht der Fall ist.

Fangen wir mit der Gegenwart an. Warum wird von der heutigen Zeit als

„narzisstisches Zeitalter“ gesprochen? Zum einen gilt diese begriffliche Zuweisung sicherlich nur für die westlichen Industrieländer und deren Kultur, die allerdings in vielen Beziehungen inzwischen eine weltweite Kultur geworden ist. Zumindest dort, wo der american way of life als erstrebenswert gilt, kann man von einer Globalisierung bestimmter Haltungen sprechen, allem voran der Haltung des Individualismus.

Die Idee, dass das Individuum einen Zweck und einen Wert an sich darstellt, unveräußerliche, universal gültige Menschenrechte besitzt und selbst bestimmen kann (und muss), wie es sein Leben gestaltet, ist im Kern verhältnismäßig neu. Sie wurde erst in der europäischen Aufklärung im Detail ausformuliert und dann sehr erfolgreich exportiert – zunächst in die Neue Welt, dann aber überall hin bis in bis dato entlegene Winkel der Erde.

Nichtsdestotrotz hat sich diese Idee bis heute keineswegs weltweit durchgesetzt und auch in Europa gab es historisch immer wieder Zeiten und Systeme, in denen diese Idee nicht staatstragend war. Sowohl der Faschismus („Du bist nichts, Dein Volk ist alles“) als auch der reale historische Sozialismus, wie er im sowjetischen Machtblock praktiziert wurde, setzte das Kollektiv vor das Individuum.

Historisch betrachtet war vor der Aufklärung eine Narzissmusdebatte, wie wir sie heute führen, vermutlich nicht denkbar. Das Mittelalter hatte ein durchweg anderes Menschen- und Weltbild: Der Platz des Einzelnen war in einer von Gott gegebenen (feudalen) Ordnung festgelegt und ein glückliches und zufriedenes Leben war dem versprochen, der sich in diese Ordnung einfügte und seine Rolle darin erfüllte.

Man macht sich vermutlich im Alltag zu wenig klar, dass vergangene Epochen früher oder ganz andere Kulturen heute eine vollkommen andere mentale Ausstattung derer, die in ihnen leben, erforderten.

Die Idee der Bedeutung eines Individuums im heutigen Sinne wäre dem mittelalterlichen Menschen vermutlich gar nicht gekommen, und er hätte sie möglicherweise auch abstrus gefunden. Diese mentale Ausstattung ist sehr stark von der Kultur und der Zeit, in der er lebt, geprägt – und in der Regel fällt uns das gar nicht auf. So wie wir fühlen und denken, tut das die Mehrheit der Menschen unserer Kultur in unserer Zeit.

Ich meine damit nicht die Unterschiede im Kunstgeschmack oder die Vorliebe für eine politische Richtung und ähnliches – die sind natürlich uneinheitlich. Es geht um Grundkategorien der Wahrnehmung und des Denkens wie die Frage, ob wir andere Menschen als eigenständige Individuen wahrnehmen (wie wir es heute tun) oder als Teil einer bestimmten Gruppe, eines Standes oder einer Kaste. Daher ist es wohl schwierig, vergangene Zeiten oder andere Kulturen von heute aus zu beurteilen, also mit unserer heutigen mentalen Ausstattung. Dieses Argument wird ja auch heute von Vielen benutzt, die sich bewusst und aktiv dagegen wehren, dass die Ideale der europäischen Aufklärung weltweite und für alle Menschen verbindliche Geltung beanspruchen. Sowohl aus China als auch dem arabischen Kulturraum gibt es Stimmen, die sich gegen diese Form des kulturellen Imperialismus zur Wehr setzen und zum Beispiel einen Gottesstaat fordern, in dem das islamische Recht gilt und innerhalb dessen die Bedeutung des Individuums eine ganz andere ist als in den modernen europäisch geprägten Rechtstraditionen.

Das narzisstische Zeitalter bezieht sich also sehr stark auf eine Welt, die von Werten und Idealen geprägt ist, die dem Individuum einen sehr hohen Stellenwert einräumen und die dessen Rechte sehr hoch achten. Nur eine solche Kultur bietet den Nährboden dafür, dass Individuen einzigartig sein und deswegen bewundert werden können.

Nun ist heute noch eine Besonderheit der Entwicklung der modernen Welt zu berücksichtigen. Es geht um die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften und deren praktischer Anwendungen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert hat sich eine von Chicago ausgehende neoliberale Sichtweise fast weltweit durchgesetzt, die den Eigennutz der einzelnen Marktteilnehmer als einziges Motiv wirtschaftlichen Handelns voraussetzt. Diese Sicht geht davon aus, dass Menschen bei allem, was sie tun, einzig und allein davon beherrscht sind, ihren eigenen – und zwar ausschließlich ökonomischen! – Vorteil zu suchen (das Konstrukt des sogenannten Homo oeconomicus). Diese Weltsicht hat trotz (oder vielleicht gerade wegen?) ihres stark simplifizierenden Menschenbildes einen erstaunlichen Einfluss gewonnen und besitzt den Charme aller einfachen Welterklärungsmodelle: Die Welt erscheint berechenbar.

Eine über Jahrhunderte eher moralische fragwürdige Maxime wurde plötzlich nicht nur gesellschaftsfähig, sondern geradezu zum Imperativ für den modernen Menschen. „Geiz ist geil!“ wurde ein prämierter Werbeslogan, und in manchen Teilen der Jugendkultur galt ein Aufkleber als schick, auf dem Stand: „Eure Armut kotzt mich an!“ „Du Opfer!“ und „Du Looser!“ wurden zu beliebten Schimpfwörtern unter Jugendlichen, und das Ideal der Zeit in der Popkultur und in der Werbung waren coole, unnahbare und selbstbewusste „Winner-Typen“.

Dieser Siegeszug einer neoliberalen Weltsicht hatte im wirklichen Leben enorme Konsequenzen: von der Bildung einer Schicht von Superreichen wie den Magnaten, die sich im postsowjetischen Russland das ehemals vergesellschaftete Volksvermögen unter den Nagel rissen, bis zu den entfesselten Finanzmärkten des Westens. Weder die Geschichten von einzelnen Börsenspekulanten, die traditionsreiche Bankhäuser zerstörten, noch die Lehman-Brothers-Pleite oder die amerikanische Immobilienblase mit ihren katastrophalen Folgen wären denkbar gewesen, wenn nicht eine geistige Vorbereitung durch dieses Denken erfolgt wäre.

Es gab in der Geschichte immer wieder Phasen der ideologischen Entfesselung der Ichbezogenheit. Der Siegeszug der neoliberalen Chicago Boys erinnert beispielsweise sehr an das enrichissez vous („bereichert Euch“), das dem französischen Minister Guizot zugeschrieben wird, der damit in zynischer Weise die Maxime der Herrschaft Louis Philippes (nach 1830 in Frankreich) charakterisierte.

Wenn man sich den Satz aus der Überschrift – „Alle denken sie nur an sich, nur ich selber denke an mich!“ – in klagendem Ton vorgetragen vorstellt, reizt er spontan zum Lachen. Vom Standpunkt formaler Logik betrachtet ist dieser Satz eine Tautologie: Wenn alle nur an sich denken, ist es logisch, dass auch ich nur an mich denke. Derjenige, der sich darüber beklagt, macht sich lächerlich – weil er durch sein eigenes Verhalten („nur ich selber denk an mich“) genau dazu beiträgt, worüber er sich beklagt: nämlich, dass alle nur an sich selbst denken.

Man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass die Bewertung eines Systems, welches diesem Motto folgt, stark differieren kann. Der Satz wird in manchen Bereichen sehr ernst genommen. In Teilen der Wirtschaftswissenschaften – vor allen Dingen in der trivialisierten Wahrnehmung der Tradition von Adam Smith – wird davon ausgegangen, dass genau diese Maxime zum größten Wohlstand Aller führen würde.

Wenn alle am Wirtschaftsleben Beteiligten ihren eigenen Vorteil verfolgten und sich auf einem „Markt“ begegneten, dann werde die „unsichtbare Hand“ eben dieses Marktes quasi von alleine dafür sorgen, dass der größtmögliche Wohlstand für die größtmögliche Zahl der Marktteilnehmer resultiert. Es ist das wirtschaftsliberale Credo quasi in Reinform – und die Vertreter dieser Idee würden behaupten, dass sich hier die Ichbezogenheit sehr segensreich auswirke.

In einer anderen Tradition wird genau das Gegenteil behauptet – nämlich, dass dieses Verhalten („nur ich selber denk an mich“) die Hölle sei. Diese Sicht wird ganz gut illustriert wird das durch folgende Geschichte, deren Ursprung nicht ganz klar ist (einige behaupten, es sei ein russisches Märchen, andere, es handele sich um eine chassidische Geschichte, hier paraphrasiert nach Thomas Kremers; thomas-kremers.de/kooperatives-lernen/eine- rabbinische-geschichte/):

Ein Mensch fragt einen weisen Rabbi, was der Unterschied zwischen Himmel und Hölle sei. Der Rabbi bittet ihn, sich folgendes Bild zu vergegenwärtigen:

„Auf einem Tisch steht ein großer Topf leckerer Suppe. Um den Tisch herum sitzen Menschen, die jeder einen Löffel in der Hand haben, der an der Hand festgewachsen ist und außerdem länger ist als der eigene Arm, sodass sie ihn nicht zum Mund führen können.“

„Das ist die Hölle – oder der Himmel, je nachdem.“

„Je nach was?“ fragt der Mensch den Rabbi.

„In der Hölle versucht jeder, von der Suppe zu löffeln, und scheitert, weil der Löffel zu lang ist, um ihn zum eigenen Mund zu führen – alle verhungern. Im Himmel füttern sich die Leute gegenseitig, und alle werden satt.“

In diesem Bild wird ein Modell beschworen, das in einem konstruierten Bild das Gegenteil des marktliberalen Verhaltens als Ideal herausstellt – nur wenn jeder an den anderen denkt, werden alle satt.

Schon an diesen wenigen Beispielen sollte deutlich geworden sein, dass ein bipolares Gut-böse-Schema uns nicht weiterbringt bei der Beurteilung, wie viel Egoismus oder Altruismus denn nun richtig oder falsch ist. Wie meistens, kommt es auf den Kontext an und auf die Folgen einer bestimmten Haltung und, daraus resultierend, bestimmter konkreter Handlungen.

Fazit

Am Beispiel der Begriffe von Altruismus und Egoismus wurde gezeigt, dass die Bewertung solcher Begriffe stark von der Kultur abhängt, innerhalb derer sie benutzt werden. Der konkrete soziologische Kontext und die historische Zeit, auf die man sich bezieht, sind ausschlaggebend für die jeweiligen Werturteile. Am Beispiel des

„Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ aus der Bibel (Lk 10,25–37) kann man diesen Umstand gut verdeutlichen: Die Geschichte spielt in einem Umfeld, in dem Barmherzigkeit, Loyalität und Solidarität nur gegenüber Angehörigen des eigenen Stammes gefordert wurden, nicht gegenüber Fremden. Die christliche Werteordnung setzt hier andere Normen, wie in dieser Geschichte deutlich wird.

Wenn man die Verfolgung von Eigeninteressen versus die Fürsorge für andere als sich ausschließende Polaritäten auffasst, kann das im persönlichen und beruflichen Leben zu teilweise schwerwiegenden Problemen führen. Man kann diese Probleme umgehen, wenn man aus dem Entweder-oder von Altruismus und Egoismus ein Sowohl-als-auch machen kann.

Es wurden die Folgen einer Polarisierung beider Begriffe an verschiedenen Beispielen aufgezeigt, etwa an der Zementierung von Abhängigkeiten bei Hilfsempfängern. Nicht selten nennen Helfer für ihr Verhalten ausschließlich altruistische Motive, während sie durch ihr Handeln tatsächlich in erheblichem Ausmaß eigene narzisstische Bedürfnisse befriedigen.

Bei der Antwort auf die Frage, wie viel Narzissmus zu tolerieren sei, kommt es wesentlich auf den Kontext an, innerhalb dessen sich diese Frage stellt. Die häufig gehörte Bezeichnung unserer Zeit als „narzisstisches Zeitalter“ ist eine Folge der hohen Bedeutung des Individuums. Diese Bedeutung hat der Einzelne erst seit dem Zeitalter der Aufklärung in Europa erhalten. Im Kapitel werden historische Beispiele aufgeführt, die dem Individuum diese Bedeutung nicht zugemessen wird.

Wir wollen im Buch dieser grundsätzlichen Relativität der Bewertungen – in Abhängigkeit des konkreten jeweiligen Kontextes – so gut wie möglich Rechnung tragen und die verschiedenen narzisstischen Phänomene beim Einzelnen, in Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft beleuchten.

 
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